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Interview: Religion, ein Sicherheitsrisiko?

Franz Josef Jung: Wie Religions- und Sicherheitsfragen miteinander verbunden sind

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Herr Dr. Jung, Sie sind seit Jahresbeginn als stellvertretender Faktionsvorsitzender nun auch für die Außen- und Sicherheitspolitik zuständig. Sie haben damit die Aufgabe des plötzlich verstorbenen Andreas Schockenhoff übernommen. Was bedeutet es für Sie, seine Nachfolge anzutreten?

Franz Josef Jung: Durch den tragischen Tod von Andreas Schockenhoff hat die Fraktion einen erheblichen Verlust des Menschen und des anerkannten Außen- und Sicherheitspolitikers erlitten.

Mit dem neuen Amt bin ich, wenn Sie so wollen, zurückgekehrt zu meinen bundespolitischen Wurzeln. Gerade im Thema Außen- und Sicherheitspolitik kann ich auf die Erfahrungen zurückgreifen, die ich als Verteidigungsminister erlangt habe. Es gibt viele persönliche Kontakte, die mir dort heute weiterhelfen.

 

Sie sind weiterhin Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sicherheits- und Religionsfragen scheinen heute immer mehr miteinander verknüpft zu sein. Ergänzen sich daher Ihre beiden Zuständigkeiten in der Fraktion?

Franz Josef Jung: Das ist natürlich so. Insbesondere was der Einsatz für die Umsetzung der Religionsfreiheit weltweit betrifft, ergänzen sich meine beiden Funktionen als stellvertretender Fraktionsvorsitzender und als Beauftragter in idealer Weise.

Das Thema Religionsfreiheit steht in der Fraktion oben auf der Agenda – beginnend mit dem Engagement unseres Fraktionsvorsitzenden, Volker Kauder, der auf seinen Auslandsreisen in den betroffenen Regionen immer wieder auf dieses grundlegende Menschenrecht hinweist. Dort, wo keine Religionsfreiheit herrscht, gibt es auch keine politische Freiheit, und dort werden weitere Menschenrechte verletzt. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der islamistische Terror des „IS“ sich sowohl gegen Christen als auch gegen Muslime richtet.

 

Heute gibt es Islamisten, die Terroranschläge verüben und sich dabei auf die Religion berufen. Andere Religionsgruppen, die ihre Religion frei ausüben möchten, fühlen sich aber nach jedem Attentat weniger sicher – so auch Juden in Deutschland. Ist Religion ein Sicherheitsrisiko?

Franz Josef Jung: Ich würde das nicht auf die Religion zurückführen, sondern auf ihren Missbrauch. Was beispielsweise den islamistischen Terror angeht, so gibt es namhafte muslimische Führer, die sich nicht nur in Deutschland, sondern weltweit dagegen aussprechen, wie der Vorsteher der anerkannten ägyptischen Al-Azhar-Universität in Kairo.

Problematisch wird es immer dann, wenn Menschen Gläubige einer bestimmten Religion stigmatisieren und dies zu unmittelbaren Gefahren führt – wie beispielsweise bei den Menschen jüdischen Glaubens oder derzeit bei den Christen und Jesiden im Irak.

Die meisten Religionen – gerade auch das Christentum – sind friedlich und vermitteln Werte, ohne die ein friedliches Zusammenleben nicht denkbar wäre. Auch das Judentum oder der Buddhismus sind friedlich ausgerichtete Religionen. Der Islam als Religion hat aufgrund seiner zahlreichen Interpretationsmöglichkeiten in diesem Punkt eine weniger klare Ausrichtung. Hier ist es vor allem an den Muslimen selbst, einen Prozess zu starten, der dem Islam eine eindeutigere Kontur als friedliche Weltreligion gibt und keine extremistischen Auslegungen zulässt.

 

Dass sich auffällig viele Terrororganisationen auf den Islam berufen, gibt doch Anlass zur Frage, wie viel Islam im islamistischen Terrorismus steckt?

