Am 4. August des vergangenen Jahres ist Ihr Roman „Jeder Tag wie heute“ in Göttingen erschienen. Worum geht es in Ihrem Debütroman?
Ron Segal: Es geht um Adam Schumacher, einen israelischen Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden, der langsam bemerkt, dass er an Alzheimer leidet, und versucht, seine Erinnerungen niederzuschreiben, bevor sie verschwinden. Seine Erinnerungen verschwimmen mit den Erinnerungen anderer Holocaust-Überlebender. Es ist also nicht seine persönliche Erzählung, sondern eine kollektive Geschichte, aber nicht Geschichte im geschichtswissenschaftlichen Sinn.
Als mein Buch in Israel erschien, wurde ich gefragt: Darf man so etwas schreiben? Für die junge Generation ist es ein großes Thema, sich an den Holocaust heranzuwagen. Die ältere Generation von Kritikern hat dieses Buch dagegen nicht gemocht, weil die Geschichte eben nicht faktisch genau wiedergegeben wird. Das stimmt zwar, aber es ist natürlich eine Metapher für das, was sich aktuell in Wirklichkeit ereignet, wenn Adam Schumacher an Alzheimer leidet und seine Erinnerungskraft schwindet. Es ist siebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz nur eine Frage der Zeit, bis die letzten Holocaust-Überlebenden sterben und mit ihnen auch einzigartige persönliche Erinnerung vergehen.
Warum haben Sie in Ihrem Debütroman den Holocaust thematisiert?
Ron Segal: Meine Großeltern kommen beide aus Berlin und sind 1938 – also vor dem Holocaust – nach Israel ausgewandert. Aber die Mutter und der Bruder meiner Großmutter sind in Riga erschossen worden. Insofern war ich, wie so ziemlich jeder Israeli, sensibilisiert für dieses Thema. Schon im Kindergarten erfahren die Israelis vom Holocaust. Er gehört zum Gründungsmythos des Staates. In meinem Buch wollte ich aber über keinen Ursprungsmythos erzählen, sondern einen eigenen, persönlichen Zugang zu diesem Phänomen suchen, der nicht von den Erzählungen anderer überlagert ist. Letztendlich ist das Buch der Versuch, die historischen Ereignisse zu verstehen, eine persönliche Sicht dazu zu entwickeln. Zur Recherche habe ich – mit Unterstützung eines DAAD-Stipendiums – Videozeugnisse von Überlebenden aus dem digitalen Archiv der Shoah Foundation angeschaut. Sie gewähren Einblick in etwas, was man in Geschichtsbüchern nicht findet: die persönliche Erfahrung, die sehr subjektiv ist, und man nimmt wahr: Hinter jeder abstrakten Zahl des Massenmords verbirgt sich ein individuelles Schicksal – selbst dann, wenn die Geschichten im Detail die Realität nicht exakt wiedergeben. Manchmal erzählen zwei Holocaust-Überlebende dieselbe Geschichte, aber eben ganz unterschiedlich, sodass man sich fragt: Wer hat die „echte“ Erinnerung? Aber in Wirklichkeit sind sie beide „echt“, weil der Holocaust individuell und nicht abstrakt erlebt worden ist.
Zu den Figuren Ihres Romans gehören ein junger israelischer Buchhändler, der in München lebt, und seine deutsche Freundin. Sie streiten darüber, wer in Deutschland von den Verbrechen der Nationalsozialisten gewusst haben könnte. Als Schriftsteller leben Sie heute in Tel Aviv und Berlin – haben Sie dergleichen selbst erlebt?
Ron Segal: Dieser Streit ist natürlich eine literarische Fiktion, genauso wie die Antwort der Freundin, dass die meisten Menschen von den Verbrechen der Nazis nichts gewusst und – andernfalls – sie ihren Widerstand dagegen zweifellos mit dem Leben bezahlt hätten. Darüber wird man, wie es der junge Israeli tut, streiten müssen. Immerhin spielt die Freundin ihm aber nichts vor. Mir als israelischem Juden passiert aber oft das Gegenteil. Wenn ich mit Deutschen spreche und die Rede auf den Holocaust kommt, muss ich als israelischer Jude stets zuerst meine Meinung dazu sagen. Und wenn ich sie dann gesagt habe, wiederholt sie der deutsche Gesprächspartner mit seinen Worten.
Ich verstehe natürlich, woher das rührt. Aber ich erfahre nicht, was mein Gesprächspartner wirklich denkt. Das ist vielleicht sehr höflich, aber es ist kein Dialog, sondern ein Monolog. Die Frage ist also: Können wir gemeinsam darüber sprechen oder ist das etwas, was man übergeht? Und ich glaube, es ist wichtig, darüber sprechen zu können.
Wie beurteilen Sie das Gedenken an den Holocaust siebzig Jahre nach den historischen Ereignissen?
Ron Segal: Ich mag ja Denkmäler, aber es kommt darauf an, was sie auslösen. Es gibt Denkmäler, bei denen man still und respektvoll sein muss, aber nichts fühlt. Aber dann es gibt welche, die ich für gelungen halte. Etwa das Denkmal auf dem Bebel-Platz in Berlin, das an die Bücherverbrennung erinnert und aus in den Boden eingelassenen, völlig weißen Räumen mit leeren Bücherregalen besteht. Die 1933 auf dem Platz verbrannten 20.000 Bücher hätten Platz darin gefunden. Dort passt das Wort „Denkmal“ sehr gut, weil es wirklich zum Nachdenken zwingt.
