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Öffentliche Meinung und die Ethik des Journalismus

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„Öffentliche Meinung“ ist ein Begriff, den jeder verwendet, aber fast niemand versteht. Die Geistesgeschichte ist gepflastert mit gescheiterten Versuchen, zu beschreiben, was „öffentliche Meinung“ eigentlich bedeutet. Der Journalismusforscher W. Phillips Davison stellte Ende der 1960er-Jahre in einem Lexikon fest, dass es keine allgemein gültige Definition für den Begriff gebe, er aber dennoch immer häufiger verwendet werde. Wenige Jahre zuvor hatte der Politikwissenschaftler Harwood L. Childs ein Buch mit dem Titel Public Opinion: Nature, Formation and Role veröffentlicht, das zwar fünfzig Definitionen enthielt, nach deren Lektüre man aber nicht wesentlich schlauer ist. Elisabeth Noelle-Neumann, Pionierin der Meinungsforschung in Deutschland, schwor sich noch als Studentin in den 1930er-Jahren, sie wolle nie mehr mit diesem Begriff etwas zu tun haben, an dem sie sich bei der Arbeit für ihre Doktorarbeit die Zähne ausgebissen hatte. Jahrzehnte später klagte Emil Dovifat, Mitbegründer der deutschen Publizistikwissenschaft, das Wort sei einfach nicht totzuschlagen.

Wenn man ein Wort nicht versteht, es aber „einfach nicht totzuschlagen“ ist, bedeutet das, dass es höchstwahrscheinlich etwas Wichtiges bezeichnet, was sich nicht durch einen anderen Begriff fassen lässt. Es ist unstrittig, dass die öffentliche Meinung große Macht in sich birgt. Doch woher sie rührt und wie sie sich entfaltet, bleibt oft im Unklaren. Man kann vermuten, dass die Hilflosigkeit im Umgang mit dem Stichwort zum Teil auch dem Umstand geschuldet ist, dass oft versucht wird, öffentliche Meinung zu verstehen, ohne dabei die Rolle der Massenmedien zu berücksichtigen. Doch das ist vermutlich unmöglich. Das Wechselspiel zwischen der öffentlichen Meinung und dem Journalismus bildet einen wesentlichen Kern der gesellschaftspolitischen Entwicklung in einer Demokratie.

Seit es Massenmedien gibt, haben Regierungen versucht, die Medien unter Kontrolle zu bringen, weil sie annehmen mussten, dass diese wesentlichen Einfluss auf die Entstehung der öffentlichen Meinung haben, die wiederum die Grundlage, die Legitimation ihrer Macht bildete. Doch der Journalismus besitzt nicht nur einen Einfluss auf die öffentliche Meinung; er wird auch umgekehrt von ihr beeinflusst. Es ist eine zentrale Aufgabe von Journalisten, das Zeitklima zu erfassen und für ihr Publikum aufzubereiten. Damit sind sie ihm aber auch bis zu einem gewissen Grade ausgesetzt, was ihre Perspektive unvermeidlich lenkt. Das Bewusstsein dieser Wechselbeziehung, des Einflusses der Journalisten auf die öffentliche Meinung bei gleichzeitiger Begrenztheit durch sie, steht am Anfang der wissenschaftlichen Betrachtung der gesellschaftlichen Rolle des Journalismus.

 

„Bilder in unseren Köpfen“

 

Die wichtigste Pionierarbeit zu diesem Thema stammt von dem amerikanischen Journalisten Walter Lippmann, der bereits 1922 in seinem Buch Public Opinion die Mechanismen der Meinungsbildung und des Einflusses der Massenmedien auf sie beschrieb. Die Bürger, so Lippmann, hätten nur wenige Möglichkeiten, sich aus erster Hand Informationen über das Zeitgeschehen zu beschaffen, und seien damit auf die Berichterstattung der Medien angewiesen. Diese wiederum seien gezwungen, das Material, das ihnen zur Verfügung steht, meist nach bereits vorher existierenden Vorstellungsmustern zu selektieren („Gatekeeper“) und zu vereinfachen. Die Bürger übernähmen dann die von den Medien vermittelten stereotypen Darstellungen, vereinfachten sie noch einmal und vermischten sie mit eigenen Voreinstellungen. Die Vorstellungen von den Ereignissen, die sich auf diese Weise bildeten (Lippmann sprach von den „Bildern in unseren Köpfen“) hätten dann oft nicht mehr viel mit der Wirklichkeit gemeinsam.

