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Spotlights: Kriminalität global

Berichte aus fünf Ländern

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DAS SICHERSTE LAND DER WELT

Gesellschaftliche Aspekte von Kriminalität und Verbrechen in Japan

Wie kann es sein, Japan eines der sichersten Länder der Welt? Die Ausgangslage war eine ganz andere: Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg war Nippon alles andere als sicher: In den 1950er-Jahren zählte es noch 4.000 Mordfälle pro Jahr, die Polizei registrierte weit über 150.000 gewaltbereite Gangster. Das waren die sogenannten Yakuza, betitelt nach der wertlosen Zahlenkombination eines traditionellen, dem Black Jack vergleichbaren japanischen Kartenspiels, die, straff organisiert in unterschiedlichen polizeibekannten Gruppen, ihren weitverzweigten illegalen Geschäften wie Schutzgelderpressung, Drogenhandel, Geldwäsche, Wetteinnahmen und Börsenspekulationen nachgingen. In einer Art staatlich geduldeter Parallelwelt folgten sie eigenen Gesetzen und Ritualen. Die von den Yakuza beherrschte Vergnügungsindustrie, deren Casinos allein über 250 Milliarden Euro Reingewinn jährlich einspielen, ist nur ein Teilbereich der florierenden Geschäfte.

Das soziale Phänomen dieser mal im Untergrund, mal im Halbschatten, dann wieder öffentlich operierenden japantypischen Hierarchie- und Bandenkriminalität, der sich zunehmend auch Angehörige der verachteten koreanischen Minderheit im Lande angeschlossen haben, ist bis in unsere Zeit erhalten geblieben. Mitgliederzahlen der japanischen Gangsterkonzerne mögen sich mittlerweile stark verringert, die Herkunftsmilieus verschoben und die Yakuza ihre engmaschigen Beziehungen auch auf ultranationalistische innen- und parteipolitische Kanäle sowie die erneut boomende Immobilienwirtschaft ausgedehnt haben. Am allgegenwärtigen, geradezu faszinierend gesellschaftsprägenden Einfluss der etablierten Syndikate hat sich wenig geändert, vielen Klischees über Japans harmonisch befriedete Sozialstruktur zum Trotz.

Wie keine zweite hoch entwickelte Industrienation wird das Land quasi doppelt regiert und von einer einheimischen Mafia durchsetzt und beherrscht, die sich nicht um geltende Strafgesetze zu scheren scheint, wohl aber sklavisch an ihre eigenen überlieferten Regeln hält. Wer diese bricht oder nicht verstanden hat, verliert zuerst die Fingerkuppen, später durchaus mehr.

Heute wird kaum ein Kultur- oder Reiseführer über Japan müde, die beruhigende Ungefährlichkeit des Landes für Touristen und andere Normalbürger inklusive des riesigen Großraums Tokio mit seinen über dreißig Millionen Menschen als besonderes Merkmal der japanischen Gesellschaft hervorzuheben: ein scheinbar überwiegend verbrechensfreier Hort des Schutzes und der Sicherheit.

Woran liegt das? Neben technischen Instrumenten, wie Tausenden von Überwachungskameras nach Londoner Vorbild, einer hohen Dichte polizeiinstitutioneller Dienststellen an praktisch jeder Straßenecke kommen spezifisch kulturelle Aspekte: Überalterung der Bevölkerung, damit einhergehend wenig Eigentumsdelikte, enge soziale Verflechtung in der Gesellschaft und ausgeprägt denunzierende Nachbarschaftskontrolle. Auch die drakonischen Gesetze des Staates dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Japan kennt noch immer die Vollstreckung der Todesstrafe. Seit Kriegsende wurden über 700 Menschen gehängt.

Die allgemeinen Tendenzen bei der Kriminalität sind rückläufig: Im Jahr 2017 gab es erstmalig unter eine Million Delikte, die meisten davon Diebstähle. Die Mordrate blieb unterhalb der Schwelle von 1.000; auch dies bei immerhin 127 Millionen Einwohnern eine verschwindend geringe Zahl. Strengste Waffengesetze, an die sich im Allgemeinen auch die Yakuza halten, und eine rigide xenophobische Immigrations- und Zuwanderungspolitik begrenzen die Straftaten. Hinzu kommt eine statistisch frappierend hohe Aufklärungsquote aller Verbrechen, die jedoch mit angeblich 99 Prozent etwas geschönt erscheint. Zum Vergleich: In Deutschland liegt sie bei 85 Prozent, in den USA bei 60 Prozent.

