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Hin zum "digitalen" Europa

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Unsere digitale Gegenwart ist von Tech-Giganten geprägt, die ihren Sitz weit entfernt von Europa haben. Kalifornien navigiert uns auf der Straße, liefert bequem unsere Produkte, gestaltet unsere Freizeit und vernetzt uns mit und in jeder Ecke der Welt. Die USA sind zweifellos das größte Zentrum der Innovation. Laut Einschätzung von The Economist investieren die Vereinigten Staaten von Amerika jährlich 450 Milliarden Dollar in Forschung und Entwicklung – zwanzig Prozent mehr als China und mehr als Europa, Japan und Südkorea zusammen. Kein Wunder, dass die Politik hierzulande zugeben musste, dass Europa die erste Halbzeit verloren hat.

Die digitale Zukunft kann durchaus auch in anderen Teilen der Welt entschieden werden. Die Herrschaftsansprüche Chinas sind allgegenwärtig. Massive Subventionen beim Einkauf von Hochtechnologie als Teil einer globalen Industriepolitik und eine rasante Geschwindigkeit in der Umsetzung digitaler Vorhaben kennzeichnen das chinesische Modell. Während man sich in Deutschland die Frage stellt, ob die Landwirte tatsächlich die 5G-Technik brauchen, wird die Jangtse-Delta-Region bereits in diesem Jahr zu den ersten Wirtschaftsräumen gehören, die auf vorkommerzielle 5G-Dienste zugreifen. Der Aufstieg des chinesischen Unternehmens Huawei zum weltweit größten Anbieter von Telekommunikationsausrüstung gibt China einen enormen Schub gegenüber den USA und der Europäischen Union (EU) im Wettlauf um die Einführung der nächsten Generation der Mobilkommunikation.

Wie sieht es mit der zweiten Halbzeit aus? Immerhin sind beispielsweise Deutschland und Europa führend beim Einsatz von Industrierobotern. Die Digitalisierung des Maschinenbaus eröffnet darüber hinaus weitere Wachstumschancen. Im internationalen Wettbewerb kann die entscheidende Größe jedoch nur Europa heißen. Kein europäisches Land bringt im internationalen Vergleich der Titanen allein die Ressourcen auf, um ein relevanter Mitbewerber um Schlüsseltechnologien wie Künstliche Intelligenz (KI) zu sein. Ebenso ist kein EU-Land in der Lage, allein das notwendige Niveau in der Forschung zu gewährleisten, um überhaupt ansatzweise eine Herausforderung für die USA darzustellen.

Daten als Wettbewerbsfaktor

Die vollständige Verwirklichung der vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes (freier Waren-, Personen-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr) ist ein Erfolg des langen Atems. Dank der Rechtsprechung der europäischen Gerichte und der sukzessiven Fortentwicklung der europäischen Verträge genießen alle Bürger der EU die Vorteile eines gemeinsamen Wirtschaftsraums. Dreißig Jahre nach der Gründung des EU-Binnenmarktes und zwanzig Jahre nach den Anfängen der Liberalisierung im Telekommunikationsmarkt ist das „digitale Europa“ dagegen ein noch unvollendetes Konzept. Das, was man in der old economy mühsam erreicht hat, nämlich die Beseitigung ungerechtfertigter Hemmnisse für die grenzüberschreitende Dienstleistungserbringung, sollte in der new economy eigentlich viel einfacher gelingen. Letztendlich kennen Daten keine Grenzen – es sei denn, man findet immer wieder neue Interpretationslinien, um die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im digitalen Kontext zu betonen. Mal ist es die kulturelle Vielfalt, mal die Investitionssicherheit der beteiligten Unternehmen, die durch zu viel Harmonisierung angeblich gefährdet sei. Wieder andere rechtfertigen eine stärkere Kompetenz der nationalen Behörden gegenüber der EU-Kommission durch die unterschiedlichen geografischen Bedingungen oder die „besonderen Gegebenheiten“ der nationalen Telekommunikationsmärkte. Im Ergebnis leidet die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten EU in der globalisierten Welt.