Die in den Jahren danach einsetzende Geschichte der Medienwirkungsforschung ist wechselvoll und von vielen Rückschlägen gekennzeichnet, denn es zeigte sich, dass es gar nicht so einfach war, das eigentlich Offensichtliche, den erheblichen Einfluss der Massenmedien auf die Meinungsbildung, nachzuweisen. Erst ab den 1970er-Jahren bekamen die Wissenschaftler das Thema etwas besser in den Griff und konnten nach und nach Strukturen der Wirkung der Massenmedien auf die Bevölkerungsmeinung freilegen. Sie ist nach allem, was sich erkennen lässt, zwar oft indirekt, aber durchaus beträchtlich.

Nun ändern sich die Medienlandschaft und mit ihr der Medienkonsum bekanntlich laufend, weshalb die Erkenntnisse der Medienwirkungsforschung auch ständig überprüft und weiterentwickelt werden müssen. Vieles ließe sich an dieser Stelle sagen über die Fragmentierung des Publikums durch die Vervielfachung der Informationsquellen im Internet, die Bildung von Informationsblasen in den sozialen Medien und die wachsende Bedeutung von Laienjournalisten, um nur ein paar Stichworte zur aktuellen Entwicklung zu nennen; doch dass der Journalismus bei der Meinungsbildung nach wie vor eine wesentliche Rolle spielt, ist (zumindest außerhalb mancher Redaktionen) mittlerweile unbestritten.

 

Rationaler Diskurs oder wertgeladene Meinungen

 

Die Vorstellung, welche konkrete Rolle den Journalisten im Meinungsbildungsprozess zukommt, ist abhängig von den Vorstellungen, die mit dem Begriff öffentliche Meinung verbunden werden. Und hier lassen sich trotz der eingangs beschriebenen Schwierigkeiten, den Begriff zu fassen, zwei verschiedene Grundmuster des Verständnisses identifizieren: Da ist einmal die auf den Idealen der Aufklärung aufbauende Vorstellung von der öffentlichen Meinung als Ergebnis eines rationalen Diskurses verantwortungsvoller Bürger, die in offener Debatte nach Lösungen für die Gemeinschaft suchen. Die öffentliche Meinung wird hier als Quelle der Legitimität politischer Entscheidungen und als Korrektiv zur Regierung verstanden. Diese Vorstellung ist heute mit dem Namen Jürgen Habermas verbunden, dessen Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit das prominenteste und wohl auch ausführlichste Werk ist, dem diese Sichtweise von öffentlicher Meinung zugrunde liegt. Die Wurzeln des Denkansatzes reichen jedoch mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurück.

Nach der zweiten Sichtweise ist öffentliche Meinung nicht das Ergebnis eines rationalen Diskurses, sondern enthält eine starke emotionale, ja moralische Komponente. Die bekannteste Vertreterin dieses Ansatzes war Elisabeth Noelle-Neumann, die öffentliche Meinung als „wertgeladene Meinungen oder Verhaltensweisen, die man öffentlich zeigen kann, ohne sich zu isolieren“, definierte. Dahinter steht der Gedanke, dass die meisten Menschen Isolation fürchten. Deswegen beobachten sie aufmerksam ihre Umwelt und registrieren aus dem Verhalten ihrer Mitmenschen, welche Meinungen oder Verhaltensweisen auf Zustimmung stoßen oder zumindest geduldet werden und mit welchen Meinungen man sich isoliert. Wer feststellt, dass er mit seiner Meinung auf Ablehnung stößt, wird sich, so die Theorie, mit öffentlichen Äußerungen zurückhalten; wer sich dagegen bestätigt fühlt, wird sich frei und ohne Furcht äußern. Die öffentliche Meinung ist damit diejenige Position, die allgemein gesellschaftlich akzeptiert wird. Sie ist damit auch ein Instrument der sozialen Kontrolle, die auf den Einzelnen Druck ausübt, sich ihr anzupassen; ein Vorgang, der sich im Alltag oft beobachten lässt. Wenn heute Menschen über mangelnde Meinungsfreiheit in Deutschland klagen, meinen sie damit in aller Regel nicht die Gesetzeslage, sondern den Druck der öffentlichen Meinung, die sie mit Isolation bedroht.

 

Distanz oder Einfluss

 

Ganz gleich, welches Verständnis von öffentlicher Meinung man zugrunde legt, in jedem Fall spielen die Massenmedien eine Schlüsselrolle: Bei der öffentlichen Meinung – verstanden als kritisch-rationales Korrektiv der Regierung – übernehmen sie die Rolle der agora, also des Marktplatzes. Sie dienen als Mittler zwischen den Bürgern und dem Staat, eine Funktion, die in dem Begriff „Medien“ anklingt.

