Wieder einmal ist in der transatlantischen Sicherheitspolitik von einem Wendepunkt die Rede. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland und die von Moskau geförderte Gewalt in der Ostukraine rücken die NATO wieder in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Begriffe wie Verteidigung und Abschreckung kehren in den sicherheitspolitischen Grundwortschatz zurück, in dem bislang meist von Krisenmanagement, Partnerschaft oder Staatsaufbau (Nation Building) die Rede war. Ist das Atlantische Bündnis auf diese neue Lage vorbereitet und verfügt es über die notwendigen Mittel, um seiner Rolle als Sicherheitsgarant gerade für die osteuropäischen Mitglieder gerecht zu werden? Muss sich die NATO Gedanken über ihre künftige Rolle in der internationalen Sicherheitsarchitektur machen?
Äußerten zu Beginn der Ukraine-Krise gerade in Deutschland noch einige Talkshow-Veteranen Verständnis für Präsident Putins Argumentationsmuster, so wird mittlerweile mit Schrecken wahrgenommen, dass auch im Europa des 21. Jahrhunderts noch Grenzen mit Gewalt verändert werden. Moskau positioniert sich darüber hinaus als anti-westliche Macht, die ihre imperialen Träume gegen die NATO und die Europäische Union (EU) durchzusetzen bereit ist. Damit wird offensichtlich, dass es sich bei der derzeitigen Krise nicht um ein durchziehendes Schlechtwettergebiet, sondern um einen fundamentalen Klimawandel im Verhältnis zu Russland handelt. Kein Wunder, dass es in Polen oder im Baltikum Befürchtungen über ein mögliches militärisches Vorgehen Russlands gegen NATO-Mitglieder gibt.
„Game-Changer” Russland
Die Allianz reagierte erstaunlich geschlossen auf die neue Lage und stellte Bündnisverteidigung wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Auf dem Gipfeltreffen von Wales im September 2014 einigten sich deshalb die NATO-Staats- und Regierungschefs unter der Überschrift „Readiness Action Plan“ auf einen abgewogenen Katalog militärischer Maßnahmen, um die Verteidigungsfähigkeit zu stärken und den NATO-Mitgliedstaaten in Osteuropa das Gefühl der Bündnissolidarität zu vermitteln. Eine neue schnelle Eingreiftruppe soll innerhalb weniger Tage mobilisiert werden können, falls es zu einer Krise an Außengrenzen der NATO kommen sollte. Darüber hinaus sollen Marinepatrouillen in der Ostsee, Überwachungsflüge im Baltikum, Truppenstationierungen im Ostteil der NATO oder häufigere Militärmanöver die Sicherheit des Bündnisgebietes garantieren. Dass Deutschland sich an diesen Maßnahmen in erheblichem Umfang beteiligen wird, bedeutet nicht nur eine neue Herausforderung für die Bundeswehr. Langfristig wird sich auch die Frage stellen, ob das aktuelle Verteidigungsbudget ausreicht, um den künftigen Anforderungen gerecht zu werden.
Vier Aspekte sind bei der Reaktion der NATO auf den Expansionsdrang Russlands bedeutsam: Erstens wurden die Entscheidungen in großer Einigkeit getroffen – wahrlich keine Selbstverständlichkeit in einem Bündnis, in dem die Sicherheitsinteressen der Mitgliedsländer je nach Geografie oder Geschichte erheblich variieren. Während etwa Italien oder Spanien eher auf die südlichen Krisenherde blicken, betonen Polen oder Estland heute, dass ihre Warnungen vor Russland in der Vergangenheit nicht ernst genommen wurden. Zweitens handelt es sich bei den Gipfelentscheidungen um Rahmenbeschlüsse, die in der Folgezeit noch ausgefeilt werden müssen. Dabei können sie je nach Vorgehen Moskaus verschärft oder abgemildert werden. Drittens sind der Schutz vor Russland und eine mögliche Zusammenarbeit mit Russland kein Gegensatz. Gesprächsfäden bleiben erhalten, und eine Kooperation, etwa mit Blick auf die nuklearen Aktivitäten des Iran, ist weiterhin möglich. Viertens schließlich beziehen sich die beschlossenen Maßnahmen allein auf die Sicherung des NATO-Bündnisgebietes – an eine militärische Verteidigung der Ukraine ist nicht gedacht. Darum kann man auch nur mit Kopfschütteln reagieren, wenn Russland die NATO allen Ernstes als Bedrohung für seine Sicherheit darstellt. Dass diese Position von den Rechtsextremisten in Frankreich und Teilen der Linken in Deutschland geteilt wird, macht sie nicht richtiger.
Die Vorgänge im Osten und Süden der Ukraine dürfen aber nicht dazu führen, dass sich das Bündnis wieder als eine allein auf Osteuropa ausgerichtete Verteidigungsallianz versteht. Stattdessen muss die NATO ihren globalen Blickwinkel behalten und sich der ganzen Breite sicherheitspolitischer Gefährdungen widmen. Das ist allerdings heute leichter gesagt als getan, weil die Unwägbarkeiten drastisch zunehmen und das Instrumentarium der NATO nur noch teilweise den anstehenden Problemen entspricht.
