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Lektionen aus dem russischen Krieg gegen die Ukraine

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Die gewaltsame Annexion der Krim durch Russland vor zehn Jahren wird im öffentlichen Bewusstsein mit den „little green men“ verknüpft. Dieses Narrativ überdeckte, dass in der Ostukraine gleichzeitig eine klassische, konventionelle Auseinandersetzung mechanisierter Kampfverbände stattfand. Am Ende dieses Konflikts konnten die von regulären russischen Truppen massiv unterstützten Separatisten ihre territorialen Gewinne konsolidieren. Russland bestärkte dies in der Annahme, dass die eigenen Streitkräfte in einem konventionellen Konflikt den ukrainischen weit überlegen sein würden.

Die unter Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow 2007 begonnene Modernisierung zielte auf die Bewaffnung und den Personalkörper. Dabei wurden Brigadestrukturen nach westlichem Vorbild aufgebaut und die Ausbildung vor allem der Unteroffiziere verbessert. Gleichzeitig wurden circa fünfzig Prozent der Offiziere entlassen und die Gesamtstärke der russischen Armee reduziert. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Russische Föderation – im Gegensatz zu den westlichen Armeen – trotz der Verschlankung der aktiven Verbände weiterhin umfangreichste Materialreserven vorgehalten hat. So schätzt das International Institute for Strategic Studies, dass Russland 2020 über ungefähr 2.500 in Nutzung befindliche T-72- und T-80- sowie 10.000 eingelagerte Kampfpanzer derselben Typen verfügte. Ähnliche Zahlen gelten für fast alle gepanzerten Waffensysteme. Pro Besatzung standen damit potenziell für jedes im Gefecht verlorene Großgerät mindestens zwei weitere als Ersatz zur Verfügung. Insbesondere vor dem Hintergrund der hohen Verluste modernster Waffensysteme nehmen zunehmend ältere Modelle die Hauptrolle in der russischen Panzertruppe ein. Neben der schnellen Verfügbarkeit von Materialreserven ist der Bestand und Ersatz gut ausgebildeten Personals unerlässlich; er ist aber kein kurzfristig zu erreichendes Ziel. Obwohl die russischen Streitkräfte Erfahrungen aus den vorangegangenen Konflikten adaptierten (etwa Sensor to Shooter-Technologie beim Einsatz von Artillerie und Drohnen), ist festzustellen, dass in allen Phasen des Krieges in der Ukraine, insbesondere seit dem Scheitern der ersten Offensive, ein Rückfall in alte Verfahren und Doktrinen aus der Sowjetzeit zu beobachten ist. Das ist sowohl bei offensiv (wie in Bachmut und Awdijiwka) als auch bei defensiv ausgerichteten Operationen wie im Süden der Ukraine zu erkennen.

 

Streitkräftereform in der Ukraine

2014 zeigte sich, dass die ukrainischen Streitkräfte in ihrer Struktur, Einsatzdoktrin und Ausbildung/Ausrüstung gegen die (in Teilen) modernisierten russischen Streitkräfte kaum bestehen konnten. Dies bewog die Ukraine ihrerseits zu umfassenden Reformen ihrer Streitkräfte. In Abkehr von der sowjetischen Prägung wurden Ausbildung, Führungsverständnis, Einsatzdoktrinen und Entscheidungsebenen an westlichen Armeen ausgerichtet. Ausbildungsmissionen der britischen, amerikanischen und kanadischen Streitkräfte unterstützten diese Bestrebungen seit 2015. Als äußeres Zeichen wurden die aus der Sowjetära stammenden Uniformen abgeschafft. Eine leistungsfähige Rüstungsindustrie und ein Reservoir an jungen, gut ausgebildeten Fachkräften kamen hinzu. Die bemerkenswerte Innovationskraft der ukrainischen Streitkräfte erklärte sich nicht zuletzt daraus, dass Entscheidungen wesentlich dezentraler als bei den russischen Streitkräften getroffen werden. Zudem kamen die ukrainischen Streitkräfte seit 2014 rotierend an der Kontaktlinie im Osten des Landes zum Einsatz und verfügten damit auf allen Führungsebenen über Erfahrungen im Kampfeinsatz.

