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Zur Personalnot in der Wirtschaft

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Der Personalmangel ist in den letzten Jahren zu einem ernsten Hemmnis für die industrielle Produktion geworden. Dies belegen unter anderem mehrere Konjunkturumfragen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Ende 2021 – während der Corona-Pandemie – konstatierten 25 Prozent der Industrieunternehmen mittlere und sechzehn Prozent sogar starke Produktionseinschränkungen durch fehlende Arbeitskräfte (Bardt/Grömling 2022). Ende 2022 lagen die Werte mit 41 beziehungsweise 25 Prozent noch einmal deutlich höher. Zwei Drittel der Industrieunternehmen waren mehr als nur geringfügig betroffen (Bardt/Grömling 2023). Noch dramatischer sah es beispielsweise in der Bauwirtschaft oder der Logistik aus. Selbst im von Energiepreisschocks geprägten Krisenjahr 2022 war wie bereits im Vorjahr die Personalknappheit für den größten Engpass in der Produktion verantwortlich – und Aussicht auf Besserung besteht derzeit nicht. Der Fachkräftemangel zählt damit inzwischen zu den größten Produktions- und Wachstumshemmnissen der Unternehmen in Deutschland. Die Zahl der offenen Stellen für qualifizierte Fachkräfte ist in den letzten zehn Jahren stark gestiegen. Ausnahmen davon waren lediglich das Jahr 2012 als Folge der Wirtschafts- und Finanzkrise sowie die durch die Corona-Pandemie geprägten Jahre 2020 und 2021 (Tiedemann/Malin 2023). 2022 hingegen gab es trotz des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, hoher Inflation, Lieferkettenproblemen und stark gestiegener Energiekosten im Jahresdurchschnitt einen Beschäftigungs- und Stellenzuwachs.

Im Jahresdurchschnitt 2022 waren mehr als 1,3 Millionen offene Stellen für qualifizierte Fachkräfte zu verzeichnen (siehe Abbildung). Gegenüber dem Vorjahresdurchschnitt bedeutet dies einen Anstieg um knapp 310.000 oder gut dreißig Prozent. Zu den qualifizierten Fachkräften gehören neben Fachkräften mit abgeschlossener Berufsausbildung auch Spezialisten mit Fortbildungs- oder Bachelorabschluss sowie Experten mit Hochschulabschluss. Ihnen standen insgesamt nur noch 968.000 qualifizierte Arbeitslose gegenüber. Schon bei dieser groben Betrachtung fehlen also rein rechnerisch 371.000 qualifizierte Fachkräfte (Burstedde/Werner 2023).

Angebot und Nachfrage fallen oftmals räumlich auseinander und setzen eine hohe Mobilitätsbereitschaft voraus. Zudem kann eine Softwareentwicklerin nicht als Bauingenieurin arbeiten oder ein Erzieher als Pflegefachkraft. Gleicht man die Qualifikationen, die in den offenen Stellen gefragt sind, mit denen der Arbeitslosen auf Ebene der 1.300 Berufsgattungen ab, was die IW-Fachkräftedatenbank ermöglicht, fehlten sogar 630.000 qualifizierte Arbeitskräfte. 2022 erreichte die Fachkräftelücke für qualifizierte Fachkräfte damit ein neues Rekordhoch.

Im Jahresdurchschnitt 2022 gab es hingegen nur 244.000 offene Stellen für Geringqualifizierte, auch wenn deren Anzahl im Vorjahresvergleich ebenfalls stark um knapp ein Viertel gestiegen ist (siehe Abbildung). Ihnen standen allerdings 1.278.000 geringqualifizierte Arbeitslose gegenüber. Es kommen also immer noch mehr als fünf Geringqualifizierte auf eine offene Stelle, die keine spezifische Qualifikation erfordert. Damit kann nicht von einem allgemeinen Arbeitskräftemangel gesprochen werden.

