Frau Thomae, durch Ihren zweiten Roman „Brüder“ sind Sie nach eigenen Worten von einer Berliner Schriftstellerin zu einer schwarzen Schriftstellerin geworden. Wie kam es zu dieser Verwandlung und welche Auswirkungen hatte sie?
Jackie Thomae: In meinem ersten Roman „Momente der Klarheit“ ging es um eine Gruppe von Großstädtern in der Krise. Die Herkunft dieser Figuren spielte nur am Rande eine Rolle, und meine Herkunft war in der Rezeption des Buches ebenfalls eher nebensächlich. In „Brüder“ habe ich den Titelfiguren eine Familiengeschichte gegeben, die meiner ähnlich ist. Der Vater ist ein Afrikaner, der in der DDR studiert hat. Die Parallele war offensichtlicher als beim ersten Roman, obwohl ich natürlich auch Großstädterin bin und Krisen habe.
Der Roman sollte kein aktuell-politischer Beitrag sein, er hat aber einen Zeitgeistnerv getroffen. Rezensionen, in denen „Buch der Stunde“ steht, die haben mich gefreut. Die Aufmerksamkeit, die das Buch bekommen hat, hat mich ebenfalls gefreut, aber am glücklichsten war ich darüber, wie viele meiner Leser den Roman exakt so verstanden haben, wie ich ihn gemeint habe. Gleichzeitig ist viel, wenn nicht mehr denn je, über Rassismus diskutiert worden, auch in Deutschland, und ich bin eine deutsche Stimme, also wollte man die hören.
Selbstironisch haben Sie konstatiert, inzwischen als „Expertin und Teilzeitklassensprecherin für Deutsche of Color“ zu gelten. Was behagte Ihnen an Ihrer neuen Rolle – als „schwarze Stimme“ – nicht, und warum stellten Sie sich ihr dennoch?
Jackie Thomae: Ironischerweise ist es ein sogenanntes „white privilege“, nur für sich selbst sprechen zu dürfen und nicht für eine gesamte Gruppe. Für mich war es nun für eine Weile so, dass ich viele Anfragen bekam, bei denen es um schwarze Themen ging, so als würde ich die per se alle abdecken und beantworten können. Konnte ich nicht, also musste ich lernen, „Ich weiß es nicht“ zu sagen.
Man stellte mir auch Fragen, auf die die Antwort bereits feststand. Selbstverständlich bin ich gegen Rassismus. Selbstverständlich schockiert mich Gewalt. Wie die meisten anderen auch. Und wieder andere Fragen zielten auf Antworten ab, für die es mittlerweile einen Begriff gibt, nämlich: „Racism Porn“. Man fragte mich nach meinen Erfahrungen und Erlebnissen mit Rassismus. In meiner Kindheit, in meiner Jugend, im Osten, im Westen, im Alltag, in der Literaturbranche. Mir fiel auf, dass die Fragen nach dem Alltagsrassismus auf mich denselben Effekt hatten, den der Alltagsrassismus selbst hat: Ich war „die Andere“, die Exotin. Diese Rolle hat mich deshalb so befremdet, weil ich sie seit Jahrzehnten nicht mehr innehatte. Was wiederum ein gutes Zeichen ist.
Mein Roman erschien in einem Moment, in dem man dringend über Rassismus sprechen wollte, sich aber oft nicht sicher war, wie – was ich verstehe. Es ist ein ernstes Thema, und man war jetzt an einem Punkt, an dem man alles richtig machen wollte. Deshalb war ich in den meisten Fällen auch gern bereit, diese Fragen zu beantworten. Außerdem gehört es dazu, wenn man mit einem Roman unterwegs ist. Nach dem Schreiben kommt das Reden. Und das kann nach dem Schreibprozess auch viel Spaß machen, besonders dann, wenn es wirklich konkret um meine Arbeit geht. Im Moment arbeite ich an einem anderen Thema und bin wirklich gespannt, welche Fragen man mir dann stellen wird.
Mit welchen Hoffnungen, aber auch Befürchtungen verfolgen Sie die aktuellen Rassismusdebatten?