Ein weiterer wichtiger Faktor der ukrainischen Militärreform war der (Neu-)Aufbau der Nationalgarde. Sie untersteht dem Innenministerium für Antiterror- und Sicherungsaufgaben im Frieden und unterstützt und verstärkt die regulären Streitkräfte im Verteidigungsfall. Angehörige der Nationalgarde sind an wichtigen Brennpunkten des Krieges gegen Russland eingesetzt worden. Das herausragende Beispiel dürfte die zähe Verteidigung Mariupols durch die „Asow“-Brigade sein. Der schließlich verlorene Kampf um die Stadt band lange Zeit umfangreiche russische Kräfte und trug letztlich wesentlich zu den Abwehrerfolgen der Ukraine bei.

Insgesamt wuchsen die militärischen Kräfte der Ukraine angesichts der Bedrohung an der Ostflanke signifikant auf. Mit Blick auf die erfolgreiche Abwehr des versuchten russischen „Blitzkriegs“ im Frühjahr 2022 und einer findigen Gegenoffensive im Herbst 2023 lässt sich festhalten, dass die Reform von Armeen zu konventionell abschreckungs- und durchsetzungsfähigen Streitkräften auch unter schwierigen finanziellen, militärischen und politischen Rahmenbedingungen möglich ist. Dies setzt allerdings ein gesamtgesellschaftliches Interesse sowie die Bereitschaft voraus, in diesen Streitkräften aktiv zu sein beziehungsweise diese zu unterstützen. Gesellschaft und Armee benötigen eine innere Verbindung und gemeinsame „erkämpfte“ Traditionen. Angesichts des hohen Operationstempos, der individuellen Einsatzdauer und hoher Verlustzahlen zeigt sich, dass, zumindest auf der ukrainischen Seite, Moral und die Überzeugung, für etwas zu kämpfen, das über die individuelle Lebensgestaltung hinausgeht, unmittelbare Faktoren des Krieges sind. Darin liegt keine neue Erkenntnis; da aber die westlichen Streitkräfte in den letzten drei Dekaden oftmals weitab der eigenen Landesgrenzen operiert haben, muss dieser Aspekt zu den Lehren aus dem Krieg in der Ukraine gerechnet werden.

 

Resilienzfähigkeit von Streitkräften und Gesellschaft

Durch die Rückkehr des Krieges werden westliche Gesellschaften zur Durchsetzung politischer Ziele auf globaler Ebene wieder gezwungen, ihre Bedrohungslagen in Konzepte zur gesamtgesellschaftlichen Abwehr münden zu lassen. Aufgrund der geografischen Nähe wird es für die finnische und schwedische Gesellschaft, aber auch für die baltischen Gesellschaften leichter sein, Einsicht in die Notwendigkeit erheblicher Verteidigungsanstrengungen, die auch persönliche Einschränkungen und Opfer erfordern, zu wecken, als es in anderen Ländern – etwa in Deutschland – der Fall ist. Unabhängig davon dürfte klar sein, dass aufgrund einer Vielzahl von Faktoren die Bereitschaft, Verluste auszuhalten, in westlichen Demokratien geringer ausgeprägt ist.

Bei der Analyse des russischen Vorgehens zeigt sich, dass auf zynische Weise zwischen Hochwertleben und „Wegwerfsoldaten“ unterschieden wird. Eine Armee, die diese Differenzierung vornimmt, kann nur in einem undemokratischen System bestehen. Umso mehr müssen sich westliche Staaten auf militärische Gegner einstellen, die ihre technologische und taktisch-operative Unterlegenheit mit dem Masseneinsatz von Menschen und „Lowtech“ kompensieren. Insofern ist rüstungstechnologische Überlegenheit kein Garant für Überlegenheit auf dem Gefechtsfeld. Waffensysteme und Kämpfer können durch den „verschwenderischen“ (weil als entbehrlich betrachteten) Masseneinsatz von Personal und Material saturiert werden. Darauf müssen im Westen Antworten gefunden werden, die den demokratischen Wertvorstellungen Rechnung tragen. Demokratien verfügen aufgrund ihrer offenen Gesellschaften zwar über mehr „Schmerzpunkte“, allerdings sind sie – wie die historische Erfahrung zeigt – dafür wesentlich ausdauernder und leistungsstärker als Diktaturen. Gleichzeitig bleibt festzuhalten, dass trotz Schaffung einer leistungsfähigen ukrainischen Rüstungsindustrie nur massive westliche Rüstungslieferungen die Ukraine zur Aufrechterhaltung der Gegenwehr befähigt haben. Der Vorteil der Ukraine bestand darin, dass sie auf der inneren Linie (also mit kurzen Versorgungs- und Anmarschwegen) operieren konnte und es Russland nie gelang, die Lieferverbindungen zwischen dem Westen und der Ukraine so einzuschränken oder zu bedrohen, dass die überlebenswichtige Versorgung mit Gütern eingestellt werden musste.