Franz Josef Jung: Ja, natürlich ist richtig, dass sich diese Terrororganisationen auf den Islam berufen. Aber das geschieht ohne wirkliche Grundlage und ist ein eindeutiger Missbrauch und geradezu eine Pervertierung des Islam. Wichtig ist, dass sich Muslime und islamische Verbände weltweit entschieden davon abgrenzen – so, wie es beispielsweise der Großscheich der Al-Aqsa-Moschee an der Universität Kairo getan hat, als er sagte: Muslime müssten einen Islam leben, der sich eindeutig vom Extremismus abgrenzt und sich gegen ihn zur Wehr setzt. Das ist der richtige, aber auch der notwendige Weg: ein „aufgeklärter“ Islam, der klar ersichtlich werden lässt, wie sehr sich extremistische Gruppen zu Unrecht auf die Religion berufen.

Die Ursache des Terrorismus liegt nicht in der Religion. Vielmehr ist es so, dass der Zerfall von staatlichen Strukturen, wie er jetzt leider Gottes beispielsweise in Libyen oder im Jemen zu beobachten ist, ein Umfeld für Terrorismus schafft. Überall dort, wo staatliche Strukturen wegbrechen – und das ist zurzeit vor allem im arabischen Raum und in Nordafrika der Fall –, treibt der islamistische Terrorismus sein Unwesen. Darüber hinaus spielen mangelhafte soziale und wirtschaftliche Bedingungen eine Rolle, die dann dazu führen, dass junge Menschen sich leicht von den Anführern der Terrorgruppen verführen lassen, die ihnen vermeintliche Sicherheit in klaren hierarchischen Strukturen bieten. Ich habe das etwa in Afghanistan erlebt: Wo Menschen keine Zukunft haben, wo sie im bittersten Elend leben, lassen sich Menschen leichter von Terrororganisationen rekrutieren. Deshalb reicht es auch nicht, den IS allein militärisch zu bekämpfen. Es ist auch notwendig, die sozialen und ökonomischen Bedingungen so zu verbessern, dass die Menschen Perspektiven für ein friedliches Leben gewinnen.

 

Ist die lange Tradition von Diktaturen in den arabischen Ländern mitverantwortlich dafür, dass der islamistische Terrorismus entstanden ist? Oder ist es umgekehrt richtig, dass Diktaturen dort die einzig mögliche Antwort auf islamistischen Terrorismus sind?

Franz Josef Jung: Die Diskussion zu dieser Frage ist in vollem Gange. Ich glaube nicht, dass die Entstehung des islamistischen Terrors unmittelbar mit den Diktaturen im Nahen Osten zusammenhängt. Die Gründe sind vielmehr in über Jahrzehnte aufgestauten Defiziten an politischer, sozialer und ökonomischer Teilhabe in diesen Ländern zu suchen. Die politische Ordnung blieb ohne Legitimation, der Staat eine Fassade. Die Menschen konnten keine teilhabenden Bürger werden, die ein Interesse am Staat haben, sodass das Heilsversprechen islamistischer Extremisten überhaupt auf fruchtbaren Boden fallen konnte.

Der Terror ist daher primär entstanden aus einer unsäglichen Mischung eines staatlichen und demokratischen Vakuums in den betroffenen Ländern, sich verändernden gesellschaftlichen Verhältnissen vor Ort und einem gleichzeitigen Angebot der Terrorvereinigungen, die diese Leerstellen gerade bei jungen Männern geschickt für sich zu nutzen wissen – auch mittels der sozialen Netze, die hier auch eine gewisse Rolle spielen.

Erst recht kann keine Diktatur die Antwort auf den Terrorismus sein. Die Rückkehr der Militärdiktatur in Ägypten ist jedenfalls nicht die richtige Antwort: Sie schafft nur Scheinstabilität. Wir müssen im Gegenteil deutlich machen, dass Menschenrechte und demokratische Freiheiten überhaupt erst die Grundlagen sind, aus denen die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse erwachsen, die dem islamistischen Terrorismus mehrheitlich entgegenstehen.

 

Gerade auch arabische Intellektuelle behaupten, der Westen habe eine Mitschuld daran, dass der islamistische Terrorismus entstanden ist – etwa indem er religiös fanatisierte Kämpfer im Krieg gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan unterstützt habe.

Franz Josef Jung: Man kann den Westen nicht für den islamistischen Terror „verantwortlich“ machen. Wenn Sie sich konkret die Situation des IS anschauen, dann haben die sicherheitspolitischen Herausforderungen, die in der arabischen Welt durch islamistischen Terrorismus entstanden sind, längerfristige strukturelle Ursachen, die ich schon beschrieben habe.

