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Interview: Umdenken als Überlebenschance

Meeresbiologin Antje Boetius über wissenschaftliche Erkenntnis und gesellschaftliche Wahrnehmung

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Vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert erschien der Report des „Club of Rome“ über „Die Grenzen des Wachstums“. Er sollte einem breiten Publikum ein neues Denken vermitteln, das Konsequenzen aus der menschengemachten Zerstörung des Ökosystems Erde zieht. Inwieweit ist dieses neue Denken inzwischen in der gesellschaftlichen Breite und an entscheidenden politischen sowie gesellschaftlichen Stellen angekommen?

Antje Boetius: Bei dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ war ein Fokus, wie eine Transformation zu globaler Nachhaltigkeit gelingen könnte und was ihr auf welcher Ebene – lokal bis international – entgegensteht. Auch wenn insgesamt ein sehr pessimistisches Bild der Mensch-Technik-Natur-Entwicklung beschrieben wurde, sind die Grundprobleme bereits klar benannt. Methodisch ist es ein enorm innovativer Schritt gewesen, die komplexen Grundlagen für Zukunftsszenarien mathematisch modellieren zu wollen. Bis heute beschäftigt die Wissenschaft, dass unser Verhalten und die sozioökonomische Entwicklung der Menschheit als nicht vorhersagbar gelten.

Offen bleibt auch die Frage, welche Ebenen politischen Handelns zusammenkommen müssen, um Lösungen für den Schutz der globalen Gemeingüter zu schaffen. Besonders problematisch ist, dass eigentlich nur der Staat handeln kann, es aber um Lösungen der Staatengemeinschaft geht, die schwer zu erreichen sind. Einerseits gibt es erheblichen Fortschritt bei den gemeinsamen Zielen durch die internationalen Klimaschutz- und Weltbiodiversitätsabkommen wie auch durch die Nachhaltigkeitsziele oder durch den europäischen „Green Deal“; gerade aktuell auch durch das Seerechtsübereinkommen zum Schutz der Artenvielfalt auf Hoher See. Andererseits bleibt das Problem des zeitlichen Rahmens. Die Menschheit ist zu langsam bei der Erreichung der komplex verschränkten Ziele gegenüber den schnellen Veränderungen, die wir beim Erdsystem ausgelöst haben. Die Zeithorizonte passen nicht zusammen – daher verringert der weiter steigende CO2­-Gehalt in der Atmosphäre und die fortwährende Zerstörung von Natur und Lebensvielfalt die Chancen kommender Generationen.

Immer mehr Menschen und Staaten wollen zwar eine umfassende Veränderung. Und es gibt wahrnehmbare politische und ökonomische Initiativen und Allianzen, die in die richtige Richtung gehen. Trotzdem wird es für die nächsten Dekaden keine so fundamentale Aufgabe geben, wie den internationalen Zusammenhalt zu organisieren, damit die globale Wende zu mehr Nachhaltigkeit schneller erreicht wird. Dabei muss man sich immer wieder gewahr werden, dass ein kleiner Teil der Menschheit beziehungsweise der Wirtschaft den größten Teil der globalen Gemeingüter verbraucht. Zunehmend schält sich also auch die Frage nach den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für das Zusammenleben auf dem Planeten heraus.

 

Die Szenarien des „Club of Rome“ sind nach wie vor düster. António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, sprach auf der letzten UN-Klimakonferenz von einem „Highway zur Klimahölle“. Ist das gutgemeinter Alarmismus oder ungeschönte Wirklichkeit?

Antje Boetius: Die absolut düsteren Szenarien zur Zeit des Pariser Klimaabkommens sind wohl überwunden. Dennoch zeigen die neuen Simulationen des „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC), in denen der Stand des wissenschaftlichen Wissens zusammengefasst wird, sowie des „Global Carbon Project“. Sie zeigen auf, wie wenig Zeit für den Ausstieg aus fossilen Brennstoffen bleibt und wie schnell sich die Welt um uns herum verändert, wenn wir nicht noch schneller gegensteuern. Schon jetzt ist die menschengemachte Erderwärmung von durchschnittlich fast 1,2 Grad Celsius eine Katastrophe für viele Menschen und das Leben auf der Erde, wenn man etwa an die Ausbreitung von Dürren oder die Zunahme von Extremwettern denkt, die sogar dazu führen, dass ganze Landstriche unbewohnbar werden. Auch in Deutschland kämpfen wir bereits mit den Folgen, etwa Förster und Landwirte. Mediziner beschäftigen sich inzwischen intensiv mit den Auswirkungen des Klimawandels auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder auf Allergien.

