Nach dem jüngsten Waffengang zwischen dem Hamas-Regime im Gazastreifen und Israel scheinen sich die Aussichten auf ein Ende des israelisch-palästinensischen Konflikts weiter verdüstert zu haben. Nach Ansicht der Bundesrepublik Deutschland und ihrer westlichen Partner verbürgt nur eine Zwei-Staaten-Lösung dauerhaften Frieden. Sie ist notwendig, um Israels Charakter als jüdischer und demokratischer Staat zu bewahren. Ein friedlicher, demokratischer, die Menschenrechte achtender Palästinenserstaat wäre ein Gewinn für die Region insgesamt, nicht zuletzt für seinen Nachbarn Israel.
Es gibt wenigstens zwei Alternativen zur Zwei-Staaten-Lösung: die Beibehaltung des Status quo und die Ein-Staat-Lösung. Fraglich ist nur, welche Lösung den Vorzug verdient. In Anbetracht der immer wieder eskalierten Gewalt um Gaza sieht es so aus, als sei die Beibehaltung des Status quo das weitaus wahrscheinlichere Szenario. Denn aus Sicht vieler Israelis lässt sich mit dem gegenwärtigen Status ganz gut leben. „Yihye beseder – Es wird schon gutgehen“ lautet eine beliebte hebräische Redensart. Das Problem ist nur, dass der Status quo eine Illusion ist. Der Nahe Osten und Nordafrika werden von historischen Umbrüchen erschüttert, deren Dauer und Ausgang nicht abzusehen sind. Zu glauben, dass ein kleines Fleckchen Erde in der südlichen Levante davon verschont bleiben wird, setzt ein Übermaß an Optimismus oder Gottvertrauen voraus. Außerdem wird der gegenwärtige Zustand für die Palästinenser nicht dadurch erträglicher, dass er auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten wird. Sie werden in der Hoffnung auf bessere Zeiten verharren und keineswegs auf den Gedanken kommen, für die Israelis das Feld zu räumen. Die Völkergemeinschaft wird nicht bereit sein, immer wieder neue Wiederaufbauhilfen in Milliardenhöhe in den Gazastreifen zu pumpen. Irgendwann wird sie es auch leid sein, gewaltige Summen nach Ramallah zu überweisen für den Aufbau eines Staates, den es nie geben wird.
Was ist von der Ein-Staat-Lösung zu halten? Sie hat ebenfalls erhebliche Tücken. Praktisch läuft sie auf ein binationales Gemeinwesen hinaus. Theoretisch gäbe es auch mononationale Varianten: das von der Hamas angestrebte „Palästina“ ohne Juden – und das von nationalreligiösen Extremisten erträumte „größere Israel“, aus dem ein Großteil der Palästinenser nach Jordanien und in andere arabische Länder „umgesiedelt“ würde.
Eine binationale Lösung würde Israel vor die Entscheidung stellen, ob es als jüdischer oder als demokratischer Staat weiterexistieren möchte, denn beides gleichzeitig wäre dann nicht mehr möglich. Auf diesen Punkt machte Ministerpräsident Netanjahu im Juni 2011 aufmerksam, als seinem Kabinett eine Studie des Jewish People Policy Institute über die demografischen Entwicklungen in Israel und dem Westjordanland vorgestellt wurde. Es sei wichtiger, so Netanjahus Kommentar, eine solide jüdische Mehrheit innerhalb des Staates Israel zu bewahren, als ein Gebiet zu besitzen, in dem eine palästinensische Mehrheit lebe.
Eine Mehrheit der Israelis befürwortet die Zwei-Staaten-Lösung unter der Bedingung, dass Israels Sicherheit nicht darunter leidet. Die Gegner dieser Lösung lassen sich – stark vereinfacht – in zwei Kategorien aufteilen: jene, die nationalreligiös argumentieren, und jene, die einen Palästinenserstaat als unkalkulierbares Risiko betrachten.
Mit der kleinen, aber lautstarken nationalreligiösen Minderheit ist eine rationale Debatte praktisch unmöglich. Für sie geht es um eine Glaubensfrage im eigentlichen Sinne des Wortes. Der biblisch begründete Anspruch des jüdischen Volkes auf das Westjordanland – auf Judäa und Samaria, um genau zu sein – ist für sie nicht verhandelbar. An dieser Stelle ist eine Klarstellung angebracht: Die Nationalreligiösen sind nicht, wie es in Europa oft geschieht, zu verwechseln mit den Strengreligiösen, den sogenannte Ultraorthodoxen oder Haredim. Für die Strengreligiösen ist die Erlösung Israels ein Werk des Messias, kein politisches Projekt. Im Gegensatz zu den Nationalreligiösen schreiben sie dem Staat Israel keine heilsgeschichtliche Bedeutung zu. Die allermeisten Strengreligiösen betrachten ihn vielmehr als säkulares Gebilde, mit dem man sich pragmatisch arrangieren kann. Viele von ihnen treten offen für eine Zwei-Staaten-Lösung ein.
