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Wie Influencer zu Autoritäten werden

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Autoritäten haben die Macht, andere zu beeinflussen. Betrachtet man Autorität als eine Zuschreibung, die nicht nur durch Machtausübung, Regeln, Geund Verbote entstehen kann, sondern genauso durch Erfahrung, Kompetenz und Wissen, dann lassen sich Personen mit Autorität auch als Instanzen definieren, denen man ein besonderes Vertrauen entgegenbringt. Man hält etwas auf ihre Meinung, orientiert sich an ihnen, ja man folgt ihnen – und zwar, ohne sie immer wieder aufs Neue infrage zu stellen.

Schon dem Namen nach liegt es daher nahe, Influencer als neue und bedeutende Autoritäten in der Gegenwartsgesellschaft aufzufassen: To influence heißt schließlich „beeinflussen“. Bei Influencern denkt man zuerst an eine Einflussnahme im Sinne der Werbung und bringt sie mit den Bereichen Mode und Lifestyle in Verbindung. Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt haben Influencer nicht grundlos als „Werbekörper“ definiert.1 Doch es gibt auch unzählige politische, aktivistische oder journalistische Influencer und sogenannte Sciencefluencer, die weniger zum Kaufen als zu bestimmten Meinungen, Ansichten oder gar politischen Handlungen veranlassen.

Den Grad ihrer Autorität kann man zunächst einmal den Zahlen entnehmen: Wie viele Follower hat das Profil, wie viele Likes und Kommentare haben die einzelnen Beiträge, wie oft werden die Inhalte geteilt? Letzteres lässt zudem Rückschlüsse auf die tatsächliche Anerkennung durch Follower und die Position innerhalb einer Community zu.

Sosehr im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie Zahlen konstitutiv für die Autorität von Influencern sein können – je mehr Follower, desto glaubwürdiger –, sie erklären nicht, wie die Person zu diesen Zahlen und dementsprechend zu ihrer Autorität gekommen ist. Diese Frage bleibt besonders dann rätselhaft, wenn Influencer nicht bereits vorher einen besonderen sozialen Status hatten, einer renommierten Tätigkeit nachgingen oder mit einer etablierten Institution assoziiert waren. Wie erlangt die Autorität von Influencern also Geltung? Durch Wissen – sei es im Bereich Mode und Styling oder im Bereich Wissenschaft und Forschung. Das ist erst einmal nichts Neues: „Wer Wissen hat, hat Autorität. Er kann die anderen belehren“, schrieb Niklas Luhmann in Die Wissenschaft der Gesellschaft (1992).2

 

Wissenskultur in den Sozialen Medien

 

Luhmanns Zitat gilt noch immer, auch wenn sich die Wissenskultur durch die Sozialen Medien im Wandel befindet. Auf Twitter, TikTok, Instagram oder YouTube herrschen neue Praktiken und Konventionen sowohl der Wissensproduktion als auch der Verbreitung und Darstellung vorhandenen Wissens und dessen individueller Aneignung. Noch nie war es so einfach, Informationen über das Netz zu erhalten, sie für kurze Postings aufzuarbeiten (hier wird ChatGPT ein Übriges tun, wie Tutorials belegen, in denen man lernt, die Künstliche Intelligenz auf das Erstellen von Instagram-Postings oder TikTok-Skripten zu trainieren) und zu veröffentlichen. Quellen werden dabei nur in seltenen Fällen angegeben.

Der Medienwissenschaftler Johannes Paßmann hat treffend von einer „Wissenspopularisierung mit Social Media“ gesprochen. In seinem gleichnamigen Aufsatz nennt er zwei Modi dieser Popularisierung: die Übersetzung und die Elizitation. Elizitation meint „eine Methode, durch vorgeführtes Material Reaktionen zu erzeugen, die ungenanntes, nicht recherchiertes, unbewusstes oder anderweitig noch nicht thematisiertes Wissen in Zirkulation bringen“.3

Gerade weil die Übersetzung komplizierter Zusammenhänge und Begriffe notwendigerweise Vereinfachungen vornimmt, teilweise „Entscheidendes in den Hintergrund treten“ lässt, was wiederum zu Missverständnissen führen kann, besitzt sie das Potenzial, viele Reaktionen hervorzurufen. Man könnte sagen: Wissenspopularisierung ist per se affordant („anbietend“), fordert zum Weiterund Mitproduzieren von Wissen auf, denn mit zehn ein- oder zweizeiligen Instagram-Slides oder in einem sechzigsekündigen TikTok-Video können bestimmte Begriffe oder Konzepte nicht erschöpfend erklärt werden. Das wiederum bedeutet, dass es sich um attraktive Inhalte für Influencer handelt. Sie bringen ihnen nämlich Interaktionen ein, die deshalb so begehrt sind, weil sie zu einer Bevorzugung durch den Algorithmus führen, also die Verbreitung der Inhalte fördern. Nicht zufällig professionalisieren sich daher fast alle erfolgreichen Influencer auf Wissen aus einem Bereich. Das kann intellektueller oder handwerklicher Art, der Theorie oder der Lebenswelt entnommen sein. Oft wird das Wissen nicht sachlich vermittelt, sondern persönlich gefärbt oder mit Meinungsäußerungen vermengt.

