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Plädoyer für einen ehrlicheren Umgang mit Bürgerbeteiligung

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„Bürgerbeteiligung“ und „Partizipation“ gehören zu den schillerndsten politischen Begriffen der Gegenwart. Mitmachen, sich engagieren, Initiative zeigen werden gemeinhin als demokratische Tugenden verstanden. Oft werden ihr zwei Aspekte zugesprochen: Einerseits diene Beteiligung der Selbstverwirklichung und dem „Empowerment“ der Bürger, andererseits sei sie ein Beitrag des Einzelnen zum Gemeinwohl. Auffällig ist, dass das Thema eine eigene Dynamik entwickelt, die sich in Deutschland vor allem um Protestkultur dreht und damit eine Verengung darstellt.

Im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Massenprotesten taucht oftmals auch ein überaus wirkmächtiges Narrativ auf: Sie werden als Ausdruck von Unzufriedenheit mit dem politischen System interpretiert. Dieses Narrativ kommt aus dem Kreis der Protestaktivisten, aber auch aus Politik und Medien. Die Forderung nach mehr Bürgerbeteiligung erscheint in diesem Zusammenhang als vermeintlich geeignetes Mittel zur Steigerung der politischen Zufriedenheit der Bürger und der Legitimität und Stabilität des Staates.

Dass Beteiligung und politische Zufriedenheit zusammenhängen können, ist unstrittig. Allerdings wird oftmals vergessen, dass sich politische Zufriedenheit aus vielen Quellen speist, zu denen neben Partizipation auch die persönliche Lebenssituation gehört. Man kann den behaupteten Zusammenhang von Partizipation und politischer Unzufriedenheit sogar umkehren: Es gibt ebenso Belege dafür, dass Aktivisten besonders positiv gegenüber dem politischen System eingestellt sind. Partizipation ist dann eher als Ausdruck politischer Zufriedenheit zu verstehen und passt nicht zu einer Zerfallserzählung.

An dieser Stelle muss nicht entschieden werden, welche Sichtweise richtig ist. Festzuhalten ist jedoch: Der Zusammenhang des Rufs nach mehr Bürgerbeteiligung und politischer Zufriedenheit steht auf wackeligen Füßen. Und er wird auch nicht plausibler, wenn man bedenkt, dass zwischen der in Umfragen oft bekannten positiven normativen Haltung zur Beteiligung und dem tatsächlichen Engagement ein tiefer Graben klafft.1 All das hindert die Verfechter dieser These freilich nicht an weitreichenden Schlussfolgerungen.

 

„Die da oben – die da unten“

 

Die narrative Verbindung der Forderung nach mehr Partizipation und politischer Unzufriedenheit verfestigt eine auffällig dualistische Sichtweise auf unser politisches System: Die Bürger und die Politiker beziehungsweise die etablierten Institutionen werden als Gegensatz verstanden. Ist es aus dieser Perspektive nicht geradezu eine demokratische Pflicht, beide „Welten“ miteinander zu verbinden? Es ist dann oft davon die Rede, dass Brücken zwischen den politisch interessierten Bürgern und dem institutionalisierten Politikbetrieb gefunden beziehungsweise neu errichtet werden müssten. Was sollte daran schon falsch sein? Immerhin gibt es unzählige Publikationen mit Vorschlägen, wie diese Brücken aussehen könnten, es gibt eine intensive Forschung dazu sowie Institutionen und lebendige Vereine, die sich mit dem Thema beschäftigen. Und in der Praxis wird dieser Ansatz immerhin schon lange umgesetzt: Erinnert sei nur an die Bürgerdialoge der Bundesregierung, die Beteiligungsverfahren beim Stromnetzausbau 2011 oder die Einrichtung eines „Bürgerrats“ zur Rolle Deutschlands in der Welt durch den Deutschen Bundestag.

Wenn man all dies zur Kenntnis nimmt, drängt sich die Frage auf, warum sich diese „Brücken“ bisher kaum auf die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland auswirken. Umfragen zur politischen Zufriedenheit in Deutschland weisen alles in allem über Jahre stabile Werte auf. Sie sind somit kein Beleg für den Zusammenhang von Partizipationsforderung und politischer Zufriedenheit oder für die „Brücken-Theorie“.

Gewiss, deren Verfechter könnten jetzt behaupten, die „Brücken“ reichten noch nicht aus oder seien nicht tragfähig genug, um das politische Wohlbefinden der Deutschen zu steigern. Dieses Argument ist zwar nicht falsch, aber dennoch wenig hilfreich. Letztlich wird damit nur verdeckt, dass man den liebgewonnenen und im Alltagswissen gut verankerten Dualismus von „die da oben“ und „die da unten“ nicht aufgeben möchte. Ohne ihn wäre die zu findende Brücke zwischen beiden schließlich sinnlos. Er ist der Grundstein für das Narrativ einer aus unzulänglichen Partizipationsmöglichkeiten resultierenden politischen Unzufriedenheit. Die Erzählung wirkt erst durch diesen simplifizierenden Dualismus, gepaart mit dem Reiz des „Es könnte ja sein“, plausibel. Gravierender ist jedoch, dass die Rede von der Brücke, die die Sphäre der Politik mit den politisch engagierten Bürgern verbinden soll, das Wesen der Bürgerbeteiligung verkennt und – so die hier vertretene These – das Miteinander von Bürgerbeteiligung und institutionell verfasster Politik am Ende sogar eher belastet als fördert.