IW-Fachkräftedatenbank, Gestaltung: StanHema

Bei Helfertätigkeiten können Arbeitskräfte auch ohne Berufserfahrung verhältnismäßig einfach angelernt werden. Somit sind Rekrutierungsprobleme in diesem Bereich eher Ausdruck zu geringer Investitionsbereitschaft in neue Mitarbeiter, mangelnder Arbeitgeberattraktivität oder von zu geringer regionaler Mobilität der Arbeitskräfte. Am größten ist die Lücke bei Fachkräften mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung: Im Jahresdurchschnitt 2022 gab es rechnerisch für knapp 360.000 offene Stellen keine passend qualifizierten Arbeitslosen (Fachkräftelücke) bundesweit (Tiedemann/Malin 2023). Am intensivsten ist der Fachkräftemangel bei Experten mit abgeschlossenem Hochschulstudium. Dort konnten durchschnittlich sechs von zehn offenen Stellen rechnerisch nicht mit passend qualifizierten Personen besetzt werden (Stellenüberhangsquote). Auf allen Anforderungsniveaus erreichten 2022 sowohl die Fachkräftelücke als auch die Stellenüberhangsquote ein Rekordniveau seit 2010. Am schwersten ist die Besetzung offener Stellen derzeit im Berufsbereich „Ges- undheit, Soziales, Lehre und Erziehung“; dort konnten 2022 gut sechs von zehn offenen Stellen nicht mit passend qualifizierten Arbeitslosen besetzt werden. Zugleich fehlten in diesem Berufsbereich mit 160.000 Personen auch die meisten Fachkräfte.

Die aktuelle IW-Arbeitsmarktfortschreibung zeigt die mögliche Entwicklung von Beschäftigung und Fachkräftelücke in den kommenden fünf Jahren, falls sich die empirischen Trends der letzten sieben Jahre fortsetzen. Der Arbeitsmarkt kann sich unter dieser Annahme in den Jahren von 2022 bis 2026 mit einem jährlichen Beschäftigtenwachstum von etwa 540.000 Personen oder 1,6 Prozent weiter positiv entwickeln (Burstedde 2023). Ob es zu diesem Beschäftigungswachstum kommt, hängt jedoch wesentlich davon ab, ob sich die zuletzt sehr positive Entwicklung bei der Erwerbsbeteiligung tatsächlich weiter fortsetzen wird.

 

Alterung der Gesellschaft bremst Beschäftigungsaufbau

 

Es kommt dafür entscheidend darauf an, wie sich die Erwerbsbeteiligung von Menschen ab sechzig Jahren und von Frauen sowie die Zuwanderung gestalten werden. Denn durch die Alterung der geburtenstarken Babyboomer-Kohorten und deren Übergang in die Rente wird der Beschäftigungsaufbau deutlich gebremst. Dieser Kohorteneffekt beträgt bis 2026 durchschnittlich minus 292.000 Personen jährlich. Davon entfällt ein zunehmender Teil auf Westdeutschland, wo der demografische Wandel seit 2016 beständig an Fahrt aufnimmt, während in Ostdeutschland bereits 2018 ein Plateau erreicht wurde.

Die Partizipationsquote deutscher Frauen lag 2021 bei 78 Prozent – ein Wert, den deutsche Männer bereits zehn Jahre zuvor erreicht hatten. Auch hochqualifizierte Frauen arbeiten in Deutschland oft in Teilzeit oder auf Arbeitsplätzen, deren Anforderungen unterhalb ihrer Fähigkeiten liegen. Neben Fehlanreizen sind familiäre Verpflichtungen ein wichtiger Grund dafür. Laut IW-Arbeitsmarktfortschreibung wird für den Zeitraum 2021 bis 2026 der größte Beschäftigtenzuwachs bei Erziehern erwartet: 152.332 beziehungsweise 19,7 Prozent. Dies ist erfreulich, da der Beschäftigungszuwachs bei Erziehern eine zentrale Voraussetzung für die Erhöhung der Erwerbsquoten und Arbeitszeiten von Frauen ist.