Autorität haben in den Social Media also diejenigen, die nicht ausgewogen, detailliert, erschöpfend über etwas berichten, sondern pauschal oder lückenhaft bleiben, denn damit können die Follower „einsteigen“, etwas hinzufügen, sich selbst aktiv fühlen.

 

Infokacheln auf Instagram

 

Ein in den Bereichen Wissenschaft, Politik und Aktivismus beliebtes InstagramFormat sind sogenannte Infokacheln. Sie bestehen oft nur aus Schrift und erwecken ästhetisch den Anschein von Seriosität. Man findet sie zum Beispiel auf den Plattformen von Louisa Dellert (@louisadellert), die sich mit Nachhaltigkeit und Umweltschutz beschäftigt, Timur (@timurs.time), dessen Schwerpunkt auf Queerness liegt, oder Hami Nguyen (@hamidala_), bei der man sich über (antiasiatischen) Rassismus schlau machen kann. Auf mehreren Slides wird dabei ein Begriff, ein Konzept, eine Theorie oder aktuelles Geschehen erklärt. Als Anfang Juni 2023 in Brüssel die europäische Asylreform besprochen wurde, erstellte Nguyen folgende Infokacheln: Auf dem ersten Bild stand „In den nächsten beiden Tagen schafft die ‚Wertegemeinschaft‘ EU das Asylrecht faktisch ab und niemand schaut hin“, wobei die Worte „schafft“ und „Asylrecht faktisch ab“ rot eingefärbt wurden, um die Dringlichkeit der Sichtbarmachung dieser Information zu unterstreichen.4 In den folgenden Kacheln wurden zunächst Fakten gegeben, dann teilweise mit persönlichen Einschätzungen ergänzt. Im  Kommentarbereich verwies Nguyen auf andere aktivistische Accounts. Um die 12.000 User reagierten auf dieses Posting. Im Kommentarbereich wurde kontrovers diskutiert, und viele ergänzten im Sinne Paßmanns Informationen und Kontexte, die im Post selbst nicht enthalten waren.

Dass Nguyen für ihre Follower zu einer Autorität geworden ist, deren Meinung grundsätzlich von Interesse sein und Orientierung stiften kann, wird besonders deutlich, wenn sie sich in ihren Storys dafür rechtfertigen muss, nicht zu allen Ereignissen Inhalte liefern zu können. Offenbar steigt mit zunehmender Autorität der Druck, sich auch zu Fragen außerhalb des eigenen Themenschwerpunkts zu äußern.

Auf Nguyens Kachel zum neuen EU-Asylrecht gab es eine Reihe von Kommentaren in diesem Stil: „Wieso höre ich jetzt das erste Mal davon? Wieso berichten darüber keine Nachrichtensender und noch mehr? Oder wird mir das einfach nicht in die Timeline gespült?“ Wer eine Tages- oder Wochenzeitung liest, die Tagesschau oder politische Talkshows ansieht, wundert sich über solche Reaktionen. Sie bestätigen aber den schon länger existierenden Verdacht, dass die „alten“ Medien an Autorität verlieren. Zeit also, sich ernsthaft mit den Autoritäten der neuen Medien zu beschäftigen – mit den Influencern.

 

Annekathrin Kohout, geboren 1989 in Gera, Kultur- und Medienwissenschaftlerin, freie Autorin, seit 2015 Betreiberin des Blogs „Sofrischsogut.com“, Herausgeberin und Redakteurin der Zeitschrift „POP. Kultur und Kritik“.

 

1 Ole Nymoen / Wolfgang M. Schmitt: Die Ideologie der Werbekörper, Berlin 2021.
2 Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1992, S. 149.
3 Johannes Paßmann: „Am Beispiel Rezo. Zwei Modi der Wissenspopularisierung mit Social Media“, in: POP. Kultur und Kritik, Heft 15, Herbst 2019,  S. 65–76, hier S. 66.
4 https://www.instagram.com/p/CtPEE6mMvLi/ [letzter Zugriff: 19.06.2023].