In der Tat beweisen etliche Wiederaufnahmeverfahren, dass nicht wenige Tötungsdelikte in Japan vorschnell als Suizid eingestuft und für erledigt gehalten werden. Alle fünfzehn Minuten bringt sich ein Mensch um. Japan hält damit den traurigen Rekord als Land mit der höchsten Selbstmordrate der Welt.

Die sprichwörtliche Höflichkeit der Japaner wird von manchem Ausländer oft mit empathischer Freundlichkeit verwechselt, deren anfangs euphorisch vermutete Tiefe allerdings nicht selten enttäuscht zu der Erkenntnis führt, dass hinter Konvention und Ritus ein ausgeklügeltes, jedoch fassadenhaft starres Regelwerk erfahrbar wird, das die erwartete echte Zuneigung nicht immer wiedergibt.

Gleichzeitig aber steuern ein stets präsentes Wissen um unerbittliche soziale Sanktionen und der vorgeformte Verhaltenskodex die rechtschaffene Gestaltung menschlicher Beziehungen im japanischen Gemeinwesen. Moralische Richtschnur ist das Schamgefühl, das heißt die stete Sorge, in der als maßgebend verinnerlichten Gesellschaft nicht Aufsehen zu erregen oder ihr zur Last zu fallen. Bevor man sich aufgrund eines gegen diese Gesellschaft gerichteten Vergehens schämen muss – der westliche Schuldbegriff funktioniert hier nicht –, lässt man es zur Sicherheit meistens bleiben.

Thomas Awe

Leiter des Auslandsbüros Japan und des Regionalprogramms Soziale Ordnungspolitik in Asien (SOPAS) der Konrad-Adenauer-Stiftung

TRADITION DER GEWALT

Kriminalität in Zentralamerika

Guatemala, Honduras und El Salvador bilden das „Nördliche Dreieck“ in Zentralamerika. Dieser Begriff, der einst für ein Wirtschaftsprogramm zugunsten der regionalen Integration der drei Länder stand, ist heute aus der Perspektive der Kriminalität ein Synonym für ein Dreieck von Gewalt, Verbrechen und Staatsversagen geworden. Nirgendwo sonst auf der Welt ist die Mordrate außerhalb von Kriegsgebieten so hoch wie in den drei mittelamerikanischen Staaten. Laut einer Statistik der Vereinten Nationen liegt die höchste Mordrate mit neunzig Opfern pro 100.000 Einwohner in Honduras. Auf Platz zwei und drei folgen El Salvador mit 41 und Guatemala mit vierzig Mordopfern pro 100.000 Einwohner. Der globale Durchschnitt liegt bei 6,2 Morden.

Diese Zahlen bilden eine grausame Realität ab, mit der die rund dreißig Millionen Menschen, die in den drei Ländern leben, täglich konfrontiert sind. Das Zahlenwerk erklärt jedoch weder die Ursachen dieser Gewaltspirale, noch lassen sich daraus die bisherigen Erfolge der Justiz und Politik sowie das vielfältige Engagement kirchlicher und zivilgesellschaftlicher Initiativen ablesen.

Die Anfänge der von Soziologen so bezeichneten „Gewalttradition“ und des daraus resultierenden Netzes aus Bandenkriminalität, Korruption, fehlendem Gewaltmonopol und Drogenhandel liegen in den Bürgerkriegen Guatemalas (1960–1996) und El Salvadors (1980–1991). In den Bürgerkriegen, die über 100.000 Todesopfer forderten, wurden viele Gräueltaten besonders gegen die indigene Bevölkerung der Region verübt. Honduras teilt die Bürgerkriegsgeschichte nicht, war aber in eine Vielzahl der regionalen Konflikte verwickelt.

Die Unterzeichnung der Friedensverträge und die Installation demokratischer Institutionen beendeten zwar die Bürgerkriege in den 1990er-Jahren, jedoch nicht die Migrationswellen in das US-amerikanische Ausland, wo sich Parallelgesellschaften der Bürgerkriegsflüchtlinge bildeten. Eine ganze Generation, traumatisiert von den Gewalterfahrungen, glaubte, den Verbrechen und der wirtschaftlichen Ausweglosigkeit ihrer Heimatländer entflohen zu sein, sah sich aber nunmehr als neues Schlusslicht in einer Gesellschaft, in die sie sich kaum integrieren konnte. Arbeitslosigkeit, Analphabetismus und Drogenabhängigkeit waren der Nährboden für das Entstehen der sogenannten Maras. Die Banden, anfänglich Jugendgangs in den Vororten von Los Angeles, wurden zu kriminellen Organisationen, die Geschäften im Drogenhandel, Prostitution, Erpressung und Auftragsmord nachgingen. Bald hatte dies Auswirkungen auf ihre Ursprungsländer.