Was die heutige Wahrnehmung des Holocausts anbelangt, so gibt es kritische Stimmen, die meinen, der Holocaust sei eine Art Religion, und in einem gewissen Sinne stimmt das ja auch. Nicht zuletzt richtet sich in Israel Kritik gegen die Kommerzialisierung des Holocausts, aber noch stärker gegen die politische Instrumentalisierung.
Wichtig ist mir, dass die Erinnerung an den Holocaust gar nicht allein auf das Verhältnis zwischen Juden und Deutschen gerichtet sein sollte. Es geht auch um Rassismus, darum, dass man „den anderen“ aus irgendeinem Grunde pauschal ablehnt und ausgrenzt. Es geht um Judenhass, doch noch mehr um den Hass schlechthin. Die Shoah ist ein großes, schreckliches Beispiel dafür. Zum Beispiel gestern habe ich gehört, dass in Dresden 17.500 Menschen gegen die „Islamisierung“ protestiert haben. Zwar bin ich nicht dabei gewesen, aber ich glaube, dass sie gegen etwas demonstrieren, was sie nicht kennen. Und ich glaube, wenn man jemanden nicht kennt, kann der allzu schnell zu einem Feind werden.
Etwa 15.000 junge Israelis sollen in Berlin leben. Was bedeutet diesen jungen Leuten Deutschland?
Ron Segal: Da kann ich nur spekulieren. Für viele junge Künstler und Geisteswissenschaftler aus Israel sind die Lebenshaltungskosten in Berlin geringer. Aber das ist eben nicht nur so. Wäre es das, würden viele Israelis nach Bukarest gehen – in das „Paris des Ostens“. Dort ist alles noch günstiger. Ein Teil sieht hier bessere berufliche Chancen. Wieder andere haben die Nase voll von der israelischen Politik. Oft heißt es in den Medien, viele junge Israelis, zumal deutschstämmige, kämen nach Berlin, um zu erfahren, wo sie herkommen. Aber nicht jeder Israeli beschäftigt sich mit seinen Wurzeln.
Für mich bedeutet Berlin eine Art eine zweite Heimat, vielleicht im ursprünglichen Sinne des Wortes, das ja aus dem Indogermanischen herrührt und einen aktiven Vorgang meint, sich „ein Lager“, eine „Heimat“ zu machen. Als ich das erste Mal nach Berlin kam, trug ich die Schuhe meines Großvaters, nicht als Symbol oder Geste, sondern weil sie mir gefielen. Dennoch kann man das als Metapher verstehen: Ich habe hier diese Freiheit als Künstler, habe mehr Möglichkeiten. Denn es gibt hier mehr Leser, mehr Stipendien, mehr Literaturpreise – aber ich erinnere mich auch daran, wo ich herkomme.
Der Nahe Osten ist seit dem „Arabischen Frühling“ eine politisch sehr instabile Region. Wie beurteilen Sie die künftige politische Entwicklung in Israel und der Region?
Ron Segal: Was Israel und die israelische Politik anbelangt, muss ich sagen, dass ich kein Interesse an Politikern habe, die nur „Blut, Schweiß und Tränen“ versprechen. In den vergangenen zehn Jahren waren wir, so glaube ich, vier Mal in Gaza. Zu befürchten ist, dass wir bald das fünfte Mal dort sein werden. Das hat wenig mit Zukunftsgestaltung zu tun – ganz gleich, welchem politischen Lager man angehört, ob links oder rechts, ob man Israeli oder Palästinenser ist.
Auch hört man immer wieder, dass die israelische Gesellschaft religiöser geworden sei, ganz im Gegensatz zu den Intentionen des geistigen Gründers Theodor Herzl, der sich in seinem Buch „Der Judenstaat“ eher vom deutschen Kaiserreich inspirieren ließ und, soviel ich weiß, niemals eine Synagoge von innen gesehen hatte. Oder etwa Ben Gurion, dem einstigen israelischen Premierminister, der sich als Atheist begriff, aber die jüdische Religion liebte.
Vielleicht sind die Spannungen zwischen den säkularen und religiösen Kräften in Israel auch ein Grund, dass viele junge Israelis nach Berlin gehen.
Was den Nahen Osten anbelangt, sehe ich natürlich, dass die ganze Region noch mehr in Unordnung gerät. Die Zukunft ist sehr ungewiss, aber vielleicht wird es am Ende doch zwei Männer oder Frauen geben, die verrückt genug sind, um Frieden zu schließen. Am Flughafen in Israel habe ich kürzlich ein Foto gesehen, das Sadat und Begin zeigt – gemeinsam eine ägyptische Wasserpfeife rauchend. Und beide lachen.
Als Schriftsteller bin ich nicht kompetent genug, um den Weg zu einer Friedenslösung aufzuzeigen. Aber in diesem Jahr feiern wir beispielsweise fünfzig Jahre deutsch-israelische Beziehungen. Man muss es sich einmal vorstellen: Zwanzig Jahre nach der Tragödie des Holocausts saßen ein verrückter Israeli und ein verrückter Deutscher zusammen, um zu reden. Und es hat geklappt! Heute kann ich in Deutschland leben, habe deutsche Freunde. Ich meine, wenn man miteinander redet, kann so etwas passieren.
Ron Segal, geboren 1980 in Israel, Studium an der Sam Spiegel Film and Television School Jerusalem (Israel). Sein Abschlussfilm wurde auf vielen internationalen Festivals gezeigt, das von ihm verfasste Drehbuch vom Goethe-Institut ausgezeichnet. Freischaffender Schriftsteller und Filmemacher.
Das Gespräch führte Michael Böhm am 23. Dezember 2014.
Leseempfehlung
Ron Segal: Jeder Tag wie heute. Roman, Wallstein Verlag, Göttingen 2014, 140 Seiten, 17,90 Euro.