 

Handlungssicherheit im Umgang mit Waffensystemen

Die materiellen Verluste beider Seiten zeigen, mit welchen potenziellen Verlustzahlen in konventionellen Kriegen auch im 21. Jahrhundert generell zu rechnen ist. Auch die Tatsache, dass der Abwehrkampf auf Rüstungslieferungen aus nahezu allen westlichen Staaten basiert, legt die Erkenntnis nahe, dass zumindest kein westliches europäisches Land über eine nationale Rüstungsindustrie verfügt, die seine Streitkräfte über einen nennenswerten Zeitraum versorgen und ausstatten könnte.

„Masse“ muss daher vor allem für die europäische Rüstungsindustrie gelten. Nur wenn sie ausreichend leistungs- und widerstandsfähig ist, haben die Europäer eine Chance, wirkungsvoll abzuschrecken und im zu vermeidenden Ernstfall „den längeren Atem“ zu behalten. Vollausstattung bedeutet in Konsequenz weit mehr als das, was in europäischen Kasernen und Depots „jetzt“ verfügbar ist.

National gilt es jetzt, ohne Scheuklappen die Beschaffungsprozesse genau zu untersuchen und anzupassen. In Deutschland wird vom Grundsatz her ein neuer Kampfpanzer genauso gerüstet wie eine Kleinstdrohne. Aufgrund der langen und zu komplexen Rüstungsprozesse gelingt es daher kaum, aktuelle Erfahrungswerte und Trends in das Beschaffungswesen zu integrieren.

Es ist zudem wichtig, dass die jeweiligen Plattformen auf die aktuellen Bedrohungen eingestellt sind, und vor allem, dass die Besatzungen ihr Handwerk aus dem Effeff beherrschen. Was nutzen technologische Hochwertressourcen, wenn durch Mangel an Übungstätigkeit und Disziplin sowie fehlenden Willen in der Ausbildung, an und über Belastungsgrenzen zu gehen, diese zum Teil nur in geringen Stückzahlen verfügbaren Geräte verloren gehen?

 

Veränderte Operationsführung durch Drohneneinsatz

Der Krieg in der Ukraine hat auch gezeigt, dass nur ein ausgewogener Mix der Teilstreitkräfte die im Krieg notwendige operative Flexibilität ermöglicht. Die hohen Verluste der russischen Luftstreitkräfte (und auch der ukrainischen) haben sie für den unmittelbaren Fronteinsatz fast neutralisiert. Daraus erklärt sich, dass die unmittelbare Feuerunterstützung in so massiver Weise durch die russische Artillerie geleistet wird. Immer geht es darum, die Stärken des Gegners zu neutralisieren. So sind die ukrainischen Landstreitkräfte zwar mittlerweile mit modernerem Material ausgerüstet und den russischen Streitkräften taktisch und operativ überlegen; dennoch gelingt es ihnen nicht, die Überlegenheit der russischen Streitkräfte in Bezug auf den elektronischen Kampf und die Luftverteidigung zu brechen. Das schränkt die ukrainische Operationsführung massiv ein.

So fahrzeugstark die russischen Streitkräfte auch sind, so schwach erweisen sich ihre Infanteriekräfte. Mechanisierte Angriffe entfalten deshalb kaum Angriffsschwung, auf den ersten Blick furchteinflößende mechanisierte Verbände werden immer wieder durch schwächere ukrainische Kräfte vernichtet. Unbestritten spielen dabei die enorm verbesserten Panzerabwehrraketentechnologien, eine bisher nicht feststellbare Transparenz des Gefechtsfeldes und eklatante Einsatzmängel auf russischer Seite eine Rolle. Militärische Systeme nutzen wenig, wenn ihr Hauptzweck (das Aufreißen und Durchstoßen der gegnerischen Verteidigung unter Panzerschutz) von vornherein dadurch kaum zu realisieren ist, dass ein entscheidendes Mittel – in diesem Fall entsprechend zahlreiche und ausgebildete Infanteriekräfte – nicht oder nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung steht.

