Westeuropa verdankt die längste friedliche Periode seiner Geschichte vor allem zwei internationalen Organisationen: erstens der Europäischen Union, deren Mitgliedstaaten sich zuvor in zwei Weltkriegen mit Waffengewalt bis aufs Blut bekämpft hatten, dann aber beschlossen, es künftig miteinander zu versuchen und ihre Konflikte nicht mehr auf dem Schlachtfeld auszutragen, sondern in Verhandlungen einen Interessenausgleich zu suchen oder sich den Entscheidungen vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu unterwerfen, und zweitens der NATO, die ihren Mitgliedstaaten verlässliche Sicherheit bot. Mit dem Zerfall der Sowjetunion setzte sich in Westeuropa die Meinung durch, dass sich der wichtigste Zweck des Bündnisses, die Verteidigung der Mitgliedstaaten gegen eine direkte militärische Bedrohung, erübrigt habe. Der Überfall Russlands auf die Ukraine änderte diese Betrachtungsweise abrupt und rückte die Landesverteidigung wieder ganz oben auf die Agenda des Bündnisses. Aber ist die NATO heute so stark wie nie? So stark, wie sie es während des Kalten Krieges war?
Die Entwicklung der NATO von ihrer Gründung 1949 bis zum Fall des Eisernen Vorhangs ist eine Erfolgsgeschichte. Stalin und seine Nachfolger bissen sich an der Allianz die Zähne aus. Sie widerstand allen Drohungen und Provokationen, aber auch allen sowjetischen Verlockungen. Mit der Stationierung Hunderttausender Soldaten in Westeuropa machten die amerikanischen Präsidenten klar, dass sie bedingungslos an der Seite der Westeuropäer standen. In der Bundesrepublik Deutschland hatte Konrad Adenauer mit seiner Politik der Westbindung und durch die feierliche Aufnahme in die NATO am 9. Mai 1955 in Paris die Grundlagen der westdeutschen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik gelegt.
Demonstration militärischer Stärke im Kalten Krieg
„Containment“ hieß die Strategie. Es ging nicht um die Befreiung osteuropäischer Staaten vom sowjetischen Joch, was vorhersehbar zu einer militärischen Konfrontation mit der Sowjetunion geführt hätte. Allerdings gehörten zumindest massive Sanktionen gegen die Staaten des Warschauer Pakts zum Repertoire des „Westens“ – Stichwort COCOM (Coordinating Committee on Multilateral Export Controls, anfangs Coordinating Committee for East West Trade Policy, Koordinationsausschuss für multilaterale Ausfuhrkontrollen) –, die für den Zerfall des maroden Sowjetimperiums mitentscheidend waren.
Ebenfalls mitentscheidend für den Zerfall war die Ostpolitik, war die KSZE-Grundakte, die allmählich den Ostblock zersetzte und die Zivilgesellschaft insbesondere in Polen stärkte und ermutigte. Allerdings basierte die Ostpolitik auf einem felsenfesten militärischen Fundament: dem NATO-Bündnis. Die Ostpolitik wurde aus einer Position der Stärke gestaltet. Bundeskanzler Olaf Scholz verwies in seiner Rede anlässlich des 50. Jahrestages der Mitgliedschaft Deutschlands in den Vereinten Nationen auf die verdienstvolle Versöhnungsarbeit Willy Brandts, in deren Tradition sich die Bundesregierung sieht. Was Olaf Scholz nicht erwähnte, war die Tatsache, dass Willy Brandt seine Avancen gegenüber den Staaten des Ostblocks auf einer starken militärischen Basis unterbreitete: Über drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts gab die sozialliberale Regierung seinerzeit für Verteidigung aus – mehr als doppelt so viel wie heute. Bis zu 500.000 Soldaten dienten in der Bundeswehr und garantierten zusammen mit ihren Kameradinnen und Kameraden aus den anderen NATO-Staaten für europäische Sicherheit. Dass die Bundeswehr mit modernsten Waffensystemen ausgestattet wurde, war für die Regierung ebenso selbstverständlich wie die Nukleare Teilhabe.
