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Aufarbeitung der Geschichte und Konfrontation mit der Gegenwart

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Kolonialismus, Dekolonialismus, Rekolonialismus, Neokolonialismus, Postkolonialismus: Diese Begriffe sind in aller Munde, in der Wissenschaft und im Feuilleton wird um sie gestritten. Auch die Politik macht sich die Kolonialgeschichte angelegen wie selten zuvor. Einige der berühmten Benin-Bronzen wurden im Dezember 2022 durch die deutsche Außenministerin persönlich nach Nigeria zurückgebracht. Die intensiv geführte Restitutionsdebatte hat damit eine weitere Etappe erreicht. Ministerpräsident Mark Rutte entschuldigte sich unlängst für die Verstrickung der Niederlande in die Sklaverei.

Können aber die Rückgabe unrechtmäßig erworbenen, materiellen Eigentums aus kolonialen Kontexten oder ein Wort der staatlichen Entschuldigung für ein grausames Verbrechen gegen die menschliche Würde wiedergutmachen, was mehrere Jahrhunderte an Unrecht geschaffen haben? Und geht es im Kern allein darum? Dieser Essay stellt die Fragen vor dem Hintergrund des selbstgesetzten Anspruchs des postkolonialen Denkens auf eine gesellschaftsverändernde Verantwortung, die im Sinne einer stabilen Demokratie für die Kolonialgeschichte übernommen werden müsse.

Aus postkolonialer Perspektive lautet die Antwort auf diese Fragen: Nein, das Wesentliche ist zwar zum einen die umfassende Aufarbeitung der Geschichte. Jedoch sei zum anderen die schonungslose Konfrontation mit der Gegenwart gleichermaßen wichtig. Spätestens seit dem gewaltsamen Tod George Floyds im Sommer 2020 bringt die Bewegung Black Lives Matter auf einen Nenner, worauf die Kritik seit Jahrzehnten zielt. Soziale Ungleichheit, institutioneller Rassismus, feste Muster der diskriminierenden Ausgrenzung und Benachteiligung, rassistisch motivierte Stereotypen: Diese und andere Punkte, die an den modernen Gesellschaften der ehemaligen Kolonialmächte kritisiert werden, sind mit der Geschichte des Kolonialismus und der Sklaverei untrennbar verbunden. Gemäß der postkolonialen Überzeugung sind sie zentraler Gegenstand einer Debatte, die in die Zukunft reichen muss, nicht zuletzt, um einem Neokolonialismus vorzubeugen und die bestehenden Asymmetrien in der Welt zu überwinden.

 

„Entkolonialisierung“ der Menschenrechte

 

Die Geschichte des Kolonialismus und der imperialen Herrschaft ist insofern nicht vergangen, sondern präsent. Sie ist eingewoben in den politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Alltag, weil die Mechanismen einer jahrhundertelangen kolonialen Unterdrückung in postkolonialer Lesart jederzeit abrufbar seien. Mithin komme es darauf an, die Geschichte offen zu konfrontieren, um mit Traditionsbeständen zu brechen, die nach wie vor für Ungleichheit sorgen. Tieferliegende ökonomische Kontinuitäten der Abhängigkeit lassen sich beispielsweise über die währungspolitische Kontrolle mehrerer westafrikanischer Länder durch Frankreich herausarbeiten. Ihre Volkswirtschaften hängen vielfach vom System des Franc de la Coopération Financière en Afrique (CFA­-Franc) ab.

Auch die internationale Debatte über die Menschenrechte weist in eine ähnliche Richtung. Für den Westen eine politische und moralische Pflicht, sie zu verteidigen, werden Menschenrechte trotz ihrer im Aufklärungsdenken gewonnenen Universalität in der nichtwestlichen Welt nicht selten als Fortsetzung eines ideologischen Herrschaftswillens interpretiert. Diese unterschiedlichen Wahrnehmungen zwischen globalem Norden und Süden müssen unbedingt berücksichtigt werden. Die Forderung nach ihrer „Entkolonialisierung“ wird laut, weil den Menschenrechten, wie sie durch die Vereinten Nationen 1948 erklärt wurden, die gleichen zivilisierungsmissionarischen Motive zugrunde gelegen haben sollen wie dem Kolonialismus.