Gleichzeitig bildeten Drogentransitkartelle in den bürgerkriegsgeschwächten Heimatländern Parallelstrukturen zu den schwachen staatlichen Institutionen. Die Kartelle kontrollieren ganze Regionen, von denen sie fast ungehindert die in den Andenländern produzierten Drogen in die USA bringen. So wuchsen sie zur einflussreichsten Macht im Staat, organisierten die öffentliche Ordnung, fungierten sogar als „soziale Institution“, um die Bevölkerung gewogen zu halten.

Als nach einem Beschluss des US-Kongresses zwischen den Jahren 2000 und 2004 rund 20.000 zuvor inhaftierte beziehungsweise vorbestrafte Mitglieder von Maras in ihre mittelamerikanischen Länder abgeschoben wurden, bildete sich eine neue explosive Mischung von kriminalitätserfahrenen Gruppierungen. Der daraus zwangsläufig entstehende Konkurrenzkampf zwischen Maras und Kartellen war der Beginn einer neuen Spirale der Gewalt, die nicht nur durch eine hohe soziale Ungleichheit und Perspektivlosigkeit, sondern auch durch das Versagen eines korrupten Staatsapparats immer stärker zunahm.

Dennoch gelingt es Teilen der Öffentlichkeit, die Zugang zu einer wertebasierten Bildung haben, der weit verbreiteten Kultur des Misstrauens neue Impulse eines gesellschaftlichen Miteinanders entgegenzusetzen. So entstehen immer mehr zivilgesellschaftliche Gruppen und eine kritische Öffentlichkeit, die ein Gemeinwesen der Abschottung und des Wegschauens nicht mehr akzeptieren. Als 2015 der frühere guatemaltekische Präsident Pérez Molina wegen Korruption und krimineller Geschäfte verhaftet wurde, erreichte die Empörungswelle ihren Höhepunkt. Dies zeigt, dass eine kulturelle Veränderung hin zu Zivilcourage, Korruptionsächtung und Akzeptanz der Justiz nur aus der Mitte der Gesellschaft heraus entstehen kann – ein Lösungsansatz, der für die ganze Region des Nördlichen Dreiecks“ von Bedeutung ist und die Verantwortung der westlichen Staatengemeinschaft unterstreicht, neben Regierungen auch die Akteure der Zivilgesellschaft zu stärken. Eine effektive Ursachenbekämpfung wird langfristig jedoch nur durch eine Stärkung der Wirtschaft und die damit verbundene Schaffung neuer Arbeitsplätze erfolgen können. Staaten, deren Bruttoinlandsprodukt zwischen zehn und zwanzig Prozent durch Auslandsüberweisungen von Millionen meist illegal in den USA lebenden Landsleuten gestützt wird, brauchen dringend eigene Beschäftigungsperspektiven. Sollte es zu einer zweiten Abschiebungswelle aus den USA kommen, zum Beispiel durch die Aufkündigung des temporären Schutzprogrammes TPS (Temporary Protected Status), wären die Folgen nicht nur für die Sicherheit im „Nördlichen Dreieck“ fatal.

Ruben Alexander Schuster

Leiter des Auslandsbüros Guatemala/Honduras der Konrad-Adenauer-Stiftung

EIN PROBLEMFALL MIT HOFFNUNG?

Die Brüsseler Gemeinde Molenbeek

Nach den Terroranschlägen in Paris vom November 2015 richtete sich die Aufmerksamkeit schnell auf Brüssel und dort auf die Gemeinde Molenbeek, die kaum einen Kilometer vom historischen Stadtzentrum entfernt liegt. Drei der Attentäter von Paris stammten von dort, in Molenbeek wurde die Tat geplant. Bereits in der Vergangenheit hatte die Gemeinde in direktem Bezug zu Gewalt und Terrorismus gestanden. Nun geschah es, dass der einzige überlebende Terrorist der Pariser Anschläge, Salah Abdeslam, sich trotz intensiver Fahndung mehr als vier Monate lang dort verstecken konnte.

Molenbeek, mit rund 100.000 Einwohnern auf knapp sechs Quadratkilometern eines der besonders dicht bewohnten Viertel der Stadt, ist durch einen außerordentlich hohen Anteil an Menschen geprägt, die einen nicht-belgischen Hintergrund haben. Die Gemeinde selbst wird durch eine Bahnlinie getrennt: Dabei liegt der Anteil der Bewohner mit Migrationshintergrund im östlichen Teil bei über neunzig Prozent. Mit einem jährlichen Nettoeinkommen von durchschnittlich rund 7.000 Euro gehört er zu den ärmsten des Landes. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt rund vierzig Prozent.