Rational argumentieren lässt sich hingegen mit den Skeptikern, die sich auf das Sicherheitsargument stützen. Der neue Waffengang zwischen Israel und „Hamastan“ (wie der von der Hamas im Gazastreifen errichtete Quasi-Staat gelegentlich genannt wird) hat ihnen freilich neuen Zulauf verschafft. Den Israelis ist wieder einmal, vielleicht sogar mehr denn je, bewusst geworden, dass der Tel Aviver Ben-Gurion-Flughafen – und damit die zivile Luftfahrt von und nach Israel – durch Raketen der Hamas und des Islamischen Dschihad (einer kleineren, aber gleichfalls hochaggressiven Terrororganisation im Gazastreifen) bedroht wird. Reichweite und Zielgenauigkeit der Raketen werden immer besser. Die Skeptiker fragen deshalb, ob sich Israel nach den Erfahrungen des Sommers 2014 ein zweites „Hamastan“ im Westjordanland, gleichsam vor den Toren Tel Avivs, leisten könne.
Kein zweites „Hamastan“
Stellt man die Frage so, ist die Antwort ein klares „Nein“. Allerdings ist keineswegs ausgemacht, dass durch die Gründung eines Palästinenserstaates ein zweites „Hamastan“ im Westjordanland entstehen würde. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab; einige sind innerpalästinensischer Natur und andere stehen unter Kontrolle Israels und der Völkergemeinschaft.
Nach der letzten Gaza-Erfahrung besteht kein Zweifel daran, dass Israels Beharren auf belastbaren Sicherheitsarrangements im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung auf breites internationales Verständnis stoßen würde. Die Regierung Netanjahu muss sich aber auch selbstkritisch fragen, was sie in der Vergangenheit – ungewollt – dazu beigetragen hat, unter Palästinensern den Ruf der Hamas zu stärken. Vielen Palästinensern erscheint sie bedauerlicherweise als einzige ernst zu nehmende Vertreterin ihrer Nationalinteressen. Die israelische Regierung sollte daher alles unterlassen, was den friedfertigen Palästinenserpräsidenten Abbas und die Fatah, den Hauptkonkurrenten der Hamas, als politisch schwach und erfolglos dastehen lässt. Sie sollte honorieren, dass die palästinensischen Sicherheitskräfte im Westjordanland eng mit den israelischen Sicherheitskräften kooperieren, obwohl sie dafür als „Verräter des eigenen Volkes“ angefeindet werden. Die Lockerung der Sicherheitsblockade des Gazastreifens muss Mahmud Abbas und nicht Chalid Maschal als Erfolg zugeschrieben werden.
Für die Zwei-Staaten-Lösung spricht heute vor allem auch die regionale Perspektive. Der künftige Palästinenserstaat stünde nicht im luftleeren Raum, sondern wäre Teil einer „sunnitischen Achse“, die durch vitales Interesse an regionaler Stabilität zusammengehalten wird. Sie umfasst Jordanien, Ägypten, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate – und Israel, das diesem Bündnis gleichsam als stilles Mitglied angehört. Zu den Gegnern der „sunnitischen Achse“ zählen der Iran und die Hisbollah, die Moslembrüder (deren palästinensischer Ableger die Hamas ist), ein unübersichtliches Gemenge dschihadistischer Gruppen und Milizen sowie zurzeit auch Katar.
Unter den regionalen Eckpfeilern von Israels Sicherheit ist Jordanien der wichtigste. Das bislang stabile Haschemitische Königreich bewährt sich als Bollwerk nach Osten (Irak, Iran) und Nordosten (Syrien). Wenn dieser Schutzschild verschwände und dschihadistische Milizen bis zum Jordan vordringen könnten, wäre Israel von Osten (Jordanien), Norden (Syrien, Libanon) und Süden (Gazastreifen) durch Raketenterror bedroht. Man braucht keine Meinungsumfrage, um die Behauptung zu wagen, dass dies nicht nur für Israel, sondern auch für die allermeisten Palästinenser ein Albtraum wäre.
Argumente für einen Sprung ins Ungewisse
Natürlich gibt es keine Garantie, dass von einem Palästinenserstaat eines Tages nicht doch Gefahren für Israels Sicherheit ausgehen könnten. Doch mindestens genauso ungewiss ist, ob der jordanische Status quo für alle Zeiten erhalten bleibt. Eine Zwei-Staaten-Lösung mag ein Sprung ins Ungewisse sein. Dieser Ungewissheit steht aber das noch größere Risiko eines gewaltigen politisch-militärischen Erdbebens in den noch halbwegs stabilen Teilen der Region gegenüber.
Gute Argumente sprechen für die Annahme, dass ein Palästinenserstaat regional stabilisierend wirken und daher Israels Sicherheit nachhaltig stärken würde. So würde die Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts es den arabischen Mitgliedstaaten der „sunnitischen Allianz“ ermöglichen, ihre Beziehungen zu Israel zu normalisieren und mit dem wirtschaftlich und wissenschaftlich-technologisch so erfolgreichen Nachbarn in ganz neuen Dimensionen zu kooperieren. Dass die politischen Führungen in Jordanien, Ägypten, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten dies mit allem Nachdruck wünschen, ist ein offenes Geheimnis.
Michael Mertes, geboren 1953 in Bonn, Staatssekretär a. D., von 2011 bis Ende Juli 2014 Leiter des Auslandsbüros Israel der Konrad-Adenauer-Stiftung in Jerusalem.