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Russlands Angriff auf die Ukraine und die deutsche Sicherheitspolitik

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Monatelang wurde unter Politikern und Experten in Europa und den USA über das strategische Kalkül und die wahren Intentionen des russischen Präsidenten Wladimir Putin gerätselt. Im Kern ging es um die Frage, ob die russische Seite mit ihren Drohgebärden und dem Aufmarsch von Streitkräften an den ukrainischen Grenzen blufft oder tatsächlich bereit wäre, Gewalt einzusetzen. Mittlerweile ist klar: Putin hat geblufft, und zwar offenbar von Beginn an. Allerdings hat Putin nicht, wie von vielen Beobachtern diesseits und jenseits des Atlantiks angenommen – oder zumindest erhofft – bei der Anwendung militärischer Gewalt geblufft, sondern mit der Aussicht, sich durch Diplomatie davon abbringen zu lassen. Gerade in Deutschland, wo das Mantra, es dürfe keine militärischen Lösungen geben, die Sicherheitspolitik bestimmt, wurde die militärische Dimension in Putins Spiel vollkommen verkannt.

Im Rückblick erscheint klar, dass Putin acht Jahre nach der Krim-Annexion und dem Beginn des Konfliktes in der Ostukraine nichts Geringeres als eine Neuordnung des postsowjetischen Raums erzwingen will. Vom Forderungsschreiben an die NATO über diverse Reden des Präsidenten bis hin zur russischen Staatspropaganda hat Moskau dazu ein Narrativ aufgebaut, nach dem sich Russland durch die Erweiterung der transatlantischen Allianz gen Osten bedroht fühlt und deshalb Sicherheitsgarantien einfordert. Hinter der Unterstellung, der Westen habe durch sein Verhalten – oder durch gebrochene Versprechen – die russische Reaktion erzwungen, verbirgt sich jedoch ein Weltbild, das grundsätzlich der Vorstellung einer demokratischen, regelbasierten internationalen Ordnung zuwiderläuft.

So verlangt Putin für Russland nicht nur eine exklusive Einflusszone und spricht damit den Staaten in der unmittelbaren Nachbarschaft die Souveränität ab. Der russische Präsident geht sogar so weit, zuvörderst der Ukraine, aber auch anderen ehemaligen Teilen der Sowjetunion – die allesamt unabhängige Staaten und teils EU- und NATO-Mitglieder sind – ihre Eigenständigkeit gänzlich abzuerkennen. Dass es hierbei um die Bedrohung durch westliches Militär in diesen Ländern geht, ist nicht mehr als ein vorgeschobenes Argument. Die durch die NATO-Russland-Akte stark limitierten Truppen der Allianz in östlichen Bündnisstaaten wären der regionalen russischen Übermacht nicht ansatzweise gewachsen; eine mögliche Stationierung von Truppen oder gar strategischen Waffen auf dem Gebiet der Ukraine – wie von Putin unterstellt – sind fern jeder Realität.

 

Machterhalt und Einflusssphären

 

Die Bedrohungsperzeption speist sich vielmehr aus der vermeintlichen Gefahr, die eine Ausbreitung von Demokratie und Wohlstand in Russlands Nachbarschaft für den Machterhalt Putins und seines Systems hätte. Eine erfolgreiche Entwicklung der Nachbarstaaten, so befürchtet er, wäre auch Vorbild für das russische Volk und könnte dazu führen, dass die Machtbasis Putins infrage gestellt wird. Dies zu verhindern, ist letztendlich das Ziel einer exklusiven Einflusssphäre. Das Argument, die Ukraine liege im russischen Machtbereich, ist jedoch entschieden abzulehnen. Wer von Einflusszonen spricht, der denkt in Kategorien der 1930er-Jahre – völkerrechtlich endet der russische Einfluss an den russischen Staatsgrenzen.

Die Forderung, unter Missachtung der nationalen Souveränität über das Schicksal kleinerer Nachbarstaaten bestimmen zu wollen, bedeutet nichts Geringeres, als das Recht des Stärkeren über die Stärke des internationalen Rechts zu stellen. Die Ukraine ist seit dreißig Jahren ein souveräner, sich demokratisch entwickelnder und vor allem friedlicher Staat, der in keiner Art und Weise eine Bedrohung für Russland dargestellt hat. Politiker fast jedweder Couleur in Europa haben daher festgestellt, dass Russland eindeutig der Aggressor in dieser größten Krise Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist. Putin hat einen eklatanten Bruch des Völkerrechts begangen – zu dessen Einhaltung sich Moskau mehrfach selbst bekannt hat.