Wenn sich die Zuwanderung so gestaltet wie in den vergangenen Jahren, kann durch sie der Renteneintritt der Babyboomer nicht kompensiert werden. In den nächsten fünf Jahren wird die Zuwanderung den Kohorteneffekt nur zu durchschnittlich siebzig Prozent ausgleichen können, wenn es bei einem Netto-Zuwanderungseffekt von 198.000 Personen bleibt.

Ostdeutschland hat – anders als Westdeutschland – noch wesentliche Wachstumspotenziale durch einen weiteren Abbau der Arbeitslosigkeit (38.000 Personen jährlich) und einen steigenden Pendlersaldo (13.000). In Westdeutschland sind diese Potenziale (31.000 und 1.700) im Vergleich zum 4,4-fach größeren Arbeitsmarkt hingegen vernachlässigbar. Die demografisch differenzierten Fortschreibungen im Rahmen der IW-Arbeitsmarktfortschreibung zeigen, dass Ostdeutschland den Westen beim Beschäftigungsaufbau einholen und beim Fachkräftemangel sogar überholen wird.

Mit Blick auf die Qualifikationen zeigt sich, dass der Anteil von Fachkräften mit Berufsausbildung an den Beschäftigten insgesamt voraussichtlich weiter sinken wird. Dies sollte allerdings nicht mit einem sinkenden Bedarf verwechselt werden, denn der Mangel an Fachkräften mit abgeschlossener Ausbildung wird weiter steigen. Insbesondere in Ostdeutschland wird sich dieses Problem deutlich verschärfen. Geringqualifizierte sind hingegen grundsätzlich in ausreichender Zahl vorhanden, um die zu erwartende Arbeitsnachfrage zu decken. Besetzungsprobleme auf diesem Gebiet sind vorwiegend auf Passungsprobleme zwischen Berufen und Regionen, etwa durch eine geringe regionale Mobilität, zurückzuführen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es in Branchen oder Regionen nicht zu einer Knappheit an formal Geringqualifizierten kommen kann, die Unternehmen teilweise heute schon spüren.

 

Negative Trends umkehren, Potenziale erschließen

 

Wenn der Fachkräftemangel zurückgehen soll, müssen zahlreiche Gegenmaßnahmen simultan und sich ergänzend ergriffen sowie in einem größeren Umfang als bisher umgesetzt werden. Ein Maßnahmenbündel ist aufgrund seiner positiven Wechselwirkungen dabei vorzuziehen. Viele der nachfolgend beschriebenen Handlungsoptionen können an den bereits ausgeführten Effekten ansetzen, die zu erwarten wären, wenn sich die Trends der vergangenen Jahre fortsetzen. Es kommt also darauf an, vorhandene positive Trends bei der Beschäftigung zu beschleunigen oder negative umzukehren und zudem zusätzliche Potenziale zu erschließen. Fachkräftesicherung ist eine prioritäre Aufgabe der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik, wie die im Oktober 2022 verabschiedete Fachkräftestrategie der Bundesregierung konstatiert. Dazu ist es notwendig, dass alle Akteure an einem Strang ziehen. Ausgewählte geeignete Maßnahmen von Politik und Unternehmen sind:

- Arbeitsbedingungen weiter flexibilisieren und Attraktivität erhöhen – etwa durch Jobsharing – sowie Arbeitszeit und -ort noch stärker an die Bedürfnisse von Eltern und Älteren anpassen, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erhöhen,
- Arbeitsanreize im Steuer- und Transfersystem erhöhen, besonders für Teilzeitbeschäftigte und Ältere; dabei könnte durch geeignete Anreize die Frühverrentung minimiert und das Arbeitsvolumen, etwa durch eine 42-Stunden-Woche mit weniger Urlaubs- und Feiertagen nach dem Schweizer Vorbild, erhöht werden,
- verpflichtende Erwerbsaustrittregeln abschaffen, stattdessen Erwerbsaustrittskorridore einführen,
- in betriebliches Gesundheitsmanagement investieren,
- Kinderbetreuung und zuverlässige Pflegeversorgung ausweiten, insbesondere durch mehr Betreuungsplätze, längere Betreuungszeiten sowie Randzeitenbetreuung,
- mehr Ausbildungskapazitäten in den öffentlich regulierten Engpassberufen schaffen und dadurch mehr Erzieher und Pfleger ausbilden sowie mehr Sozialarbeiter und Lehrer erfolgreich an Hochschulen qualifizieren,
- die Berufsorientierung weiter intensivieren und stärker auf Engpassberufe fokussieren,
- Weiterbildungskultur fortentwickeln und Qualifizierung im Lebensverlauf verbessern, etwa durch einen deutlichen Ausbau von Teilqualifikationen,
- Entlastung qualifizierter Fachkräfte von einfachen Tätigkeiten durch Helfer, ã flexiblere Löhne vereinbaren, die sich in beide Richtungen an Knappheiten ausrichten und damit bei größerer Veränderungsnotwendigkeit in der Transformation mehr Flexibilität bieten und die individuelle Veränderungsbereitschaft fördern,
- die regionale Mobilität von Auszubildenden, Beschäftigten und Arbeitslosen stärker fördern, etwa durch einen deutlichen Ausbau von Angeboten zum Azubi-Wohnen oder mehr Mobilitätszuschüsse,
- Bürokratie abbauen und die Digitalisierung der Verwaltung beschleunigen, um Potenziale für Wachstum und Transformation zu steigern und den Arbeitskräftebedarf zu senken,

- Potenziale der Automatisierung intensiver nutzen, um den Arbeitskräftebedarf zu reduzieren,
- Zuwanderung einfacher zugänglich machen und unbürokratischer gestalten und dafür das neue Zuwanderungsrecht mit den drei definierten Fachkraft-, Erfahrungs- und Potenzialsäulen nutzen, wozu es umfassender Anstrengungen im In- und Ausland sowie von Institutionen bedarf, die Brücken bauen, wofür eine Öffnung der Zeitarbeit hilfreich wäre.

 

Sibylle Stippler, geboren 1980 in Bonn, DiplomKauffrau (FH) und Communications Master of Science (M. Sc.), Leiterin des Clusters Berufliche Qualifizierung und Fachkräfte, Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Köln.

Dirk Werner, geboren 1968 in Wuppertal, Volkswirt und Wirtschaftspädagoge, Leiter des Clusters Berufliche Qualifizierung und Fachkräfte, Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Köln.

Hubertus Bardt, geboren 1974 in Bonn, Geschäftsführer und Leiter Wissenschaft, Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Köln, seit 2022 Honorarprofessor am Düsseldorf Institute for Competition Economics, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

 

Literatur

Bardt, Hubertus / Grömling, Michael: „Anhaltende Produktionslücken durch Vorleistungsengpässe“, in: Wirtschaftsdienst, 102. Jg., Heft 2/2022, S. 123–126.

Bardt, Hubertus / Grömling, Michael, 2023, Befunde der IW-Konjunkturumfrage. Energiekosten verschärfen Produktionsstörungen, IW-Report, Nr. 9/2023, Köln.

Burstedde, Alexander / Werner, Dirk: Fachkräftemangel – keine einfache Lösung durch höhere Löhne, IW-Kurzbericht Nr. 23/2023, Köln.

Burstedde, Alexander: Die IW-Arbeitsmarktfortschreibung. Wo stehen Beschäftigung und Fachkräftemangel in den 1.300 Berufsgattungen in fünf Jahren? Methodenbericht, IW-Report, Nr. 8/2023, Köln.

Tiedemann, Jurek / Malin, Lydia: Jahresrückblick 2022. Fachkräftesituation angespannter denn je, KOFA kompakt Nr. 3/2023, Köln.

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