Jackie Thomae: Ich wünsche mir mehr Vernunft und Pragmatismus. Ich weiß, dass ich mich anhöre wie eine Lokalpolitikerin, aber das bringt das Thema mit sich. Damit meine ich, dass man sich auf Wege und Ziele einigt, die für alle besser sind. Selbstverständlich sind barrierefreie öffentliche Orte wichtig, das würde jeder unterschreiben, auch diejenigen, die im Moment nicht direkt davon betroffen sind. Und ich denke, dass die meisten Leute auch gegen Rassismus sind. Eines der Kommunikationsprobleme sehe ich deshalb auch darin, dass nicht so richtig klar ist, wer hier mit wem worüber diskutiert. Wie die konkreten Ziele oder eine Zukunftsvision aussehen. Stattdessen geht es entweder darum, was man angeblich nicht mehr darf. Was meist so nicht stimmt, denn wir leben nicht in einer Diktatur. Während die anderen darüber reden, was sie verletzt oder was andere verletzen könnte. Beides ist nicht lösungsorientiert, beides hört sich verschnupft und viel zu privat an.
Deshalb bin ich auch dafür, dass man die Dinge recherchiert, bevor man sie diskutiert. So wurde ich zum Beispiel einmal gefragt, warum der deutsche Literaturbetrieb so weiß sei. Das kann ich als Autorin eigentlich nicht beurteilen. Aber wenn man sich mit Verlegern unterhält, wird man erfahren, dass sie ihr Personal gern diverser einstellen würden, wenn sich mehr Leute anderer Herkunft bewerben würden. Die Sache ist also komplexer. Sie fängt damit an, was Leute lernen und studieren und in welche Branchen es sie anschließend zieht. Dieses Bild kann sich im Laufe der Jahre oder Jahrzehnte grundlegend ändern, aber das erklärt erst einmal, warum diese Branche auf den ersten Blick nicht besonders divers erscheint.
Ich weiß nicht, ob die täglichen Meldungen von Änderungen in alten Büchern einen so großen Einfluss auf unser Miteinander haben. Aus meiner Berufserfahrung weiß ich aber, dass es immer ein Fehler ist, seine Zuschauer, Leser oder generell Mitmenschen zu unterschätzen. Ich glaube nämlich sehr wohl, dass auch Kinder und Jugendliche in der Lage sind, zu verstehen, dass sie ein Buch lesen, in dem Worte verwendet werden, die man heute nicht mehr sagt, dass sie diese richtig einordnen müssen, dass sich Sprache in einem ständigen Wandel befindet. Wenn man sich das vor Augen hält, wird einem auch klar, dass man später viele unserer heutigen Ideen wieder verwerfen wird.
Privat bin ich für mehr Humor und für mehr Verbindendes. Als Autorin beneide ich immer Musiker. Das sind die Künstler, die jeden erreichen, wenn es gut läuft. Durch die Ohren mitten in die Seele, da ist Literatur viel sperriger. Aber was man auch mit Texten erreichen kann, ist die Aussage, da ist ein Mensch. Der hat Hoffnungen, Ängste, Sehnsüchte, genau wie du.
Viele bemühen sich, den Anforderungen des Diskurses zu entsprechen, stolpern aber bereits über die Begrifflichkeiten. „People of Color“ [PoC] reicht manchen nicht mehr, inzwischen scheint „Black Indigenous People of Color“ [BIPoC] korrekter zu sein …
Jackie Thomae: Ich finde es gar nicht so kompliziert. Wenn Leute sich mit Bezeichnungen, die man früher für sie verwendet hat, nicht wohlfühlen, kann man diese weglassen. Das betrifft nicht nur das Thema Rassismus. So nennt man schon seit Langem eine unverheiratete Frau nicht mehr „Fräulein“, was niemand vermisst. Wenn andererseits Leute nicht jede neue Abkürzung, die die „New York Times“ verwendet, sofort mitbekommen und anwenden, heißt das weder, dass sie sich damit ins soziale Aus schießen, noch heißt es, dass sie stattdessen Worte benutzen müssen, die andere beleidigen. Es war auch früher schon möglich, miteinander oder übereinander zu reden, ohne sein Gegenüber herabzusetzen. Und es ist auch außerhalb der sogenannten urbanen Eliten möglich. Ich glaube, wir wären viel weiter, wenn wir uns selbst in diesem Punkt mehr zutrauen würden. Weiß ich ein Wort nicht, kann ich mein Gegenüber fragen. Weiß ich die Selbstbezeichnung einer Gruppe nicht, lebe ich in einem Zeitalter, in dem ich mir in ein paar Sekunden diese Information besorgen kann. Ich glaube weder, dass der tägliche Umgang zu einem Minenfeld geworden ist, denn gerade im täglichen Umgang verwendet man Begriffe wie PoC gar nicht, sondern redet sich mit Namen an, noch glaube ich, dass man hinter jeder Unwissenheit Rassismus wittern sollte.