 

Putins Eskalationsdominanz

 

Um seine Ziele zu erreichen, schreckt Putin nicht davor zurück, militärische Gewalt einzusetzen. Während viele Beobachter noch davon ausgingen, der russische Präsident betreibe Diplomatie vor militärischer Kulisse, bereitete dieser einen Krieg in Europa vor, den er durch vermeintliche diplomatische Avancen zu kaschieren suchte und mit einer orchestrierten Kampagne aus Desinformation und Propaganda flankierte. Dies fügt sich in die bereits mit dem Georgien-Krieg 2008 begonnene Politik ein, die letztendlich darauf ausgerichtet ist, die internationale Ordnung im postsowjetischen Raum – wenn nötig mit militärischer Gewalt – umzuwälzen.

Die hohe Einsatzbereitschaft und die erheblichen Fähigkeiten der russischen Streitkräfte, die seit 2008 strukturell, personell und materiell grundlegend modernisiert wurden, zeigte sich bereits im März und April 2021, als das erste Mal seit 2014 russische Großverbände in unmittelbarer Nähe zur Ukraine aufmarschierten. Die neuerliche Verlegung russischer Kräfte seit vergangenem November, bestehend aus hochmobilen Kampfverbänden mit großer Feuerkraft, abgesichert von Luftverteidigungskräften und ergänzt durch Milizionäre, umfasste zuletzt etwa 75 Prozent aller verfügbaren Kampfbataillone. Damit zog Russland in den letzten Monaten um die Ukraine ein beachtliches Kräftedispositiv zusammen, das eine dramatische Verschiebung der militärischen Kräfteverhältnisse in Russlands Nachbarschaft darstellt.

Mit diesen letzten Bausteinen realisiert Putin das seit Ende der 2000erJahre verfolgte übergeordnete Ziel, die militärische Handlungsfähigkeit und das strategische Behauptungsvermögen Russlands gegenüber dem Westen zurückzugewinnen. Etwa dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – laut Putin bekanntlich die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ – erlangt der russische Präsident nun die lange angestrebte politische Handlungsinitiative und Eskalationsdominanz zurück, die es ihm erlaubt, in einem regionalen Krieg in der unmittelbaren Nachbarschaft Fakten zu schaffen.

Die strategische Tragweite des russischen Aufmarsches wurde im November 2021 frühzeitig von amerikanischen Nachrichtendiensten erkannt. Anders ist der präzedenzlose Schritt, so schnell und umfassend nachrichtendienstliche Erkenntnisse über die geplanten russischen Maßnahmen, inklusive eines detaillierten Zeitplans und voraussichtlichen Angriffszeitpunkts, öffentlich zu machen, kaum zu erklären. Auch die Entscheidung Präsident Bidens, so konkret und öffentlichkeitswirksam wie kein Präsident vor ihm, die russische Kriegsabsicht zu benennen, muss unter diesem Gesichtspunkt verstanden werden.

Dieses proaktive naming and shaming zwang die russische Seite wiederholt dazu, auf diplomatische Offensiven und Gesprächsangebote des Westens einzugehen. Damit dürfte die öffentliche Diplomatie der Vereinigten Staaten den initialen Plan Moskaus, mit einer false flag-Operation einen Kriegsvorwand zu schaffen und die Ukraine anzugreifen, verkompliziert und möglicherweise auch verzögert haben. Jedoch führte der russische Schachzug, vordergründig eine diplomatische Lösung in Aussicht zu stellen, gepaart mit Falschinformationen über einen angeblichen russischen Truppenabzug, gerade in Deutschland dazu, dass der Aufmarsch fälschlicherweise nicht als tektonische Verschiebung des militärischen Gleichgewichts in Osteuropa verstanden, sondern oftmals als bloßes Säbelrasseln abgetan wurde – getreu dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.