Der massive Einsatz von Drohnen hat die Operationsführung nachhaltig verändert. Ihr Einsatz in verschiedensten Klassen – vom Bayraktar bis zur „Wegwerfdrohne“, teilweise zu Drohnenschwärmen zusammengefasst – verbessert nicht nur die Aufklärung, sondern erhöht auch die Bedrohung für jeden einzelnen Soldaten. Raumgreifende Verlegungen von Großverbänden sind unter diesen neuen Rahmenbedingungen kaum noch möglich. Auch hier zeigt sich die Anpassungsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte: Nicht nur, dass Drohnenkampfzüge auf Verbandsebene eingeführt wurden, auch bei der Beschaffung von Drohnen wurde auf marktverfügbares Potenzial als Mengenverbrauchsgut zurückgegriffen.

 

Zentrale Lehren

Für die Bundeswehr sollte eine „Taskforce Drohne“ ministeriell angewiesen werden, um diese Erfahrungen aus dem Ukraine-Krieg für die Bundeswehr nutzbar zu machen. In Deutschland blockieren sich Führungskommandos gegenseitig, und eine aus der Zeit gefallene Beschaffungsorganisation verhindert jegliche Flexibilität. Dadurch kann die Bundeswehr auf diese neuen Formen der der Bedrohung und Gefechtsführung bisher nicht angemessen reagieren. Weder die Befähigung zum „Drohnenkampf“ noch wirksame Gegenmaßnahmen, beispielsweise im elektronischen Kampf, sind in der Bundeswehr ausreichend vorhanden. Die Analyse offenbart, dass die russische Armee lernfähig ist.

Die operativen Fehler des initialen Vorstoßes im Angriffskrieg gegen die Ukraine sind mittlerweile kaum mehr sichtbar. Die durch den Frontverlauf einfachere Führung von Verbänden, die Überlegenheit in der Feuerunterstützung durch Steilfeuer und fliegende Verbände sowie durch den Einsatz von Drohnen zeigen, dass die russischen Streitkräfte ein gefährlicher Gegner bleiben. Gerade das Unterschätzen gegnerischer Potenziale und Handlungsoptionen führt fast immer in eine Niederlage. Eine Fokussierung auf die vermeintliche technologische Überlegenheit westlicher Waffensysteme unterstützt ein gefährliches Narrativ, nämlich dass eine geringe Stückzahl überlegener Waffensysteme ausreicht, um russische Verbände zu bezwingen. Dieser Fokus auf einen schnellen und medial wirksamen militärischen Erfolg der Ukraine gegen die Russische Föderation offenbart eine wesentliche strategische Schwierigkeit: Während die Russische Föderation auf den Faktor Zeit setzt, ist die Ukraine dazu gedrängt, eine schnelle Entscheidung auf dem Schlachtfeld zu suchen.

Die Bildung nationaler Reserven auch älterer militärischer Hardware ist ein zentrales Element einer effektiven Verteidigungs- und Abschreckungsplanung. Insbesondere die Fokussierung auf teure, aber wenige Kampfflugzeuge und Panzer verhindert eine Umsetzung dieser wesentlichen Lektionen des Ukraine-Kriegs. Goldrandlösungen in den Beschaffungen sind eine direkte Gefahr für einen Verteidigungskrieg, der mehrere Jahre dauern kann. Das Ziel sollte eine Planung mit ausreichenden Mitteln sein und nicht nur der aktuelle minimalistische Ansatz.

Die Antwort auf die Frage „Klasse statt Masse?“ lautet: weder noch. Natürlich ist es wichtig, die technologischen Möglichkeiten im Blick zu haben und den Streitkräften modernes, einsatztaugliches Gerät zur Verfügung zu stellen. Aber genauso gilt nach wie vor, dass das modernste Waffensystem wenig wert ist ohne gut ausgebildete und motivierte Soldaten. Sie werden auch mit dem System, das nur das zweitbeste ist, einen Gegner besiegen, solange sie nur von der Notwendigkeit ihres Auftrags überzeugt sind und die Gewissheit haben, dass Kameraden, Vorgesetzte und Landsleute alles tun, um mit ihnen gemeinsam den Sieg zu erringen.

 

Frank Fischer, geboren 1974 in Jena, Referent Arbeitsgruppe Europa, CDU/CSU-Bundestagsfraktion.