Allerdings ist die Frage berechtigt, ob die internationale Gemeinschaft in Syrien dem Staatszerfall zu lange zugeschaut hat und die entstandene Anarchie von nichtstaatlichen Akteuren wie den IS-Terroristen ausgenutzt werden konnte – oder dass in Libyen nach dem Sturz Gaddafis ein Vakuum zugelassen wurde, in das Milizen und jetzt auch die IS-Terroristen vorstoßen konnten. Diese scheiternden Staaten haben wie ein Brandbeschleuniger für den Terror des IS gewirkt.

 

Wobei der Westen schon darüber nachdenken sollte, warum er für diese Gesellschaften oft nicht mehr attraktiv erscheint?

Franz Josef Jung: Darüber müssen wir nicht nachdenken, und ich glaube auch nicht, dass man dem Gerücht aufsitzen sollte, dass die dortigen Gesellschaften unsere Demokratien pauschal ablehnen. Damit bleiben gerade diejenigen ungehört, die in den betroffenen Ländern für mehr Freiheit, Demokratie und letztlich auch Wohlstand kämpfen. Wir sollten angesichts des Terrors gerade nicht in Selbstzweifel verfallen, denn dann erreichen die Extremisten genau ihr Ziel. Wenn die Rahmenbedingungen in einer freiheitlichen Demokratie so sind, dass sowohl im sozialen als auch im ökonomischen Bereich die Dinge in einem vernünftigen Verhältnis stehen, ist der Nährboden für islamistischen Terror gering. Zu derartigen Verhältnissen muss es auch in den vom islamistischen Terror unmittelbar betroffenen Ländern kommen.

 

Viele muslimisch geprägte Länder sind vom islamistischen Terrorismus existenziell betroffen. Sie haben fast alle den Angriff auf „Charlie Hebdo“ verurteilt und lehnen dennoch „Mohammed-Karikaturen“ ab – nicht zuletzt mit der Begründung, dass diese den Islamisten Auftrieb geben. Halten Sie dieses Argument für nachvollziehbar und stichhaltig?

Franz Josef Jung: Natürlich lehnen viele Muslime die Mohammed-Karikaturen ab. Auf der anderen Seite machen aber auch Muslime deutlich, dass Satire und Meinungsfreiheit Grundelemente einer freiheitlichen Demokratie sind. Ich finde allerdings – und halte das rückblickend auf die Anschläge von Paris für angebracht –, dass Menschen untereinander auch auf religiöse Gefühle Rücksicht nehmen sollten. Es ist nicht so, dass die Meinungsfreiheit des Artikels 5 im Grundgesetz absolut ist: Sie steht in einem Spannungsverhältnis zu anderen Grundrechten wie der Menschenwürde und der Religionsfreiheit.

 

Aus arabischen Ländern kommt der Vorschlag, eine UNO-Resolution zu verabschieden, die es untersagt, Religionsstifter zum Gegenstand von Karikaturen zu machen. Im Gegensatz dazu haben die Grünen kürzlich einen internationalen Tag der Karikaturisten gefordert. Welcher der beiden Optionen würden Sie eher zuneigen?

Franz Josef Jung: Zu keiner der beiden! Mein Ansatz ist, dass man sagt: Meinungsfreiheit ist ein elementares und unbedingt zu schützendes Gut in der freiheitlichen Demokratie, und dass man darüber hinaus nicht vergisst, dass die Meinungsfreiheit immer in einem Verhältnis auch zu anderen Grundrechten steht.

 

Aber wie reagiert man in unseren global vernetzten Zeiten auf die Schwierigkeit, dass Karikaturen, die in Dänemark veröffentlicht werden, die Menschen in Ägypten oder im Iran zutiefst erzürnen? Brauchen wir nicht eine internationale Diskussion über Religions- und Meinungsfreiheit?

Franz Josef Jung: Das hätte nur eine Chance auf Erfolg, wenn das, was beispielsweise bei uns den Grundgesetzkatalog ausmacht, auch in anderen Ländern gelten würde. Bevor also Länder wie Saudi-Arabien UN-Resolutionen anregen, sollte man dort erst einmal damit anfangen, elementare Menschen- und Freiheitsrechte zu beachten.

 

Kobane und Debalzewe scheinen zu Schicksalsorten zu werden. Was verbindet, was unterscheidet die dortigen Geschehnisse aus geostrategischer, aber auch aus menschenrechtlicher Sicht?