Letztlich versetzte ein weiterer sozialdemokratischer Bundeskanzler, Helmut Schmidt, dem Warschauer Pakt den Todesstoß, als er mit dem NATO-Doppelbeschluss erst die Amerikaner zur Grundsatzentscheidung über die Stationierung nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa und damit die Russen zum Einlenken und zum Verzicht auf die SS-20-Raketen brachte. Nach dem Scheitern der Genfer Verhandlungen im November 1982 war es die christdemokratisch-liberal geführte Regierung unter Bundeskanzler Helmut Kohl, die die Aufstellung atomar bestückter Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik gegen heftige innenpolitische Widerstände durchsetzte. Die Grundlage für Frieden in Europa und den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts war eine selbstbewusste NATO, war die Demonstration militärischer Stärke vonseiten der transatlantischen freiheitlichen Demokratien.
„Landesverteidigung“ nicht mehr ernst genommen
Am 9. November 1989 symbolisierte der Fall der Berliner Mauer das Ende der Sowjetunion und des Warschauer Pakts. Es war auch ein Sieg der NATO. Ronald Reagans konsequente Politik der Verhandlungen mit Moskau auf Grundlage einer Position der militärischen Stärke und der kompromisslosen Wirtschaftssanktionen hatte sich durchgesetzt. Michail Gorbatschow hatte zwar nicht persönlich Hand angelegt, aber er ließ geschehen, dass die Ostberliner die Aufforderung Reagans umsetzten und die Mauer niederrissen.
Mit dem Ende der Sowjetunion und der direkten militärischen Bedrohung Deutschlands und Europas durch das neue Russland stand „Landesverteidigung“ zwar noch auf der Aufgabenliste der NATO, allerdings nahmen Mitgliedstaaten diese Aufgabe nicht mehr ernst. Die Verteidigungshaushalte wurden gekürzt, Wehrpflichtarmeen abgeschafft. Dass einige Nachbarn Russlands – beispielsweise Finnland – diesen Enthusiasmus nicht in gleichem Ausmaß teilten, wurde nicht ernsthaft zur Kenntnis genommen. Die NATO nahm Länder auf, die sich vom sowjetischen Joch befreit hatten, investierte in Partnerschaftsabkommen und konzentrierte sich auf Kriseninterventionen vom Balkan bis nach Afghanistan. Für solche Operationen benötigte man nur spezielle und begrenzte Fähigkeiten, wobei sich die Europäer wie im Kalten Krieg auf die Amerikaner verließen, die – wenn es um militärische Einsätze ging – die Führung übernahmen und die kritischen militärischen Fähigkeiten stellten.
Zwar hatte sich in der größer werdenden Europäischen Union grundsätzlich die Überzeugung durchgesetzt, dass auch eine eigene europäische Verteidigung mit eigenen Krisenreaktionsfähigkeiten aufgebaut werden müsse, die für den Fall einsetzbar sein würden, sollten die Amerikaner einmal nicht zur Verfügung stehen, doch dieser Erkenntnis folgten keine Taten. Von den vor zwanzig Jahren geplanten europäischen Battle Groups fehlt jede Spur. Als sich im Sommer 2021 die Amerikaner Hals über Kopf aus Afghanistan verabschiedeten, standen die Europäer dort schutzlos da. Sie waren nicht einmal in der Lage, den Flughafen von Kabul zu schützen, um ihre Soldaten, Landsleute und Schutzbefohlenen zu evakuieren. Die Amerikaner standen wieder einmal bereit, um zu helfen.
Konfrontation statt Kooperation
In der Mitte der 2000er-Jahre begann sich der Wind zu drehen. Die Hoffnungen auf ein partnerschaftliches Verhältnis zu Russland hatten sich zerschlagen. Der russische Präsident hatte den von seinen Vorgängern Gorbatschow und Boris Jelzin und den von ihm selbst zu Beginn noch verfolgten Weg der Kooperation verlassen und zum Machterhalt auf Basis von Nationalismus und Konfrontation gesetzt. Die Interventionen in Georgien, in Syrien an der Seite des brutalen Diktators Baschar al-Assad, in Libyen an der Seite des Milizenführers Chalifa Haftar, in der Zentralafrikanischen Republik und an weiteren Orten verdeutlichten den neuen Kurs Moskaus. Mit dem Überfall 2014/15 auf den Südosten der Ukraine und der Annexion der Krim machte Putin deutlich, dass ihm an einer neuen partnerschaftlichen Friedensordnung in Europa nichts lag: Konfrontation anstatt Kooperation.