 

Protest und Parlament

 

Die Absage eines produktiven Miteinanders mag auf den ersten Blick provokant erscheinen, ist bei genauerer Betrachtung jedoch der jeweils eigenen Logik beider Sphären geschuldet und keineswegs einseitig als Negierung der Bürgerbeteiligung oder „der“ Politik zu verstehen. Beide Logiken sind gewissermaßen im Recht. Erst wenn man das anerkennt, entfalten sie zusammengenommen eine gemeinwohlfördernde Wirkung. Dies lässt sich am Verhältnis von Parlament und Protestaktionen zur Gesellschaft verdeutlichen. Dreh- und Angelpunkt ist dabei eine Entwicklung, die laut dem Soziologen Andreas Reckwitz auf eine „Gesellschaft der Singularitäten“ hinausläuft.2

Reckwitz meint damit einen gesellschaftlichen Strukturwandel, „der darin besteht, dass die soziale Lage des Allgemeinen ihre Vorherrschaft verliert an die soziale Lage des Besonderen“.3 Die soziale, ökonomische und kulturelle Heterogenisierung der Gesellschaft führe dazu, dass Individuen und Kollektive eine eigene Welt mit eigener Identität kultivierten. Die Folge sei eine Krise des Allgemeinen. Der Staat in seiner bürokratischen Ausprägung mit verallgemeinerbaren Standards, formale Organisationen, die Massenkultur, aber auch Volksparteien, die sich an die Allgemeinheit richten, gerieten demzufolge in die Defensive.4

Protestaktionen, im Grunde die Forderung nach mehr Partizipation selbst, sind als Ausdruck dieser gesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen. Es geht darum, ein „Zeichen zu setzen“ gegen eine von der Regierung bestimmte allgemeine Politik des Staates, die Regierung zur „Umkehr“ zu bewegen oder die Allgemeinheit für ein Anliegen „wachzurütteln“. Bei Protestaktionen versucht eine mehr oder minder große Gruppe, ihrem Anliegen Gehör zu verschaffen. Das Anliegen ist für diese Gruppe identitätsformend – und zwar so selbstverständlich, dass sie an seine Allgemeingültigkeit glaubt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Das ist keineswegs pauschal abwertend gemeint. Eigene Positionen, Interessen und Ziele im demokratischen Willensbildungsprozess einzubringen, ist legitim und sogar notwendig, um das Gemeinwesen voranzubringen. Es kommt in diesem Zusammenhang jedoch auf die Feststellung an, dass die „Funktion“ von Protesten im Besonderen und Bürgerbeteiligung im Allgemeinen eben nicht in erster Linie in der Herstellung allgemein verbindlicher Regelungen besteht, sondern in einer partiellen und temporären Gemeinschaftserfahrung von Individuen und Gruppen, die sich darin selbst verwirklichen. Und dieser Zweck ist nicht gering zu werten, sondern übrigens auch Ausdruck eines christdemokratischen Menschenbildes, das von einer Entfaltung des Individuums in der Gemeinschaft ausgeht.

Die Logik des Protests wird also getragen von einer interessengeleiteten Gemeinschaftserfahrung. Der Gemeinwohlanspruch ist dabei identitätsstiftend und muss als Ausdruck eines „singularisierten“ Gruppenverständnisses nicht zwingend der Realität entsprechen. Genau darin besteht der Unterschied zum Parlament, das der Logik der Verantwortung für die Allgemeinheit verpflichtet ist. Diese Verantwortung wird dem Parlament jedoch oft abgesprochen und damit zur Quelle für den Ruf nach mehr Bürgerbeteiligung. Ins Feld geführt werden häufig die These von der Repräsentationslücke des Parlaments oder der Vorwurf eines gemeinwohlgefährdenden Lobbyismus, der in abgewandelter Form auch der Skandalisierung von Parteien dient, die nur um des bloßen Machterhalts willen den egoistischen Interessen ihrer „Klientel“ Geltung verschaffen würden.

 

„Gesellschaft der Singularitäten“

 

Abgesehen davon, dass sich hinter solchen Vorwürfen oft die Vorstellung einer Identität von Repräsentanten und Repräsentierten verbirgt, von der sich die Forschung, die eher von einer fließenden Interaktionsbeziehung ausgeht, schon seit Längerem verabschiedet hat,5 unterstellt die Logik des Parlaments ja keineswegs einen Altruismus seiner einzelnen Akteure. Ganz im Gegenteil: Der Streit der Parteien auf einer transparenten Bühne um die richtige Politik für alle, verbunden mit dem Ziel, diese Politik auch umsetzen zu wollen – also Macht auszuüben –, und der latenten „Drohung“ einer regelmäßig wiederkehrenden Wahl macht das Parlament erst insgesamt zu einer „Gemeinwohlmaschine“. Diese mag sichtlich nicht immer fehlerfrei und im langfristigen Denken manchmal limitiert sein, aber selbst das ist ein legitimer Ausdruck des Willens der Allgemeinheit und nicht von Willkür.