Mein Blick als Polar- und Tiefseeforscherin geht zum schwindenden Meereis, zum Meeresspiegelanstieg, zur weltweiten Bleiche der Korallenriffe und zum Kollaps von Ökosystemen. Ich schaue auf die CO2-­Uhr, etwa beim „Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change“ (MCC), die angibt, wie nahe die nächsten Stufen der Erderwärmung sind. Die Szenarien, was 1,5 Grad Celsius und 2,0 Grad Celsius Erderwärmung bedeuten, gibt es auch. Und dabei geht es um Zeiträume, die die meisten unter uns noch erleben werden – also Entwicklungen innerhalb der nächsten zwei Dekaden. Daher ist das Bild des „Highway“ treffend, weil es sich um schnelle Prozesse handelt. Es bleibt sehr, sehr wenig Zeit, wenn man bedenkt, dass es im Kern um den Umbau großer Infrastrukturen – zum Beispiel der Energieversorgung, des Wohnens und Verkehrs – geht. Dafür bedarf es globaler Veränderungen, und das vor dem Hintergrund zunehmender Systemkämpfe zwischen großen staatlichen Akteuren, die eigentlich zusammenarbeiten müssten.

Die deutliche Sprache von Herrn Guterres entspringt also der Erkenntnis, dass wir als Menschheit mit unserer bislang schwachen Fähigkeit supranationaler Koordination die Zeiträume verpassen werden, in denen es noch relativ einfach ist, planvoll zu handeln und nicht nur zu reagieren. Für immer mehr Menschen geht es schlicht ums Überleben. Insofern halte ich es für richtig, dass er aus dieser Position heraus spricht.

Alfred-Wegener-Institut / Esther Horvath

Die vergangenen acht Jahre waren die wärmsten in Folge seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Bleibt überhaupt noch Raum zum Nachdenken, Überzeugen und Abwägen?

Antje Boetius: Die Frage ist eher, warum alles so langsam geht und worin die großen Blockaden gegen ein gemeinsames Handeln in der Klima- und Biodiversitätskrise bestehen. Was wären Wege für ein schnelleres Vorankommen? Wie können die Unternehmen, die Entscheider mehr Verantwortung übernehmen, die an den großen Stellschrauben sitzen – zum Beispiel das Finanzwesen oder die Versicherungen? Wie gelingen Aushandlungsprozesse zwischen Finanz­, Wirtschaftsministerium und Energiekonzernen – zum Beispiel in Bezug auf die langfristigen Investitionen in die Energieinfrastruktur?

Natürlich muss es immer Raum zum Nachdenken und Abwägen geben, aber die Erkenntnisse zur Steuerung vom globalen Klima- und Umwelt-Gleichgewicht sind mittlerweile schon ein halbes Jahrhundert alt. Ich bin keine Historikerin, würde aber meinen, dass sich die Menschheit selbst während der Weltkriege nicht allein mit einem Thema oder einer Krise beschäftigt hat, sondern mit vielen gleichzeitig. Wir müssen uns immer wieder daran erinnern, dass es darum geht, die Erderwärmung so zu begrenzen, dass keine katastrophalen Folgen für uns alle entstehen, und dass die Spielräume dafür künftig immer kleiner werden. Wir müssen uns auch bewusst werden, dass kein technisches Wunder zu erwarten ist, das die Probleme auf einen Schlag löst. Gleichzeitig liegt sehr viel Hoffnung darin, technische Lösungen wie regenerative Energien und die vielen Innovationen in diesem Bereich zu fördern, vor allem aber die sozioökonomischen Prinzipien für den Schutz der globalen Gemeingüter wie Atmosphäre, Ozean und Böden so einzustellen, dass es den Menschen leichtfällt, in einem Gleichgewicht mit den planetaren Ressourcen zu leben.