Franz Josef Jung: Kobane war im Begriff, in die Hände von IS-Terroristen zu fallen. Dort haben Massaker an den Bewohnern stattgefunden. Deshalb war es notwendig, militärisch einzugreifen und Kobane von einem solchen Terror zu befreien – etwa durch die Peschmerga und mithilfe von Luftschlägen. Debalzewe ist ein völlig anderes Thema. Es war ein Brennpunkt im Konflikt um die Ostukraine, den die Separatisten als strategisch wichtigen Ort ansehen, an dem entsprechende Kämpfe stattgefunden haben. Ich kann nur hoffen und wünschen, dass der Waffenstillstand jetzt umgesetzt wird, der durch das großartige Engagement unserer Bundeskanzlerin mit Minsk II vereinbart wurde und auch eine UN-Resolution darstellt: Denn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat auf Antrag von Russland einstimmig die vollständige Umsetzung von Minsk II beschlossen. Es ist noch Skepsis angebracht, aber wir sollten uns in jedem Fall weiter engagieren.

 

Waffenlieferungen sind deswegen kein Thema?

Franz Josef Jung: Ich habe Waffenlieferungen von Anfang an nicht für richtig gehalten, weil ich die große Sorge habe, dass sie eine zusätzlich Eskalation bewirken könnten. Man muss sehen: Russland kann über die Grenze problemlos Waffen nachführen – mit der Konsequenz, dass am Ende die Separatisten mehr davon profitiert hätten als die ukrainischen Soldaten von westlichen Waffenlieferungen. Militärisch ist – da teile ich die Auffassung der Bundeskanzlerin – diese Auseinandersetzung nicht zu gewinnen. Daher muss man alles tun, damit Minsk II jetzt wirklich Realität wird.

 

Was tut man aber, wenn eine Konfliktpartei auf eine militärische Lösung setzt?

Franz Josef Jung: Jedes Land, jeder Staat muss die Chance haben, verteidigungsfähig zu sein. Deshalb gibt es auch die eine oder andere Überlegung für eine entsprechende Ausbildung und Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte.

 

Deutschland muss sich wohl international auf unruhigere Zeiten einrichten. Müsste man deshalb nicht darüber nachdenken, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen und die Bevölkerung vielleicht langsam darauf vorzubereiten?

Franz Josef Jung: Es gibt eindeutig eine veränderte Sicherheitslage. In meiner Zeit als Verteidigungsminister debattierten wir über die strategische Partnerschaft mit Russland im NATO-Russland-Rat. Das ging seinerzeit in die richtige Richtung. Jetzt hat sich die Sicherheitslage durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim, die Situation in der Ostukraine und den IS-Terror erheblich verändert. Es gibt daher weiterhin die Verantwortung der Bundeswehr, sich für den Frieden zu engagieren, und es gibt den Artikel 5 des Nordatlantikvertrags, der eine Schutzfunktion der NATO beinhaltet. Das müssen wir beides gewährleisten, dafür braucht man die entsprechenden Ressourcen. Und dafür braucht man aus meiner Sicht eine Erhöhung des Verteidigungsetats.

 

Was halten Sie von der Idee JeanClaude Junckers, eine „Europaarmee“ zu schaffen?

Franz Josef Jung: Eine Europaarmee ist ein Fernziel. Zunächst einmal geht es darum, durch eine engere Zusammenarbeit und eine noch weitergehende Verflechtung der Streitkräfte der europäischen Staaten die militärischen Fähigkeiten von NATO und EU zu stärken und damit schlagkräftiger zu werden. Dies tun wir beispielsweise mit dem Aufbau eines gemeinsamen Lufttransport-Kommandos oder einer gemeinsamen Tankerflotte oder durch das Schaffen gemeinsamer Brigaden zwischen europäischen Staaten. Diese ständig zunehmende Integration von europäischen Streitkräften wäre eine Vorstufe für eine europäische Armee. Bei einer Europaarmee müsste dann aber auch geklärt werden, wer über ihren Einsatz entscheidet: die Europäische Kommission oder die Staats- und Regierungschefs beziehungsweise das Europäische Parlament oder die – bisher 28 – nationalen Parlamente.

 

Franz Josef Jung, geboren 1949 in Erbach, von 2005 bis 2009 Bundesminister der Verteidigung, seit 2013 stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, seit 2014 Beauftragter der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Kirchen und Religionsgemeinschaften.

Franz Josef Jung beantwortete die Fragen von Bernd Löhmann am 17. März 2015.

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