 

Verlust des sicherheitspolitischen Kompasses

 

Deutschland hat das Kalkül Putins und die tatsächlichen Absichten des Kremls bis zuletzt grundlegend falsch eingeschätzt. Mit dem Mantra, die Konflikte ließen sich nicht militärisch lösen, hat sich Berlin bereits in Syrien und Afghanistan den Blick auf eine klare Lagefeststellung verstellt und sich ebenso unnötig wie frühzeitig etlicher Handlungsoptionen beraubt. Denn während die Bundesregierung einseitig auf Verhandlungen in Genf beziehungsweise Doha setzte, schufen die Truppen des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad mit der Hilfe Russlands und Irans im einen Fall und die Taliban im anderen Fall politische Fakten mit militärischen Mitteln. Und genau in diesem Zusammenhang ist das Kernproblem deutscher Sicherheitspolitik zu verorten.

Im Glauben, dass die nach 1990 etablierte europäische Friedensordnung, die Einbindung sämtlicher Akteure des Kalten Krieges in multilaterale Organisationen und die vermeintlich allseitige Anerkennung des Primats der Diplomatie Territorialkonflikte und bewaffnete zwischenstaatliche Auseinandersetzungen in Europa unmöglich machen würden, hat Deutschland seinen sicherheitspolitischen Kompass verloren und sich seiner Verteidigungsfähigkeit beraubt. Stattdessen wurde einseitig auf Verhandlungsformate gesetzt, die teils seit Jahren festgefahren waren und von der Gegenseite nie ernsthaft als Lösungsinstrumente akzeptiert wurden. Waffenexporte an die Ukraine wurden kategorisch ausgeschlossen, um vermeintlich exklusive Gesprächskanäle mit Russland nicht zu verlieren, die sich letztlich jedoch als wertlos erwiesen haben. Diese einseitige Herangehensweise zerschellte schließlich an der harschen Realität des russischen Angriffskrieges. Denn während Berlin noch auf dem diplomatischen Parkett nach seinem Partner suchte, hatte sich dieser bereits ins Gefecht begeben.

In der Bewertung der sicherheitspolitischen Bedrohungslage zum Zeitpunkt der Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht ging die Bundesregierung davon aus, dass ein Szenario, in dem die Bundeswehr in der Landesund Bündnisverteidigung gefragt wäre, höchst unwahrscheinlich sei. Es wurde angenommen, dass eine Vorwarnzeit von etwa zehn Jahren bestünde, um sich auf eine geänderte Bedrohungslage einzustellen, in der umfassende konventionelle Kräfte wieder eine Rolle spielen würden.

 

Bedingt verteidigungsfähig

 

Allerdings wurde dabei übersehen – wie nicht zuletzt die unterschiedliche Interpretation der russischen Krim-Annexion im März 2014 gezeigt hat –, dass es schwierig sein könnte, den Zeitpunkt zu erkennen, der den Beginn dieser zehnjährigen Vorbereitungszeit markiert.

So gingen die verteidigungspolitischen Weichenstellungen der Jahre 2014 bis 2017, auf denen die Zielvorgabe, bis 2031 drei Divisionen mit acht bis zehn volleinsatzfähigen schweren Brigaden aufzustellen, fußt, grundsätzlich in die richtige Richtung. Bei der Implementierung dieser Vorhaben hapert es jedoch erheblich, weil der politische Wille, die notwendigen Strukturen zu schaffen und die erforderlichen (Haushalts-)Mittel bereitzustellen, bisher nur begrenzt vorhanden war. In der Folge ist die Bundeswehr acht Jahre nach der ersten russischen Aggression in Europa nur sehr bedingt zur Landesund Bündnisverteidigung befähigt und weit davon entfernt, die gegenüber den Verbündeten getroffenen Zusagen erfüllen zu können.

Angesichts der jüngst eingetretenen grundlegenden sicherheitspolitischen Lageänderung bedarf es eines „großen Wurfes“ in der deutschen Verteidigungspolitik. Ausgangspunkt hierfür muss die Feststellung des gebotenen Umfangs der deutschen Streitkräfte und die Frage nach der zur Erreichung der entsprechenden Personalstärke geeigneten Wehrreform sein. Die Berufsarmee in ihrer gegenwärtigen Form hat sich trotz der seit Sommer 2015 eingeleiteten „Trendwende Personal“ als unzureichend erwiesen, auch nur ansatzweise die gegenwärtige Zielgröße von 203.000 Soldaten zu erreichen. Da mit Blick auf die absehbare Bedrohungslage der kommenden Jahrzehnte wahrscheinlich eine Zielgröße weit jenseits der gegenwärtigen benötigt wird, um alle erforderlichen Fähigkeiten der Bundeswehr abbilden zu können, wird die Politik nicht umhinkommen, die in der vergangenen Legislaturperiode nur kurz geführte Debatte über die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht für Männer und Frauen wiederaufzunehmen.