Bei der NATO klingelten die Alarmglocken. Bei einem Sondergipfel in Wales im September 2014 verpflichteten sich die NATO-Partner feierlich, innerhalb von spätestens zehn Jahren zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben. Die klassische Landesverteidigung rückte vom Nebengleis wieder in den Mittelpunkt. Zurück in ihren Amtsstuben und unter dem Einfluss vieler anderer dringender Aufgaben versiegte der Enthusiasmus allerdings schnell; die Steigerungen der Haushalte und die damit bezweckte verbesserte Ausstattung der NATO-Streitkräfte blieb weit hinter den eingegangenen Verpflichtungen zurück. Die Stabilisierung der Lage in der Ukraine durch die Minsk-Abkommen taten ihr Übriges, und mit dem Abschluss des North Stream 2-Abkommens setzten sich ein letztes Mal die Gutgläubigen durch, die immer noch an ein gedeihliches Auskommen mit Russland glaubten.
Der Schreck fuhr den NATO-Staats- und Regierungschefs im Mai 2017 erneut in die Glieder, als der neu gewählte amerikanische Präsident Donald Trump bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel nicht etwa das Bündnis hochleben ließ und das amerikanische Bekenntnis zur europäischen Sicherheit wiederholte, sondern einen massiven verbalen Angriff auf die säumigen NATO-Beitragszahler unternahm. Mit gesenkten Häuptern verließen die Angesprochenen Brüssel in der Hoffnung, dass der Trump’sche Ärger schon verrauchen und das Washingtoner politische und militärische Establishment das Schlimmste verhindern würde. Mit der Wahl des Transatlantikers Joe Biden ging ein Aufatmen durch die NATO: Es war noch einmal gutgegangen! Die Überzeugung machte sich breit, dass die guten alten Zeiten zurück seien; die USA würden schon in die Bresche springen, wenn Not am Mann wäre.
Den Ernst der Stunde erkannt?
Mit seinem Überfall auf die Ukraine am 22. Februar 2022 beging Wladimir Putin einen Zivilisationsbruch. Er verletzte zahlreiche völkerrechtliche Abkommen, er verstieß gegen die Charta der Vereinten Nationen, er beging schwerste Kriegsverbrechen. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg verneinte der Präsident eines europäischen Staates das Existenzrecht eines anderen und versuchte, diesen Staat und seine Identität auszulöschen. Als Nicht-Mitgliedstaat konnte sich die Ukraine nicht auf Artikel 5 des NATO-Vertrags berufen und damit den Bündnisfall auslösen. Mit den von Putin und seinen Vasallen verkündeten weitergehenden Ansprüchen auf Gebiete, die in der Vergangenheit zur Sowjetunion oder zum russischen Zarenreich gehört hatten, war klar, dass die NATO auf ihre Gründungszeit und ihre existenzielle Bedrohung vonseiten Russlands zurückgeworfen war.
Die NATO-Staaten reagierten konsequent und stellten die kollektive Verteidigung wieder in den Mittelpunkt ihrer Allianzpolitik. Sie verpflichteten sich nicht nur erneut, das Zwei-Prozent-Ziel umzusetzen, sondern vereinbarten auf ihrem Gipfel in Vilnius im Juli 2023 sogar, dass diese zwei Prozent die Untergrenze ihrer Verteidigungsausgaben darstellen würden. Als bevölkerungsreichster und wirtschaftsstärkster europäischer NATO-Mitgliedstaat stand und steht Deutschland im Zentrum der Neuorientierung. Ja, die Glaubwürdigkeit der Allianz hängt an der Umsetzung der getroffenen Bündnisentscheidungen in Deutschland. Mit der Verkündigung eines 100-MilliardenEuro-Sonderfonds und der Versicherung, der gegenüber den NATO-Verbündeten eingegangenen Zwei-Prozent-Verpflichtung tatsächlich nachzukommen, setzte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner historisch zu nennenden Rede am 27. Februar 2022 vor dem Deutschen Bundestag ein eindrucksvolles Zeichen: Deutschland habe den Ernst der Stunde erkannt; die Politik der ausgestreckten Hand, des „Wandels durch Handel“ habe nicht den erwünschten Erfolg gehabt. Dabei wusste der Bundeskanzler die deutsche Bevölkerung hinter sich; seine Zustimmungsquoten waren vor und nach seiner Zeitenwende-Rede vor dem Deutschen Bundestag nie wieder so hoch wie am 27. Februar.
