Herr Oettinger, mir liegt eine Statistik vor, nach der der Börsenwert von Apple größer ist als der der ersten zehn DAX-Unternehmen zusammen. Apple und Google zusammen sind mehr wert als alle dreißig DAX-Unternehmen! Was bedeutet ein solcher Befund mit Blick auf Ihr Aufgabenfeld in Brüssel?
Günther H. Oettinger: Amerika und die USA haben es in den letzten zwanzig Jahren geschafft, eine digitale Überlegenheit herzustellen. Und wer die Daten hat, der hat die Macht. Daten sind die Währung der Zukunft. Deswegen müssen wir alles tun, um unsere Industrie weiterhin stark zu machen und parallel dazu durch eine europäische Strategie den digitalen Sektor zu stärken. Dafür ist entscheidend, dass wir einen digitalen Binnenmarkt schaffen. Europa ist auf vier Säulen aufgebaut: der Friedensunion, der Wertegemeinschaft, der Währungszone und dem Binnenmarkt. Wir haben einen funktionierenden Binnenmarkt für viele Waren und Güter, für Nahrungsmittel und Getränke, für Textilien, für Fahrzeuge, Lastkraftwagen, Maschinen, chemische Produkte, Arzneimittel. Aber wir haben noch keinen funktionierenden digitalen Binnenmarkt, sondern 28 fragmentierte Märkte, in denen die digitale Wirtschaft schwer wachsen kann.
Die deutsche Wirtschaft ist weiterhin von Unternehmen der „Old Economy“ geprägt. Wie alt lässt uns das aussehen? Sie haben einmal gesagt, dass die deutsche Wirtschaft zum Motor des digitalen Fortschritts werden könnte. Wo liegen die Potenziale?
Günther H. Oettinger: Wenn Sie einmal eine ganz starke Säule der deutschen Wirtschaft nehmen, den Fahrzeugbau, oder eine zweite starke Säule, den Maschinenbau, dann sind dies zwar alte Wirtschaftssektoren, die Produkte sind aber hochinnovativ, umweltfreundlich, modern und sicher. Es geht jetzt darum, dass wir die Digitalisierung der Wirtschaft mit unseren starken Industriezweigen, dem Fahrzeugbau und dem Maschinenbau, bewältigen und dabei die Federführung nicht an digitale Dienstleister außerhalb Europas übergeht. Industrie 4.0 ist ein Stichwort dafür. Wir arbeiten mithilfe von Forschungsprojekten und deren Förderung gemeinsam mit der Industrie daran, die Fabrik von morgen zu entwickeln. Sie wird digital gesteuert sein, Maschinen werden digital kommunizieren – das wird die Industrie revolutionieren, mit allen Chancen und Gefahren.
Aber ist die Bereitschaft dazu vorhanden? Ein Markforschungsinstitut will herausgefunden haben, dass sich der Mittelstand nicht sehr für Fragen der Digitalisierung interessiert. Entspricht das Ihrer Beobachtung?
Günther H. Oettinger: Die Fahrzeugindustrie ist weiter als der durch den Mittelstand geprägte Maschinenbau. Es hat jedoch ein Bewusstseinswandel eingesetzt. Es findet ja kaum mehr eine Tagung von BWI oder BWA, von der IHK oder von IG Metall oder IG Bergbau, Chemie, Energie statt, bei der nicht das Thema der digitalen Revolution auf der Tagesordnung steht. Deswegen glaube ich, dass es gelingen kann, diesen Bewusstseinswandel zu beschleunigen und die Unternehmer der deutschen Industrie auf die Gefahren, aber auch die Chancen hinzuweisen, damit sie frühzeitig agieren und reagieren und nicht überrollt werden von dieser digitalen Revolution.
Aber sind wir Europäer nicht zu spät gekommene oder schlechte Verlierer? Es gab ja kürzlich den Vorwurf, dass die europäische Politik nur deshalb gegen Google und Co. vorgehen wolle, weil europäische IT-Unternehmen nicht mithalten könnten.
Günther H. Oettinger: Sicher sind wir in Rückstand geraten. Aber Verfahren wie das laufende Verfahren gegen Google sind nicht Teil unserer Industriepolitik, sondern wir erwarten von jedem, dass er unsere europäischen Spielregeln akzeptiert. Deswegen geht es nicht um einen amerikanischen Fall, es geht schlicht um die Behauptung, dass Google mit seiner Plattform und als Suchmaschine die Gleichbehandlung und Objektivität verletzt, eigene Produkte oder Produkte von Vertragspartnern bevorzugt und damit indirekt einen Dritten diskriminiert. Dem gehen wir ohne Vorurteile nach und werden dazu im Laufe des Jahres eine Entscheidung treffen.
Aber es gab europäische Stimmen, die verlangt haben, Google zu zerschlagen. Sie waren in dieser Frage mit Ihrer Initiative für eine Urheberrechtsabgabe noch zurückhaltend.
Günther H. Oettinger: Von Zerschlagung halte ich wenig, sondern wir streben einen Kompromiss mit Google an, bei dem allerdings Google uns substanziell entgegenkommen und die Zusage machen muss, unsere europäischen Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln einzuhalten. Nur für den Fall, dass dieser Kompromiss nicht zustande kommt, stünde ein förmliches Verfahren vor Gericht bevor.
Sie halten an Ihrer Initiative für eine Urheberrechtsabgabe fest, trotz des Einwandes aus Amerika?
Günther H. Oettinger: Wir arbeiten jetzt an einem digitalen und europäischen Urheberrecht. Es gibt eine Reihe von Regelungen auf europäischer Ebene, die jedoch weitgehend aus dem Jahr 2001 stammen, veraltet sind und die digitale Entwicklung nicht beinhalten. Deswegen geht es um Copyright, um ein europäisches digitales Urheberrecht und ein Urhebervertragsrecht. Ob dabei eine Abgabe die beste Lösung ist, ist offen und erst einmal nur eine Überlegung. Was wir wollen, ist, eine faire Balance zu entwickeln zwischen den Nutzern digitaler Inhalte einerseits, die alle ein Interesse haben, an möglichst umfassende Inhalte heranzukommen. Das halte ich in einer aufgeklärten Informationsgesellschaft für nachvollziehbar. Aber umgekehrt darf der Urheber – das heißt derjenige, der mit seinem Intellekt, seiner Kreativität und seiner eigenen Arbeitszeit geistige Werke geschaffen hat, gleich ob das Musik oder ein Drehbuch oder ein Kommentar für eine Tageszeitung oder ein literarisches Buch ist – erwarten, dass er in der digitalen Welt nicht leer ausgeht. Sonst würde sich bald niemand mehr finden, der noch schöpferisch tätig sein will.
Gibt es bereits eine gemeinsame europäische Vorstellung davon, wie die Zukunft in einer digitalisierten Wirtschaft und Gesellschaft aussehen könnte? Und wie unterscheiden sich diese Perspektiven möglicherweise von denen in den USA oder auch in China?
Günther H. Oettinger: Ich halte nichts davon, dass wir jetzt Google, Apple, Facebook, WhatsApp, Amazon kopieren und quasi planwirtschaftlich europäische Googles und Apples bauen. Eine solche Industriepolitik überlassen wir den Chinesen. Aber wir müssen alles tun, um mit Start-ups, mit Unternehmensgründungen und mit neuen Ideen und neuen digitalen Dienstleistungen und Anwendungen in das Geschäft zurückzukommen. Wir haben gute Hochschulen, in denen wir die Zahl der Studienplätze im IT-Sektor erhöhen müssen. Wir brauchen eine Zielvereinbarung der Mitgliedstaaten über den Ausbau der Studienplätze im IT-Sektor, und wir müssen unsere Existenzgründungsprogramme verbessern, um jungen Menschen eine Chance zu geben, im digitalen Sektor Existenzen zu gründen.
Hinzu kommt: Nur der digitale Binnenmarkt schafft Attraktivität. Zurzeit braucht man für digitale Dienste 28 Genehmigungen in 28 Mitgliedstaaten, man hat 28 unterschiedliche Datenschutzregelungen zu beachten. Das wirkt abschreckend und schafft hohe Kosten, dadurch verliert man Zeit. Viele gehen dann lieber gleich in die USA, weil es dort einen Binnenmarkt gibt mit über 300 Millionen Menschen, die eine Sprache sprechen, und mit einem einheitlichen Regelwerk. Das heißt, wenn wir unsere Europäische Union, wenn wir den digitalen Binnenmarkt vollenden und mit 510 Millionen Menschen in einem Markt ein attraktives Angebot haben, dann werden wir im Wettbewerb mit Amerikanern und mit Südkoreanern, Chinesen, Indern, Japanern erfolgreich sein.
Was sind – auf europäischer Ebene – die parteipolitischen Unterschiede in der Bewertung der digitalen Revolution und in der Reaktion darauf?
Günther H. Oettinger: Es gibt keinen Unterschied in der Einschätzung, dass es eine Revolution ist, von der wir reden. Es gibt auch keinen Unterschied in der ehrgeizigen Zielsetzung, bis zum Ende des Jahrzehnts einen digitalen Binnenmarkt zu schaffen und wieder wettbewerbsfähig zu werden. Allerdings gibt es beim Thema Datenschutz und Datensicherheit gewisse Unterschiede. Auch in der Frage der Netzneutralität weichen die Positionen voneinander ab, also bei der Frage etwa, ob es einen absoluten Anspruch auf Neutralität im Netz geben solle oder man besondere Dienste, die von öffentlichem Interesse sind, schnellere Verbindungen vorrangig ermöglichen soll. Aber im Großen und Ganzen ist die digitale Politik auf europäischer Ebene weitgehend von Parteienstreit frei.
Als Energiekommissar haben Sie sehr prägnant dargestellt, wie die Energiekosten den Wertschöpfungsprozess immer stärker beeinflussen. Gilt Ähnliches für den Produktionsfaktor „Daten“?
Günther H. Oettinger: Wenn Sie die neue C-Klasse von Mercedes Benz im Vergleich zum Vorgängermodell nehmen, dann sind fünfzig Prozent der Innovationen digitale Innovationen und betreffen nicht mehr Motorenstärke, Abgassysteme, aktive und passive Sicherheit oder Komfort. Dieser Anteil digitaler Innovation an der Gesamtentwicklung unserer Wirtschaft wird weiter zunehmen. Das heißt, wer digitale Dienste nicht selbst entwickelt und anbieten kann, wird der Verlierer dieser Revolution sein, Arbeitsplätze verlieren und Wertschöpfung reduzieren müssen – dies wollen wir vermeiden.
Wenn Daten und wirtschaftliche Entwicklung zusammen gesehen werden müssen, dann kostet Datenschutz also Wachstum, oder?
Günther H. Oettinger: Wir brauchen einen maßvollen Datenschutz, aber wer Daten umfassend schützen will, sollte sich nicht dagegenstellen, dass Dienste und Anwendungen, die aus Daten entstehen, in ein Geschäftsmodell gegossen werden. Deswegen brauchen wir zuerst einen europäischen Datenschutz – die nationalen Datenschutzregeln werden umgangen. Und zweitens brauchen wir einen maßvollen Datenschutz, damit die Speicherung von Daten, ihre Verarbeitung und Erhebung in einem klar umrissenen Umfang möglich werden.
Abschließend noch eine ganz andere Frage: Als Energiekommissar haben Sie im Gasstreit über Wochen zwischen Moskau und Kiew verhandelt. Können Sie uns trotz der aktuellen Entwicklung in der Ukraine Mut machen, dass die Kompromisssuche zu irgendetwas führen könnte?
Günther H. Oettinger: Unser Winterpaket für die Gasversorgung hat gehalten. Es hat keinerlei Ausfälle, keinerlei Probleme im Transit, sondern eine stabile Versorgung ganz Europas trotz aller Probleme und trotz der Eskalation zwischen der Ukraine und Russland, der EU und Russland gegeben. Jetzt müssen meine Nachfolger alles dafür tun, dass im Frühjahr die Verhandlungen aufgenommen werden, um die Sommerwochen zu nutzen. Die Gastanks müssen gefüllt, ein neues Winterpaket geschnürt oder gar eine Lösung für mehrere Jahre gefunden werden. Die Frage, ob Minsk II gescheitert ist, halte ich für sehr offen. Ungeachtet dessen unterstütze ich die Kanzlerin und alle Aktivitäten der Europäischen Union, den Dialog mit Putin aufrechtzuerhalten. Dessen ungeachtet: Wenn sich zeigt, dass Putin die Zusagen von Minsk II nicht einlösen kann, dann werden wir in den nächsten Tagen über weitere Wirtschaftssanktionen sprechen und diese entscheiden müssen.
Günther H. Oettinger, geboren 1953 in Stuttgart, 2005 bis 2010 Ministerpräsident von Baden-Württemberg, 2010 bis 2014 EU-Kommissar für Energie, seit November 2014 EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft.
Das Gespräch führte Bernd Löhmann am 20. Februar 2015.