Die Herausforderung besteht darin, dass diese Parlamentslogik in der „Gesellschaft der Singularitäten“ nicht mehr greift. Für den Einzelnen oder „singularisierte“ Gruppen wird es immer schwerer, sich selbst im Parlament repräsentiert zu sehen. Und das nicht, weil das Parlament einen tatsächlichen „Repräsentationsdefekt“ hätte, sondern weil die Logik des Allgemeinwohls nicht zur Logik von Individuen und Gruppen passt, die für ihre „singularisierten“ Haltungen und Interessen Gleichrangigkeit mit denen der Allgemeinheit einfordern. Und die mit einem nach dem parlamentarischen Streit gefundenen Konsens nichts anfangen können, weil er nicht exakt ihren absoluten Vorstellungen entspricht.

 

Mehr gegenseitiger Respekt erforderlich

 

Damit schließt sich der Kreis: Werden Brücken zwischen „singularisierten“ Protesten oder sonstigen Bürgerbeteiligungsaktionen und dem Parlament gefordert, muss man sich klarmachen, dass damit das Verhältnis von Einzel- und Gemeinwohlinteressen neu justiert wird – und zwar zulasten der Allgemeinheit. Für viele „Brücken-Theoretiker“ besteht die Lösung dieses ja nicht neuen Problems darin, den Beteiligungssektor gewissermaßen der (Parlaments-)Logik der Verantwortung zu unterwerfen. Damit wird allerdings der Eigenwert der Bürgerbeteiligung infrage gestellt: die Selbstverwirklichung durch die Artikulierung eigener legitimer Interessen und Positionen in einer sich genau zu diesem Zweck formierenden Gruppe. Warum aber sollte ein engagierter Bürger diesen „Brückenzoll“ zum Parlament entrichten – vor allem, wenn er darauf spekuliert, dass seine „singularisierten“ Interessen noch vom Parlament aufgegriffen werden, sofern nur der Protest laut genug ist? Hierin liegt wohl der Grund, warum die Entwicklung und Erprobung immer neuer Beteiligungsverfahren bisher eben nicht die hochfliegenden Hoffnungen erfüllen konnten: Sobald der Staat diese Verfahren formalisiert und der Verantwortungslogik unterwirft, verlieren sie an Interesse.

Selbstverständlich wäre es wünschenswert, dass Bürgerbeteiligung das Gemeinwohl im Sinn hätte – und viele Akteure haben es auch –, aber es ist im Grunde nicht legitim, dieses voraussetzungsfrei einzufordern. Die Anerkennung beider Logiken – des Eigenwertes der partizipativen Selbstverwirklichung, die eben auch egoistisch sein kann, und der Logik der Verantwortung für die Allgemeinheit – ist letztlich Ausdruck von Respekt. Es kann nicht darum gehen, die eine Sphäre in die andere hinüberzuziehen. Mediatoren, die bei Großprojekten um einen Konsens zwischen Bürgerinitiativen und Vorhabenträger ringen, kennen das Problem beispielsweise unter dem Vorwurf der Scheinbeteiligung, die nur dazu dienen soll, nachträglich Legitimität für bereits feststehende Vorhaben herzustellen.

Bürgerbeteiligung hat als individualistische Ausdrucksform einen Eigenwert. Anstatt von ihr Verantwortung für die Allgemeinheit und nicht erfüllbare Ansprüche einzufordern, sollte diese Logik anerkannt werden. Das allein schon würde zu einem ehrlicheren Umgang von politisch engagierten Bürgern und „Berufspolitikern“ führen – und damit letztlich dem Allgemeinwohl dienen. Gegenseitiger Respekt ist die einzige Brücke, die trägt. Nur so lässt sich politische Unzufriedenheit wirklich vermeiden.

 

Tobias Montag, geboren 1981 in Erfurt, Referent der Abteilung Demokratie, Recht und Parteien, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

1 Vgl.  Markus  Steinbrecher:  Politische  Partizipation  in  Deutschland,  Studien  zur  Wahl und Einstellungsforschung,  Nr. 11,  Nomos,  Baden-Baden  2009,  S. 287–290.

2 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Suhrkamp, Berlin 2017, und ders.: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Suhrkamp, Berlin 2019.

3 Siehe Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Suhrkamp, Berlin 2017, S. 11 (Hervorhebung wie im Original).

4 Ebd., S. 10. Ähnlich auch Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss, Murmann, Hamburg 2015.

5 Vgl. Markus Linden / Winfried Thaa: „Die Krise der Repräsentation – gibt es Auswege?“, in: dies. (Hrsg.): Krise und Reform politischer Repräsentation, Nomos, Baden-Baden 2011, S. 307–308.