 

Deutsche Sicherheitspolitik am Nullpunkt

 

Die Frage, ob Russlands Präsident Wladimir Putin mit seinen Drohgebärden und dem Aufmarsch russischer Streitkräfte an den ukrainischen Grenzen in den vergangenen Monaten geblufft hat oder nicht, ist genauso wie die grundsätzliche Kontroverse zwischen Russlandverstehern und Russlandmahnern entschieden. Die völkerrechtswidrige russische Invasion in die Ukraine stellt die größte Gefahr für einen umfassenden Krieg in Europa seit 1945 dar und wird die internationale Politik so grundlegend verändern wie der Mauerfall oder die Terroranschläge vom 11. September. Anders als 1989 oder 2001 ist Deutschland für die jetzt eingetretene grundlegende Änderung der Sicherheitslage in Europa nicht ansatzweise angemessen aufgestellt. Die deutsche Politik hat es in den entscheidenden Momenten versäumt, die seit 2008 offenkundigen Zeichen der Zeit richtig zu bewerten und die für die Russlandpolitik, aber auch die Sicherheits- und Verteidigungspolitik allgemein, richtigen Schlüsse zu ziehen und gebotene Maßnahmen mit der nötigen Konsequenz zu ergreifen.

Vor allem hat Deutschland den Grundsatz, dass Diplomatie mit einer angemessenen Verteidigungsfähigkeit unterlegt werden muss, um die Option, nicht zu verhandeln, für die andere Seite auszuschließen, offenbar vollkommen aufgegeben – oder schlicht vergessen. Die einseitig auf politische Verhandlungen beschränkte und gleichzeitig gerade einmal zum Einsatz politischer und wirtschaftlicher Sanktionen gewillte Politik ist am 24. Februar 2022 um sechs Uhr Moskauer Zeit wie ein Kartenhaus in sich zusammengebrochen. In der schon absurd anmutenden Aussage, allein durch Finanz- und Wirtschaftshilfen den ukrainischen Staat resilienter machen zu können, ergänzt um die Posse der 5.000 als „Schutzhelme“ bezeichneten Gefechtshelme, fand diese fehlgeleitete Politik ihr tragisches Schlusskapitel.

Gerade Deutschland mit seinem Zivilmachtanspruch, der wertegeleiteten Außenpolitik und der Prämisse, die Herrschaft des (internationalen) Rechts zur Grundlage internationaler Politik zu machen, hat sich als vollkommen unfähig erwiesen, die europäische Friedensordnung zu schützen und einen der gravierendsten Brüche des Völkerrechts in Europa seit 1945 zu verhindern. Dass kaum ein Staat von dieser Friedensordnung so stark profitiert hat wie Deutschland und nur die Bundesrepublik in der Lage wäre, die konventionelle Verteidigung Europas zu gewährleisten, zwingt Berlin zu einer radikalen Kehrtwende. Die Russlandpolitik im Besonderen, aber, viel gravierender, die gesamte Sicherheits- und Verteidigungspolitik der vergangenen Dekaden sind an einem Nullpunkt angekommen.

Dies wird noch dadurch verstärkt, dass das von vielen Beobachtern eigentlich angenommene Worst-Case-Szenario für die westlichen Verbündeten eine gleichzeitige Aggression Chinas im Südchinesischen Meer wäre, was unweigerlich zu einer Überdehnung der amerikanischen Streitkräfte führen würde. Die chinesischen Militärstrategen werden genau beobachten, wie grundlegend und substanziell die europäischen Staaten – und hier kommt Deutschland eine zentrale Bedeutung zu – ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik neu ausrichten und dadurch den amerikanischen Verbündeten entlasten. Nicht die Stärke der NATO hat Putin dazu gezwungen, anzugreifen, sondern die Schwäche der Allianz, vor allem der europäischen Säule, hat dazu eingeladen. Dies darf sich mit Blick auf China nicht wiederholen.

 

Nils Wörmer, geboren 1978 in Duisburg, Leiter der Abteilung Internationale Politik und Sicherheit, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

Philipp Dienstbier, geboren 1990 in Bayreuth, Referent Transatlantische Beziehungen, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

Redaktionsschluss für diesen Beitrag war der 24. Februar 2022.