Bei der Bildung der öffentlichen Meinung im sozialpsychologischen Sinne sind die Medien neben der persönlichen Kommunikation die wichtigste Quelle, aus der der Einzelne erfährt, was in der Gesellschaft geduldet wird und was nicht. Da die aus den Medien gewonnenen Eindrücke vor allem bei Fragen der „großen“ Politik nur in Ausnahmefällen durch persönliche Beobachtungen korrigiert werden können, bestimmen die Medien den Grundton des Zeitklimas wesentlich mit.

Aus der Tatsache, dass die Medien bei der Entstehung der öffentlichen Meinung eine zentrale Rolle spielen, leitet sich eine erhebliche gesellschaftliche Verantwortung der Journalisten ab, die über die in der Öffentlichkeit gelegentlich thematisierte Wächterfunktion der Medien gegenüber der Regierung weit hinausgeht. Diese Verantwortung wiederum legt eine öffentliche, vor allem aber auch eine medieninterne Diskussion um das journalistische Selbstverständnis und die Berufsethik von Journalisten nahe.

So stellt sich beispielsweise die Frage, ob die Trennlinie zwischen der professionellen Aufgabe, über die Zeitverläufe Bericht zu erstatten, auf der einen Seite und dem Recht des Staatsbürgers, sich privat für politische Ziele einzusetzen, auf der anderen Seite in der journalistischen Praxis scharf genug gezogen wird. In verschiedenen demokratischen Ländern gibt es in dieser Frage unterschiedliche Gepflogenheiten: So haben vergleichende Journalistenbefragungen wiederholt gezeigt, dass in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien viele Journalisten eher das Selbstbild des distanzierten Berichterstatters haben, das sich mit dem der BBC zugeschriebenen Prinzip zusammenfassen lässt, wonach sich ein guter Journalist mit keiner Sache gemein machen dürfe, auch keiner guten. Deutsche Journalisten sehen dagegen öfter ihre Aufgabe darin, sich aktiv für von ihnen als richtig angesehene Ziele einzusetzen.

 

Stichwort „Lügenpresse“

 

Eine weitere Frage ist, welche Konsequenzen aus der bereits von Lippmann beschriebenen Begrenztheit der eigenen Wahrnehmung zu ziehen sind, der Journalisten nicht weniger unterliegen als die übrige Bevölkerung. Wenn, wie in der kognitiven Psychologie vielfach belegt, Menschen dazu neigen, vor allem solche Informationen aufzunehmen, die sich gut in ihre über die Jahre hinweg entstandenen eigenen Interpretationsmuster, die frames, einfügen, während der Voreinstellung widersprechende Informationen schlechter wahrgenommen, eingeordnet und abgespeichert werden können, ließe sich daraus die auch in der Journalistenausbildung zu berücksichtigende Regel ableiten, dass eine Information, die dazu geeignet ist, die Reputation einer Person oder Institution zu beschädigen, vor der Veröffentlichung um so intensiver auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden müsste, je mehr sie dem Journalisten unmittelbar einleuchtet. So mancher „Skandal“ und manche schwere Ehrverletzung wären den betroffenen Personen und dem Publikum bei einem solchen verantwortlichen Vorgehen im Journalismus erspart geblieben. Man denke nur an die Affäre um Christian Wulff.

Diskussionen über die journalistische Verantwortung finden bisher kaum statt. Sie werden von journalistischer Seite meist mit dem Verweis auf die Pressefreiheit und die Tatsache, dass von niemandem absolute Objektivität verlangt werden könne, verweigert. Doch es ginge bei einer solchen Diskussion nicht um Pressefreiheit, und es ginge auch nicht um absolute Objektivität – wohl aber um ein Bemühen um Objektivität. Es geht um eine von der Profession selbst zu entwickelnde berufsständische Ethik, die die potenziellen Folgen des eigenen Handelns nicht leugnet, die sich daraus ergebende Verantwortung akzeptiert und daraus die Konsequenzen zieht, so, wie dies für die Angehörigen anderer mit großer Verantwortung verbundener Berufe – man denke nur an Ärzte, Staatsbedienstete oder Ingenieure – selbstverständlich ist. Führt die Profession diese Debatte nicht selbst und tut sie es nicht ernsthaft, wird sie ihr entgleiten und gänzlich von denen übernommen werden, die mit dem Stichwort „Lügenpresse“ den Journalismus als Ganzes zu diskreditieren versuchen.

 

Thomas Petersen, geboren 1968 in Hamburg, Kommunikationswissenschaftler und Meinungsforscher, Projektleiter beim Institut für Demoskopie Allensbach (IfD).