 

Es gibt Stimmen, die es bereits jetzt kritisieren, dass es kaum Spielräume gebe, bis hin zur der Behauptung einer „Ökodiktatur“ …

Antje Boetius: Ich habe noch niemanden getroffen, der so etwas wie eine „Ökodiktatur“ kennt, für wahrscheinlich hält oder plant. Vielleicht zählt das eher zu den absonderlichen Zuspitzungen von Debatten, dass Tempobeschränkungen auf Autobahnen oder ein für die Landwirte verträglicher Preis für nachhaltig erzeugtes Schweinefleisch eine „Ökodiktatur“ seien. Dem entgegen stünde dann die Frage, ob wir gegenwärtig etwa in einer „Konsumdiktatur“ feststecken.

Ich beschäftige mich lieber mit den demokratischen Rahmenbedingungen für ein ambitioniertes Fortkommen auf dem Pfad der längst demokratisch beschlossenen Transformation. Wir leben nicht in einem umweltrechtsfreien Raum, und schon längst gibt es klare Mehrheiten für mehr Klima- und Naturschutz. Ich kenne viele Menschen, auch in Führungspositionen, die trotzdem feststellen, dass selbst bei gutem Willen und national wie international politisch abgestimmten Zielen die Schritte in die Umsetzung nicht ausreichen, um schnell genug voranzukommen. Ein zielführendes Verhalten – beispielsweise in den Bereichen Energie, Ernährung, Bau oder Verkehr – ist für den Einzelnen immer noch unbequem und teurer. An dem zu hohen CO2-­Ausstoß wird sich aber leider so lange nichts ändern, wie es keinen ausreichenden CO2-Preis gibt, der Emissionshandel erst langsam in Schwung kommt und keine ausreichenden Investitionen in die Transformation für die Infrastruktur für Klimaneutralität getätigt werden. Auch eine zielführende Aufgabenverteilung ist noch nicht vorhanden: Städte und Gemeinden, die öffentliche Hand als Investor, könnten so viel erreichen, wenn sie dürften und in den lokalen Aushandlungsprozessen und Investitionen gefördert würden.

Insgesamt halte ich es also für schwierig, dass es in Deutschland klare Mehrheiten für mehr Klimaschutz und schnelleren Ausbau regenerativer Energien gibt, die Menschen aber weiter enttäuscht werden, dass die vereinbarten Ziele nicht erreicht werden.

 

Was halten Sie als gesellschaftspolitisch engagierte Wissenschaftlerin von der Forderung „Follow the Science“?

Antje Boetius: In einer Allgemeingültigkeit ist das natürlich zu einfach, weil es für komplexe, multifaktorielle Probleme nicht nur um die Stimme der Wissenschaft geht. Gemeint ist hier ja aber eben die Ignoranz gegenüber Fakten und Szenarien, die tödlich sein kann. Grundsätzlich aber und über lange Zeiträume folgt die Menschheit Wissen und Erkenntnissen sowie dem daraus entstehenden Innovationsprozess. Aber dies geschieht weder gleichmäßig noch zeitgleich; zu viele Menschen sind abgehängt von den Vorteilen von Wissen. Das fängt beim Zugang zu Lebensnotwendigkeiten wie sauberer Luft und Wasser an.

In vielen Bereichen ist Wissenschaft implizit Teil unseres Verhaltens. Im Alltag hinterfragt kaum jemand etwa die Algorithmen hinter den Bremsvorgängen beim Autofahren. Kaum einer würde noch Eigenexperimente mit Chemikalien mit dem Label „toxisch“ machen oder aus dem Fenster springen, um zu testen, ob es so etwas wie Schwerkraft gibt. Rückblickend erkennen wir, wo die Menschheit auf einem falschen Weg war, weil es einen Krieg gegen Wissen gab und sich dieses nur verzögert durchsetzen konnte. Ein gutes Beispiel ist die Hygienelehre; wie lange hat es gedauert, bis die Ursache vermeidbarer Krankheiten – nämlich bakterielle Infektionen – erkannt waren und Lösungen wie Kanalisation und Wasserverteilung sowie Antibiotika erfunden und eingesetzt waren, die Erkenntnis, dass bakterielle Verunreinigungen krank machen. Global wird immer noch nicht das Wissen umgesetzt, dass alle Menschen gleich sind und es keine Menschenrassen gibt, wir leben gegen die Erkenntnis, dass wir Menschen Teil des Naturnetzwerks sind und die Natur nicht einfach durch Technik ersetzen können.