Ein Beispiel hierfür sind die aktuellen Entwicklungen in der islamischen Welt – in der NATO-Terminologie MENA (Middle East and Northern Africa) genannt. Dort hat die NATO über viele Jahre mit rund einem Dutzend Staaten kooperiert, half bei der Ausbildung von Streitkräften und erläuterte die Rolle von Militär in demokratischen Gesellschaften. Diese Form der Partnerschaft wurde als Instrument präventiver Sicherheitspolitik gepriesen, durch das die NATO eine Stimme in der konfliktgeladenen Region gewann. Was sich derzeit in MENA abspielt, sind aber weniger Regierungskrisen oder Revolutionen, die irgendwann zu neuen Regierungen oder neuen Ordnungen führen. Stattdessen deuten der Zerfall des Irak, der Niedergang Libyens, die Zersplitterung Syriens, die Dauerkrise in Ägypten oder die Ausrufung grenzüberschreitender Kalifate auf eine nachhaltige Erosion von Staatlichkeit hin. Zerfallen aber Staaten und Regierungen, so verschwinden damit die Ansprechpartner, mit denen die NATO erfolgreich kooperieren kann. Kooperative oder präventive Sicherheit ist dadurch kaum noch möglich.
Interventionsmüde Öffentlichkeit
Ein weiteres Instrument aus dem sicherheitspolitischen Werkzeugkasten der NATO – das Krisenmanagement durch militärische Intervention – wird gleich von drei Faktoren bedroht. Erstens hat sowohl der NATO-Einsatz in Libyen als auch der jahrelange Kampf in Afghanistan gezeigt, dass auch ein durchaus erfolgreicher Militäreinsatz zur Beseitigung terroristischer Regime oder zum Schutz der Zivilbevölkerung nicht automatisch politische Stabilität nach sich zieht. Stattdessen öffnet man Pandoras Büchse und bereitet das Feld für rivalisierende Clans oder Interessengruppen, welche ganze Regionen ins Chaos stürzen können. Das führt zweitens zu der in allen NATO-Staaten zu beobachtenden Interventions-Müdigkeit. Selbst angesichts drastischer Menschenrechtsverletzungen, wie etwa durch das Assad-Regime in Syrien oder durch selbst ernannte Gotteskrieger, sind NATO-Regierungen und deren Öffentlichkeiten nicht mehr bereit, Soldaten in Krisenregionen zu schicken. Bestenfalls Waffenlieferungen oder Bombardements aus der Luft sind politisch durchsetzbar. Drittens werden Interventionen aus ganz praktischen Gründen kaum noch möglich sein, weil die rechtliche Grundlage nicht mehr gegeben sein wird. Konsens besteht weitgehend darüber, dass die NATO, wenn überhaupt, nur mit einem Mandat der Vereinten Nationen militärisches Krisenmanagement betreiben sollte – was wiederum Einigkeit unter den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates voraussetzt. Angesichts der Krise mit Russland wird es die Zustimmung Moskaus zu einer solchen NATO-Aktion kaum noch geben.
Konsequenzen für NATO-Europa
Eine weitere weltpolitische Entwicklung, welche das Portfolio und die Mechanismen der NATO langfristig beeinflussen wird, sind die Veränderungen im asiatisch-pazifischen Raum. Die 2012 erfolgte Ankündigung der Obama-Administration, sich künftig stärker den Problemen in dieser Region zuzuwenden, hat weitreichende Folgen für die euro-atlantischen Sicherheitsbeziehungen. Es zeigt sich erneut, dass Europa von der sicherheitspolitischen Stabilität des asiatisch-pazifischen Raums profitiert (durch die Meerenge von Malakka verlaufen vierzig Prozent des globalen Warenverkehrs), dass aber nur die USA die militärischen und politischen Kapazitäten haben, als Ordnungsmacht in der Region auftreten zu können. Da auch der amerikanische Verteidigungshaushalt erheblich zusammengestrichen wird, stellt sich die Frage nach einer fairen Lastenteilung mit aller Schärfe.
Die NATO hat eine Debatte darüber bislang sorgsam vermieden, kann sie aber angesichts der Ukraine-Krise nicht länger unter dem Tisch halten. Europa erwartet von den Vereinigten Staaten als stärkstem Bündnispartner glaubwürdige Sicherheitsversprechen zum Schutz vor Russlands imperialen Träumen. Dazu werden die USA nur bereit sein, wenn NATO-Europa nicht nur wirtschaftlich weltweit agiert, sondern auch sicherheitspolitisch international mehr Verantwortung übernimmt. Fehlen Europa die Mittel für eine weitreichende Machtprojektion, etwa nach Asien, so muss es sich stärker seinen Nachbarregionen widmen, um damit amerikanische Kapazitäten für geografisch entfernter liegende Regionen frei zu machen. Geschieht das nicht, gefährdet man beides: sowohl die Sicherheit in Europa als auch die Stabilität in Asien und anderswo.
Nicht nur die Russland-Krise erfordert grundlegende Anpassungen der NATO an die neue Gefährdungslage in Europa. Auch die Entwicklungen im Mittleren Osten oder im asiatisch-pazifischen Raum stellen die Frage nach dem künftigen Aufgabenspektrum der NATO neu. Zwar wurden erste Schritte auf dem NATO-Gipfel in Wales getan, die Neuausrichtung der Allianz wird aber längere Zeit in Anspruch nehmen. Das gilt umso mehr, als derzeit weder die Ziele Moskaus noch die Entwicklungen in Asien, im Mittleren Osten oder in Nordafrika annähernd abzuschätzen sind. Der NATO stehen wieder einmal erhebliche Veränderungen ins Haus.
Karl-Heinz Kamp, geboren 1957 in Bonn, Direktor für Weiterentwicklung an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Berlin.
Der Autor gibt in dem Beitrag seine persönliche Meinung wieder.