Während im Kontext des Datenschutzes seit Mai 2018 in der EU einheitliche Standards für personenbezogene Daten gelten, fällt der Bereich der nicht-personenbezogenen Daten oder Verwaltungsdaten überwiegend in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Selbst bei den Daten, die keinen Personenbezug aufweisen, ist man in Deutschland zurzeit nicht bereit, einen Schritt in Richtung des Aufbaus einer „Datenökonomie“ zu gehen, in dem der gesellschaftliche Mehrwert und die eigene Wettbewerbsfähigkeit Vorrang vor der Silo-Denkweise der verschlossenen Daten haben. Auf diese Weise kann kein System entstehen, dessen Offenheit Chancen bietet und Vertrauen durch evidenzbasierte Entscheidungen schafft. Aus ordnungspolitischer Perspektive ist es durchaus die Aufgabe des Staates, Mindestrahmenbedingungen zur Sicherstellung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit zu schaffen. Das Gegenteil ist jedoch Praxis: Die Bereitstellung von Daten im direkten oder indirekten Staatsbesitz (kommunalen Daten) verläuft nur zögerlich. Der Europäischen Union ist die Schaffung von Mindeststandards zur Weiterverwendung der Daten des öffentlichen Sektors zu verdanken. Die entscheidenden Impulse zur Wahrnehmung der Daten des öffentlichen Sektors als Innovationstreiber sind ein Ergebnis regulatorischer EU-Vorgaben und nicht einer nationalen Strategie der Verwaltungsmodernisierung.

Chancen des digitalen Wandels

Nur durch mittelbar oder unmittelbar wirkendes EU-Recht ist der Binnenmarkt auch im Bereich der Telekommunikation ein Wirtschaftsraum geworden. In der breiten Öffentlichkeit wird oft zu Unrecht pauschale Kritik an der EU-Politik geäußert, und viele Errungenschaften der letzten vier Jahre werden ausgeblendet. Die drei Säulen der von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker angeregten Strategie für einen digitalen Binnenmarkt – besserer Zugang zu digitalen Waren und Dienstleistungen, optimale Rahmenbedingungen für digitale Netze und Dienstleistungen und die bestmögliche Ausschöpfung des Wachstumspotenzials der Digitalwirtschaft – wirken sich unmittelbar positiv auf den Wohlstand in Deutschland und Europa aus.

Die grenzüberschreitenden E-Commerce-Angebote und das kostenlose Roaming im EU-Ausland bedurften eines harmonisierten Ansatzes, damit Europa die nächste Stufe eines wettbewerbsorientierten Binnenmarkts erreichen konnte. Die Beseitigung der doppelten Datenspeicherung und die Erleichterung der grenzüberschreitenden Unternehmenstätigkeit bieten weitere Einsparmöglichkeiten für Dienstleister. Schätzungen zufolge soll das einheitliche EU-Prinzip zur Gewährung des freien Flusses nicht-personenbezogener Daten bis 2020 Zusatzeinnahmen in Höhe von circa 1,9 Milliarden Euro für das verarbeitende Gewerbe und 4,5 Milliarden Euro für den Vertrieb, den Einzelhandel und für die Hotelbranche einbringen.

Verkäufer müssen Zugang zu gleichen Preisen gewähren, während die Verbraucher selbst entscheiden können sollten, auf welcher Website sie Waren oder Dienstleistungen erwerben – im Inland oder Ausland. Die 2018 beschlossene Abschaffung des Geoblockings (Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, des Wohnsitzes oder des Niederlassungsortes des Kunden) umfasst im Wesentlichen zwei Dimensionen: E-Commerceund Videooder Streaming-Plattformen. Das Verbot von Geoblocking auf dem Gebiet des Onlinehandels ermöglicht die Ausweitung des Geschäfts deutscher Unternehmen auf den kompletten EU-Binnenmarkt. Die Verbraucher profitieren wiederum von einem unbeschränkten Zugriff auf Onlineshops in jedem EU-Mitgliedstaat. Das verhindert Diskriminierung beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen europaweit. Die Weiterleitung auf die jeweils nationalen Webseiten ist seit Dezember 2018 Vergangenheit. Die künstliche Aufteilung der Märkte konnte nur durch eine einheitliche europäische Lösung aufgehoben werden.