In sehr vielen Bereichen, wo uns das gar nicht klar ist, folgen wir wissenschaftlichen Erkenntnissen. In anderen Bereichen wird dauerhaft gegen Wissen verstoßen, weil etwas anderes – zum Beispiel Genuss – uns wichtiger erscheint: zum Beispiel beim Rauchen oder beim Verzehr von zu viel weißem Zucker.

Schwierig wird es dann, wenn es um Prinzipien des kollektiven Handelns geht, die dem Wissen und der Einordnung von Wissen in Wertesysteme oder Regeln dauerhaft entgegenstehen. Das erzeugt massive Spannungen. Und so steigt der Konflikt zwischen denen, die keinen Bezug mehr zu Ressourcen und globalen Gemeingütern haben – und solchen, die deren Schutzbedürfnis erkennen und priorisieren.

Manchmal geht es aber nicht einmal um komplexe Wissensaushandlungen, und ich finde es fragwürdig, dann die Wissenschaft vorzuschieben. Es ist beispielsweise keine Frage der Wissenschaft, zu entscheiden: „Wir wollen auf unseren Straßen nicht im Müll ersticken, also organisieren wir eine Müllabfuhr und bezahlen sie aus der Steuer für alle.“ Und genau darum geht es beim Schutz der Atmosphäre: Wir wollen nicht immer mehr CO2 in der Atmosphäre haben, also organisieren wir eine global wirksame CO2-­Vermeidung (regenerative statt fossile Energien) und auch eine Müllabfuhr für zu viel CO2 in der Atmosphäre (Stärkung der natürlichen und technischen Senken für CO2).

 

Sie setzen sich unter anderem bei „Scientists for Future“ für den Klimaschutz ein. Offenbar reichen wissenschaftliche Fakten nicht aus, um die Einsicht und Bereitschaft zum Handeln zu generieren?

Antje Boetius: Nein, Fakten allein sind kein Garant für Einsicht, und Einsicht ist kein Garant für Handeln. Bei „Scientists for Future“ unterstütze ich das Anliegen, dass Wissenschaft wichtiges Zukunftswissen, zum Beispiel zur Klimakrise, direkt und schnell mit der Gesellschaft und vor allem auch mit der jungen Generation teilt. Es ist wichtig, dass Protestbewegungen ein Verständnis für die wissenschaftliche Grundlage von Zielen und Forderungen haben. Es bleibt aber ihre eigene Entscheidung und ihr eigenes Recht als Protestbewegung, mehr zu wollen, schärfer zu formulieren oder auch Wunder einzufordern.

 

Seit Jahresbeginn sind Sie Fellow der Konrad-Adenauer-Stiftung, die einer Partei und damit den demokratischen Institutionen insgesamt verbunden ist. Mit welchen Absichten und Erwartungen verknüpfen Sie dieses Amt?

Antje Boetius: Mich interessiert, wie die Arbeit einer internationalen Stiftung, wie die politische Bildung in Deutschland und wie Thinktank-Prozesse funktionieren. Schon lange interessiert mich zudem die Frage, warum nicht gerade im sogenannten „Konservativen“ eine besondere Leidenschaft für die Bewahrung und Förderung des Netzwerks des Lebens verankert sein sollte. Und wie die Konrad-Adenauer-Stiftung als internationale Institution mehr Empathie und Ambition für Vielfalt und Zusammenarbeit in ihre Wertegemeinschaft tragen kann, der es da an Stimmen fehlt. Zuletzt durfte ich mich auch mit der Frage der Klimaschutzambitionen der der Stiftung nahestehenden Partei beschäftigen. Da fehlen eine gemeinsame Position und Anerkennung der global vereinbarten Ziele und der notwendigen Schritte; die werden aber immer dringlicher.

Ich habe die Erwartung, dass wir die gemeinsame Zeit rund um das Fellowship gut nutzen, um uns produktiv und kreativ auszutauschen. Auch zu ganz anderen Themen als Klimaschutz – wie Kommunikation, Bildung, Krisenbewältigung oder auch Frauen in Führungspositionen. Weitere Themen zu Meeresschutz, Tiefseebergbau, auch internationale Wissenschaft stehen ins Haus.

 

Antje Boetius, geboren 1967 in Frankfurt am Main, Meeresbiologin, seit 2009 Professorin für Geomikrobiologie, Universität Bremen, seit 2017 Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts – Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven, seit 2023 Fellow der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

Die Fragen stellte Bernd Löhmann schriftlich am 26. Januar 2023.

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