Das postkoloniale Denken beansprucht für sich, ein selbstgerechtes, hochmütiges westliches Hegemoniestreben freizulegen, demzufolge das ideologische Muster des „Rettens“ der indigenen Bevölkerungen vor ihren kulturellen Traditionen einer fortgesetzten kulturellen Aggression gleichkomme. In diesem Kontext erhebt der kenianische Rechtswissenschaftler Makau Mutua eine besonders wichtige Stimme, ebenso der kamerunische Historiker und Philosoph Achille Mbembe.

Der Vorwurf, Mbembes scharfe Israelkritik komme Antisemitismus gleich, ist wiederholt an den postkolonialen Diskurs gerichtet worden. Einen der „Gründerväter“, Edward Said, traf dieser Vorwurf seit Erscheinen seines Buches Orientalism (1978), zumal Said sich als politischer Aktivist in der Palästinafrage engagierte. Die marxistisch-­feministische Intellektuelle Gayatri Chakravorty Spivak brachte die Konzepte der „Subalternität“ und der Hegemonie in die Diskussion ein. Für den Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha, der sich sowohl stark in der postkolonialen Tradition von William E. B. Du Bois, Frantz Fanon und Aimé Césaire als auch in der psychoanalytischen Literatur seit Sigmund Freud und Michel Foucault begreift, spielen die Repräsentationsformen der kulturellen Differenz und Ambivalenz die Hauptrollen in der Behandlung der fortdauernden Problematik von Rassismus, kolonialen Stereotypen, Mimikry, Zugehörigkeit und Handlungsmacht.

 

Unbequeme Fragen und Debatten

 

Wie wichtig es ist, geschichtswissenschaftlich die Dynamiken von Kolonisation und Dekolonisation (18. bis 20. Jahrhundert) zusammen zu denken, liegt auf der Hand. Weder die Dekolonisationsprozesse noch die Abschaffung der Sklaverei – beide von den Kolonialmächten sehr unterschiedlich gehandhabt – haben den Kolonialismus in Denken und Handeln vollständig und endgültig überwunden. Postkoloniale Initiativen rufen zum Bau von Museen auf, damit die Kolonialgeschichte mehr Dokumentation erfährt. Sie organisieren (post)koloniale Stadtrundgänge, um der Bevölkerung lokale Räume der Erinnerung vor Augen zu führen: Straßen- und Gebäudenamen, Plätze, Denkmäler, in die Kolonialwirtschaft verwickelte Unternehmen und vieles andere. Schließlich machen sie auf museale Sammlungen aufmerksam und fordern, die Bestände an ihre Herkunftsländer zurückzuführen.

Weil die Befürchtung, in Gesellschaft und Politik könne beizeiten eine Gedenkmüdigkeit einsetzen, nicht unberechtigt ist, fordert das postkoloniale Denken eine stetige und lückenlose Aufarbeitung der Geschichte. Diese dürfe sich nicht nur auf punktuelle Jahrestage und mit ihnen verbundene Gedenkfeiern (Entlassung von Kolonien in die Unabhängigkeit; offizielle und vollständige Abschaffung der Sklaverei) beschränken. Vielmehr müsse sie Strukturen offenlegen. Als 1807 im British Empire der Sklavenhandel verboten wurde, erhielten die Sklavenhalter massive Entschädigungen. Ihr somit vom Staat finanziertes Privatvermögen bildet sich bis zum heutigen Tag unter anderem in den großen Landhäusern und städtischen Villen ab. Die Sklaven und ebenso die heutigen Nachfahren von Opfern der Sklaverei sind jedoch nicht entschädigt worden. Aus vielen Nachfolgestaaten der ehemaligen Kolonialmächte sind nicht einmal Entschuldigungen zu hören.

So stellt es für das postkoloniale Denken ein dringliches Anliegen dar, mit unbequemen Fragen und Debatten das Bewusstsein insbesondere im Westen beziehungsweise im globalen Norden zu ändern. Dass dieser Weg mühselig ist und nicht lediglich auf Restitution und Reparationen hinauslaufen kann, versteht sich von selbst. Dass er zwischen moralischen und rechtlichen Aspekten unterscheiden muss, ebenfalls. Die Überwindung binärer Gegensätze von Kolonisierten und Kolonisatoren, von Opfer- und Täterschaft hat die postkoloniale Theorie dazu bewogen, die Auswirkungen des Kolonialismus über seine geografischen und zeitlichen Räume hinaus als ein weltgeschichtliches Problem zu definieren. Als Folge massiver Abholzungen von Wäldern in Südamerika, Afrika und Asien sowie weitflächiger Monokulturen lässt sich dies klimageschichtlich illustrieren.