In anderen NATO-Staaten fielen die Reaktionen ähnlich aus. Vor allem die osteuropäischen Staaten, die immer wieder vor dem aggressiver werdenden Russland gewarnt hatten, sahen sich in ihren Befürchtungen bestätigt und setzten sich an die Spitze nicht nur der Unterstützung der Ukraine, sondern auch der Umsetzung der eingegangenen NATO-Verpflichtungen.
Und Deutschland lieferte: Mit der Bestellung der amerikanischen F-35-Kampfflugzeuge im März 2022 untermauerte die Bundesregierung ihren Willen, an der nuklearen Teilhabe festzuhalten. Weitere lange aufgeschobene Beschaffungsentscheidungen wurden getroffen. Als Zeichen, dass der Ernst der Lage nun endlich erkannt worden ist, versprach Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius Ende Juni 2023 die Entsendung einer Bundeswehrbrigade nach Litauen: So wie die USA und die andere Alliierten während des Kalten Krieges ihre Soldaten zur glaubwürdigen Verteidigung im seinerzeitigen Frontstaat West-Deutschland stationiert hatten, so zeigte das wiedervereinigte Deutschland seine Bereitschaft, jetzt seinerseits als Garant von Sicherheit seine Truppen in einen der neuen Frontstaaten zu verlegen.
Neuerliche Zögerlichkeit
Diese positiven Signale wurden allerdings durch neuerliche Zögerlichkeiten relativiert. Die Bundesregierung weckte Zweifel an ihrer Ernsthaftigkeit und ihrem politischen Willen, die Zeitenwende tatsächlich auch nachhaltig umzusetzen. So lehnte die Bundesregierung bei der Aufstellung des Bundeshaushalts 2024 die Festlegung der Zwei-Prozent-Quote im Haushaltsgesetz ab. Viel verheerender war die Veröffentlichung der mittelfristigen Finanzplanung, die schwarz auf weiß die Zeitenwende als eine lediglich kurzfristige Kurskorrektur enttarnte: Nach dem Verbrauch des Sondervermögens würde der Verteidigungshaushalt wieder auf das Niveau von rund 1,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zurückfallen. Und das erfolgte ohne einen größeren Aufschrei in der Regierung oder im Parlament.
Nach den Planungen der Bundesregierung wird Deutschland also nicht nur sein Versprechen gegenüber den Verbündeten brechen, sondern einem eventuell erneut gewählten US-Präsidenten Donald Trump einen Vorwand für den von ihm in seiner ersten Amtszeit angedrohten Rückzug aus der NATO auf dem Silbertablett servieren, da seine entsprechenden Warnungen an die Verbündeten, ihren Verpflichtungen nachzukommen, offensichtlich nicht ernst genommen werden. Auch der russische Diktator Putin wird sich ermutigt fühlen, seine Aggression fortzusetzen; Putin hat schon seit einiger Zeit öffentlich geäußert, dass er dem Westen keine Durchhaltefähigkeit zutraut. Nein, die NATO ist – zumindest was Deutschland anbelangt – nicht auf dem Weg zurück zur alten Stärke. Angesichts großer wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen findet die Bundesregierung nicht den Mut, den Deutschen reinen Wein einzuschenken und ihnen zu sagen, dass unsere Sicherheit tatsächlich durch Putin in Gefahr ist. „Es kann nicht sein, was nicht sein darf!“ Diesem Motto zu folgen, ist viel zu gefährlich: Putin hat dies mit seinem verbrecherischen Angriff auf die Ukraine bewiesen. Die Bundesregierung muss die Sicherheit der Deutschen und ihrer Bündnispartner garantieren. Dazu ist Führung und Verantwortung gefragt. Dass die Deutschen konsequente Führung wünschen, zeigen alle Umfrageergebnisse, zeigte die hohe Zustimmung zur Zeitenwende-Rede des Bundeskanzlers.
Christoph Heusgen, geboren 1955 bei Neuss am Rhein, 2017 bis 2021 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen in New York, seit 2022 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz.