Die gegenwärtigen Kulturkämpfe, die um Gendersprache, Minderheitenrechte und das postkoloniale Erbe geführt werden, haben eine auffallend starke körperliche Komponente. Denn ob es nun darum geht, Geschlechtergrenzen zu definieren, rassistische Denkweisen zu entlarven oder die Herrschaft der alten weißen Männer zu brechen, der Bezugspunkt ist sehr oft ein körperlicher. Bei der Geschlechterfrage liegt das auf der Hand: Gibt es überhaupt eine biologische Grundlage für das Geschlecht, oder sind die Geschlechter nicht vor allem gesellschaftlich konstruiert? Doch auch bei der Frage des Rassismus spielen die physischen Merkmale der als solche nicht mehr bezeichneten „Rasse“ eine wesentliche Rolle. Und die als Gegner auserkorenen „alten weißen Männer“ definieren sich geradezu körperlich – ihr Alter und ihre Hautfarbe machen sie zur Zielgruppe der identitätspolitischen Aktivisten. Was normalerweise als Altersdiskriminierung und Rassismus (Beurteilung eines Menschen nach Hautfarbe) angeprangert würde, scheint bei diesem Feindbild allerdings hinnehmbar, ja geradezu geboten zu sein.
Wenn man nun danach fragt, was sich hinter der von Aktivisten üblicherweise aufgestellten Behauptung, man sei sexistisch, rassistisch, transfeindlich oder Ähnliches, verbirgt, so ist es natürlich zunächst der Vorwurf, man würde die entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen diskriminieren: Man werte Frauen, Einwanderer und Transpersonen ab und erkenne sie nicht als seinesgleichen an. Doch dieser Vorwurf gründet wiederum auf der Annahme, dass bereits die Festlegung des Anderen auf jene Eigenschaft, aufgrund derer er angeblich diskriminiert wird, ein Unrecht darstellt. Nehme ich mein Gegenüber als Frau wahr, habe ich ihm etwas als wesensmäßig zugeschrieben, das ihn in seinen Möglichkeiten einengt. Der politisch Korrekte spricht dann auch davon, jemand werde „als Frau gelesen“, um damit zum Ausdruck zu bringen, dass diese Zuschreibung aufseiten des Betrachters geschieht, aber nichts oder nur wenig mit dem Betrachteten zu tun hat.
Daraus ergibt sich eine paradoxe Situation. Man will alles Mögliche als bloße gesellschaftliche Konstruktion entlarven: Es gibt kein natürliches Geschlecht, keine natürlichen Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen oder sonst etwas, das einen Menschen von Natur aus auf bestimmte Eigenschaften festlegt. Alles ist Ergebnis von Definitionsmacht, und die bisher bestehende hat Herrschaftsverhältnisse geschaffen, die bestimmte gesellschaftliche Kollektive massiv benachteiligen. Andererseits zeigt der körperliche Bezugspunkt bei den meisten der als unterdrückt wahrgenommenen Kollektive, dass man sich gerade an dem festmacht, was doch gar keine natürliche Grundlage haben soll. Denn wie soll man Frauenrechte vertreten, wenn es gar keine Frauen gibt? Wie gegen Rassismus antreten, wenn die ethnischen Unterschiede bloße Zuschreibungen sind? Die körperlichen Merkmale wie Geschlecht und Hautfarbe sind der Ansatzpunkt für den identitätspolitischen Kampf; zugleich soll dieser Ansatzpunkt aber negiert und überwunden werden. Das bereitet logische Schwierigkeiten.
Ich-Orientierung und Machtbarkeitsglaube
Diese Schwierigkeiten verschärfen sich dadurch, dass man die Identität der Betroffenen an die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe bindet; daher der Name „Identitätspolitik“. Muss man aber seine Identität nicht verlieren, wenn das, was die Zuordnung zur Gruppe begründet, als bloße Konstruktion entlarvt wurde? Büßt man seine Identität nicht vollends ein, wenn man die Gesellschaft dazu gebracht hat, solche Festlegungen, wie sie in der Zuschreibung „Frau“ oder „Zuwanderer“ liegen, zu unterlassen? Die Vorstellung ist wohl, dass man dann seine Identität gänzlich selbstbestimmt festlegt, je nach aktueller Verfasstheit, Vorliebe und Interessenlage. Doch abgesehen von der Weltfremdheit einer solchen Vorstellung offenbaren sich in ihr auch zwei sehr problematische Grundhaltungen: eine alles dominierende Ich-Orientierung und ein offenbar grenzenloser Machtbarkeitsglaube.
Zu meinen, man allein sei Herr über sein So-Sein oder solle es zumindest sein, unterstellt, dass der Mensch eine Monade ist und das Zusammenleben mit anderen ihn nicht fördert, sondern eher behindert. Denn nach dieser Sicht sind es die anderen, die mich in meinen Möglichkeiten beschränken, wenn sie zum Beispiel behaupten, ich sei ein dunkelhäutiger Mann und müsse mich entsprechend verhalten. Tatsächlich braucht der Mensch aber die anderen, um überhaupt Mensch zu werden. Nur im Zusammenleben kann der Mensch ein Ich-Bewusstsein entwickeln, nur in der Gemeinschaft findet er überhaupt erst zur Sprache, die sich beim isoliert Lebenden gar nicht herausbildet. Insofern war die antik-christliche Vorstellung, dass der Mensch von Natur aus ein gemeinschaftsbildendes Wesen ist, wesentlich plausibler als die liberale Annahme, zunächst stehe der Mensch für sich allein und tue sich nur der Not gehorchend mit seinesgleichen zusammen, weil er sonst nicht überlebensfähig ist. Die Fixierung auf das Ich, die im anderen nur ein Hemmnis bei der Selbstverwirklichung wahrnimmt, verkennt das eigene Wesen.
Um dieses geht es aber, wenn man sich den zweiten Aspekt, den Machbarkeitsglauben, ansieht. Dass es ein Wesen des Menschen gibt, dass er ein Kompositum aus Leib und Seele ist, über das er nicht unbeschränkt verfügen kann, dieser Gedanke liegt den gegenwärtigen Aktivisten völlig fern. Ganz im Gegenteil wird als biologistisch oder gleich faschistisch gebrandmarkt, wer von einer menschlichen Natur spricht. Das zeigt sich besonders deutlich bei der Geschlechterfrage. Dazu nur ein Beispiel: Eine Berliner Doktorandin, die in einem Vortrag die wenig revolutionäre These vertreten wollte, dass es genetisch nur zwei Geschlechter gibt, wurde im Vorfeld des Vortrags derartig bedrängt und gemobbt, dass die Universität die Veranstaltung absagte. Sie distanzierte sich sogar öffentlich von ihrer eigenen Mitarbeiterin, weil diese Werte vertrete, die nicht die der Hochschule seien. Natur wird also geleugnet oder als nicht relevant betrachtet; man soll selbst Herr seiner Geschlechtszuordnung sein und sie je nach subjektiver Befindlichkeit ändern können. Diese Ideologie liegt auch dem neuen Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung zugrunde, das 2023 auf den Weg gebracht werden soll.
Grenzen des Schöpfertums
Kann der Mensch jedoch tatsächlich frei über das entscheiden und bestimmen, was ihm ohne sein eigenes Zutun mitgegeben wurde? Ist die Natur an ihm und in ihm ihrerseits etwas, das nur durch kulturelle Deutungsmuster zustande kam und insofern beliebig auszuwechseln ist? Merkwürdigerweise wird auch von denen, die alles nur für gesellschaftlich bedingte Interpretation halten, die äußere Natur als etwas betrachtet, das unabhängig vom Menschen besteht und als solches ernst zu nehmen ist. Die Natur muss verstanden und geachtet werden, weil man sie sonst zerstört. Ihr wird also eine Eigengesetzlichkeit zugestanden, die der Mensch zu respektieren hat. Respektiert er sie nicht, entzieht er sich selbst die Lebensgrundlage. Diese – nachvollziehbaren – Gedanken werden auf den Menschen aber nicht angewandt. Dass auch er eine Naturseite hat, dass auch in ihm Gesetze walten könnten, die nur unter Strafe der Selbstzerstörung missachtet werden, scheint in dem beschriebenen Weltbild nicht vorzukommen. Hinzu kommt ein weiteres: In dem Glauben, der Mensch könne sich sozusagen selbst erschaffen und sein Schöpfertum finde keine Grenzen, wird eben jener Machbarkeitswahn sichtbar, den man mit Vorliebe der Gegenseite vorwirft. Denn natürlich ist die Identitätspolitik, die alles auf gesellschaftliche Konstruktionen zurückführen will, im Wesentlichen ein linkes Projekt, das die frühere Klassentheorie abgelöst hat. Der Kampf hat sich vom Sozialen auf das Kulturelle verlagert, aber die antikapitalistische Grundhaltung hat sich erhalten. So ergeht auch regelmäßig der Vorwurf an den Kapitalismus beziehungsweise seine Verwertungslogik, er unterwerfe alles seinen Imperativen und nehme keine Rücksicht auf die Natur. Unberechtigt ist dieser Vorwurf sicher nicht, schließlich verdanken wir die Naturzerstörung nicht zuletzt unserer überaus effizienten Wirtschaft. Allerdings speist sich diese aus unser aller Gier, ein Faktor, der bei der Abrechnung mit dem Kapitalismus gerne unterschlagen wird. Doch abgesehen davon – warum man den Menschen in Bezug auf sich selbst zu grenzenlosem Zugriff ermutigt und diese Haltung bei der restlichen Natur verurteilt, erschließt sich dem Betrachter nicht. Dieser kann jedoch über die Konsequenzen erschrecken. Denn in der Logik der freien Verfügung über alles, was mit dem eigenen Körper zu tun hat, liegen außer der Festlegung des eigenen Geschlechts noch diverse andere Ermächtigungen mit beträchtlichen Folgewirkungen. So hat das Bundesverfassungsgericht ein Recht auf Selbsttötung konstatiert. Wie sich dies mit dem unzweifelhaften Recht auf Selbsterhaltung vereinbaren lässt, wurde gar nicht thematisiert. Abtreibung wird im Sinne einer freien Verfügung der Frau über den eigenen Körper diskutiert, als habe das Kind, um das es geht, nicht einen eigenen und eine Seele noch dazu. Beim Kinderwunsch wiederum werden immer mehr Verfahren angewandt, die zur Schwangerschaft führen können: Samenspende, Eizellenspende und auch die hierzulande noch verbotene Leihmutterschaft, die trotzdem manchmal in Anspruch genommen wird. Was das für ein auf diese Weise zustande gekommenes Kind bedeuten mag, wie es mit seiner nach mechanischen Gesichtspunkten konstruierten Herkunft zurechtkommen soll, die es kaum mehr auf ihm bekannte Menschen zurückführen kann, scheint überhaupt kein Thema zu sein.
Spielball des politischen Durchsetzungswillens
Bei all diesen Selbstermächtigungen des Menschen, die noch durch Selbstoptimierungsstrategien in Bezug auf körperliche Schönheit oder geistige Leistungsfähigkeit ergänzt werden, bleibt eines außer Acht: nämlich die seelische Dimension des Körpers. Es scheint ein Spezifikum des Menschen zu sein, dass Körper und Seele sich bei ihm in untrennbarer Einheit befinden. Körperliche Befindlichkeiten wirken sich auch auf die Seele aus und umgekehrt; die Physis ist an den Geist gebunden. Wer Veränderungen am Körper vornimmt, muss also immer gewärtig sein, dass dies ebenfalls Auswirkungen auf seine seelische Konstitution haben könnte. Bei Geschlechtsumwandlungen, die zu erleichtern gegenwärtig besonders im Fokus steht, ist das zweifellos in erheblichem Maß der Fall. Eben weil der Mensch nicht beliebig formbar ist, muss er sehr bedachtsam sein mit Eingriffen, die zu tiefen Veränderungen seines Lebens führen werden.
Wenn der Körper als Kampfplatz verwendet wird, liegt darin ein Missbrauch, denn er ist mehr, als seine physische Erscheinung vorgibt. Seine geistige Dimension beschränkt sich aber auch nicht auf bloße Deutungen, die subjektivem Belieben unterlägen. In beidem, in der Leugnung der natürlichen Grundlagen der menschlichen Existenz und in der Reduktion der seelischen Dimension auf subjektive Bedürfnisse, liegt ein Machtwille, der sich zunächst auf das eigene Sein zu beschränken scheint, aber eine ganz klare politische Dimension hat. Denn wenn es keine Wesenseigenschaften des Menschen gibt, die zu achten wären, kann er problemlos zum Spielball politischen Durchsetzungswillens werden. In den totalitären Systemen haben wir erlebt, was es heißt, den „neuen Menschen“ zu schaffen, den Menschen also vollständig politischem Wollen auszuliefern. Eine Wiederholung ist unnötig; wir haben verstanden.
Barbara Zehnpfennig, geboren 1956 in Köln, emeritierte Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Passau.