Die zweite Dimension der Geoblocking-Regulierung wird umgangssprachlich „Virtuelle Erweiterung des Reisegepäcks“ genannt. Ein deutsches Abonnement, beispielsweise vom Streamingdienst Spotify oder Sky GO, ist im EU-Ausland nicht mehr eingeschränkt. Die EU-Vorgaben stärken so die Verbraucherrechte und beleben das Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa. Ein reibungslos funktionierender digitaler Binnenmarkt liegt im deutschen Interesse. Vor allem kleine und mittelständische deutsche Unternehmen, die über Grenzen hinweg Produkte und Dienstleistungen anbieten wollen, sind von einem uneinheitlichem Vertragsrecht betroffen. Audiovisuelle und urheberrechtlich geschützte Dienstleistungen sind allerdings von der Geoblocking-Verordnung noch nicht erfasst. Das Paradoxe daran ist, dass ausgerechnet diejenigen digitalen Produkte von der Regelung ausgenommen sind, die am einfachsten online grenzüberschreitend gehandelt werden könnten (zum Beispiel E-Books). Es ist auch in deutschem Interesse, dass die Bürger Kultur- und Informationsangebote aus der gesamten EU nutzen können. Deshalb ist es eine gute Nachricht, dass die EU-Kommission das Thema 2020 nochmals auf die Agenda setzen will.

Auswirkungen der Datenschutzverordnung

Einerseits ist sich die Politik des Wertes der Daten bewusst, andererseits werden regulatorische Schritte unternommen, die dieser Logik nicht unbedingt entsprechen. So ist ungewiss, welche Auswirkungen die jahrelang verhandelte Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) auf den Standort Europa haben wird. Daten bilden die Grundlage für die Zukunftstechnologie KI. Die Grundsätze der Zweckbindung und Datenminimierung der DSGVO stehen in einem Spannungsverhältnis zur Entwicklung dieser Technologie in Europa. Deutschland steht in der Disziplin Datenschutz weltweit an der Spitze. Der steigende Börsenwert der Tech-Giganten aus dem Silicon Valley oder aus China widerspricht allerdings der These, Datenschutz sei ein Wettbewerbsvorteil. Zugespitzt formuliert, ist KI ohne Zugang zu Daten wie ein Flugzeug ohne Treibstoff. Wenn auf nationaler Ebene mit rigiden Einschränkungen der Zugang zu Daten erschwert wird, mindert das die Chancen der eigenen Unternehmen, experimentieren und neue Produkte und Dienste entwickeln zu können.

Der Zugang zu Daten und Informationen ist der Schlüssel zu Innovation. Die Over-the-Top-Player – die größten, wertvollsten und mächtigsten Internet- und Tech-Konzerne der Welt (auch GAFA, nach Google, Apple, Facebook und Amazon benannt) – unterscheiden sich beispielsweise von den übrigen Marktteilnehmern, da sie diese Ressource voll ausschöpfen können: von der Datensammlung und -weiterverwendung bis hin zur Mehrwertgenerierung, etwa in Form von Mehrwertdiensten (The Apple Health App), datengesteuerten Produkten (Google Maps) oder der Erschließung neuer Märkte (Amazon Market Place).

Netzwerkeffekte und Marktmacht

Die Dominanz der anderen wird leider häufig als Ursache für die eigenen Schwächen erachtet. Dabei wird die Verschärfung des Datenschutzes oder die Auferlegung von Kartellstrafen die eigenen Fähigkeiten im maschinellen Lernen nicht verbessern. Harte regulatorische Eingriffe, wie etwa die strukturelle Zerschlagung der digitalen marktbeherrschenden Unternehmen oder die Einführung von Dateneigentumskonzepten, werden nicht unbedingt die Etablierung von European Champions nach sich ziehen. Den Preis dafür würden die Verbraucher zahlen, und zwar mit schlechteren Angeboten oder gänzlichem Verzicht auf manche Dienste. Die Logik der Netzwerkeffekte begünstigt die Schaffung von Marktmacht. Je mehr Verkäufer Amazon anziehen kann, desto mehr Käufer werden dort einkaufen. Die Größe und die Teilnehmerzahl einer Plattform sind daher entscheidend für ihren Erfolg. Ob ein Monopolist seinen Sitz in San Francisco oder Tallinn hat, macht da wenig Unterschied.

Worauf sich die Politik und vor allem die Regulierungsbehörden in Europa fokussieren sollten, ist der Zugang zu Daten und der Aufbau strategischer Kompetenzen im KI-Bereich. Dies kann nur gelingen, wenn die Kompetenzen auf EU-Ebene gebündelt werden. Für Wettbewerbsprobleme sollte man durchaus den Kartellrechtsrahmen unter die Lupe nehmen. Wenn die digitalen Märkte und deren geografische Definition eine EU-Lösung suggerieren, sollte man von nationalen Alleingängen absehen und stattdessen den Fokus auf Brüssel richten.

Pencho Kuzev, geboren 1980 in Veles (Mazedonien), Koordinator für Digitalisierung und Datenpolitik, Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer- Stiftung.

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