 

Das „metaphysische Imperium des Englischen“

 

Strukturen, Dynamiken und historische Prozesse waren global miteinander verflochten und sind als Nachwirkungen in der heutigen globalisierten Welt gegenwärtig, und zwar nicht minder in Europa. Postkoloniales Denken hat deshalb stets davor gewarnt, Geschichte freizusprechen, Ideale der europäischen Aufklärung zu verabsolutieren und die Abschaffung der Sklaverei als eine vornehmlich europäische Angelegenheit zu betrachten. Auch sie muss ebenso wie der Komplex der Sklaverei in transatlantischen beziehungsweise globalen Verflechtungen gesehen werden. Die Öffnung durch die postkoloniale Perspektive trägt insofern dazu bei, das koloniale, in der „Zivilisierungsmission“ versinnbildlichte Fortschrittsnarrativ zu dekonstruieren und damit einhergehend die Selbstlegitimation, die jedem kolonialen Denken innewohnt, bloßzustellen. Die postkoloniale Kritik ließe sich so als eine wirksame und global wahrnehmbare Intervention bezeichnen, die nicht minder die Praktiken und Produktionsweisen von Wissen hinterfragt. Weil Wissen und sein Erwerb hierarchisch strukturiert sind und nicht zuletzt von der Sprache des weltgeschichtlich größten Imperiums, des British Empire, abhängen, gilt es in postkolonialer Perspektive, das „metaphysische Imperium des Englischen“ zu überwinden (Ngũgĩ wa Thiong’o: Decolonising the Mind: The Politics of Language in African Literature, 1986). Wie weit aber die Sprachen der ehemaligen Kolonialherren international an Einfluss verlieren könnten, ist rein spekulativ. Ebenfalls herausfordernd bleibt die Frage nach dem Erfolg von Nord-Süd-Wissenschaftskooperationen auf Augenhöhe. Vom postkolonialen Standpunkt aus schon seit Langem eingefordert, scheitern sie oftmals an bürokratischen Hürden.

Selbstverständlich sind die Positionen des postkolonialen Denkens nicht unbeantwortet geblieben. In jüngster Zeit begegnet ihnen viel Kritik aus der anglo­amerikanischen Geschichtswissenschaft. Deren Vorwurf richtet sich auf die Vergegenwärtigung der Geschichte, die „Moralisierung“ und ebenfalls auf eine Politik, die die Geschichte dem juristischen Urteilsspruch der Gegenwart unterwerfe. Sich davon frei und das postkoloniale Denken für einen angeblichen Verlust der Geschichte verantwortlich zu machen, behauptet die britische Vereinigung History Reclaimed: Mit prominenten, jedoch umstrittenen Mitgliedern wie dem Oxforder Theologen Nigel Biggar wirbt sie dafür, den Postkolonialismus als randständig zu behandeln und den Kolonialismus auch in positivem Licht zu betrachten.

Aufsehen erregte überdies der Disput zwischen der Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak und dem New Yorker Soziologen Vivek Chibber (Cambridge Review of International Affairs, 2014). Chibber maß den Postkolonialismus an seinen eigenen Standards und sah die intellektuelle Gefahr in einem orthodoxen Dogmatismus sowie der Tendenz, Gegner des postkolonialen Denkens persönlich zu diskreditieren.

In der Summe jedoch wird von der Geschichtswissenschaft erwartet werden dürfen, auf einfache Erklärungen zu verzichten und kritische historische Sachkenntnis zu diesen Debatten beizutragen. Zudem sollte sie mit dem kontinuierlichen Prüfen des Wissens von den kolonialgeschichtlich verursachten Nachwirkungen bis in unsere Zeit erkenntnisfördernd auf öffentliche Diskurse Einfluss nehmen.

 

Benedikt Stuchtey, geboren 1965 in Münster, Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte, Philipps-Universität Marburg.

 

Literatur

Do Mar Castro Varela, María / Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2020.
Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss (Hrsg.): (Post)Kolonialismus und kulturelles Erbe. Internationale Debatten im Humboldt Forum, Berlin 2021.
Stuchtey, Benedikt: „Das schwierige Erbe des Kolonialismus. Die europäische Debatte über den Umgang mit den kolonialen Vergangenheiten“, in: Zeitgeschichte AKTUELL, Konrad-AdenauerStiftung, Berlin, 16.12.2020, www.kas.de/de/web/wissenschaftliche-dienste-archiv/zeitgeschichte-aktuell/detail/-/content/das-schwierige-erbe-des-kolonialismus [letzter Zugriff: 03.01.2023].

 

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