Angesichts dieser Zahlen ist bemerkenswert, dass ein großer Teil der molenbeekois bereits seit langer Zeit, viele bereits ihr ganzes Leben, dort wohnen. So ist in Molenbeek eine Parallelgesellschaft entstanden, deren Mitglieder wenig Kontakt zu anderen Bevölkerungsteilen haben. Von großer Bedeutung für diese Entwicklung ist die innere Homogenität verschiedener Gruppen in Molenbeek, insbesondere der Bewohner marokkanischen Ursprungs, die rund vierzig Prozent der Bevölkerung stellen.

Nach den Anschlägen von Paris geriet zunehmend der Zusammenhang von Terrorismus und existierenden kriminellen Strukturen sowie Alltagskriminalität in den Fokus. Alle drei Terroristen, die aus Molenbeek stammten, hatten eine kriminelle Vorgeschichte. Die ungünstigen sozioökonomischen Bedingungen in Molenbeek, das mangelhafte Bildungsniveau der Bewohner und ein schwieriges Verhältnis der Gemeinschaft zur Polizei begünstigen kleinkriminelle Strukturen und ermöglichen der Organisierten Kriminalität und Terrorgruppen, ihre Netzwerke auszubreiten.

Im Rahmen des sogenannten „Kanal-Plans“ haben die Behörden die Polizeipräsenz in Molenbeek und anderen Gemeinden deutlich verstärkt. Die Bewohner von rund 11.000 Gebäuden und 1.600 Nichtregierungsorganisationen wurden inzwischen überprüft, 1.500 Personen erhielten eine administrative Verwarnung. Der verstärkte Einsatz zeigt Wirkung: In der ersten Jahreshälfte 2017 wurden vierzehn Prozent weniger Kriminalitätsfälle registriert als im gleichen Vorjahreszeitraum.

Molenbeek reiht sich in den landesweiten Trend sinkender Kriminalitätsraten ein. Seit 2011 ging die Kriminalität in Belgien um rund siebzehn Prozent zurück. 2011 wurden insgesamt 1,06 Millionen Straftaten registriert, 2016 war die Gesamtzahl bereits auf 885.000 zurückgegangen. Diebstähle und Erpressungen stellen mit vierzig Prozent den Hauptteil der Delikte dar. Zurückzuführen ist das sinkende Kriminalitätsniveau auf eine landesweit verstärkte Polizeipräsenz.

Dass die desolate Situation Molenbeeks keine Naturgegebenheit ist, sondern auch auf einer jahrzehntelangen Vernachlässigung beruht, zeigt das positive Beispiel der flämischen Stadt Mechelen. Die 90.000 Einwohner große Stadt zwischen Brüssel und Antwerpen hat eine ähnliche Bevölkerungsstruktur wie Molenbeek und galt noch Anfang der 2000erJahre als „dreckigste Stadt in Flandern“. Die dortige Kriminalitätsrate war damals die höchste Belgiens. 2001 wurde mit Bart Somers ein Mann Bürgermeister Mechelens, der die Stadt einem radikalen Programm unterzog, das eine Null-Toleranz-Politik in Sachen Kriminalität mit einem multikulturellen Ansatz von Prävention und Inklusion kombinierte. Neben mehr Polizisten und einer umfassenden Videoüberwachung setzte Somers auf eine starke Einbindung der familiären

Strukturen und eine Aufwertung der individuellen Lebensbedingungen.

Die Ergebnisse in Mechelen sprechen für sich: Von 2000 bis 2015 ging die Straßenkriminalität um 75 Prozent zurück, Wohnungseinbrüche um 55 Prozent – der beste Wert in ganz Belgien. Für seine Leistung erhielt Bart Somers 2016 eine Auszeichnung als weltbester Bürgermeister. Für die Behörden in Brüssel, aber auch darüber hinaus könnte dies ein weiterer Ansporn sein, seinem Vorbild zu folgen.

Hardy Ostry

Leiter des Europabüros Brüssel der Konrad-Adenauer-Stiftung

Mathias Koch

Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Europabüro Brüssel der Konrad-Adenauer-Stiftung

EINE ROLEX FÜR DEN GANGSTER

Weniger Morde, mehr Raub in Südafrika

Alles ging schnell: Vier Männer in einem VW Polo folgten dem deutschen Urlauberpaar auf das Gelände der Pension im verkehrsberuhigten Villenviertel in Dunkeld, Johannesburg. „Das ist eine Entführung!“, rief einer der Männer mit einer Waffe in der Hand, erkannte aber schnell den Wert der Rolex am Handgelenk des Urlaubers. Damit gaben sich die Täter zufrieden und flüchteten, noch bevor der private Sicherheitsdienst eintraf, der rund um die Uhr im Viertel Patrouille fährt. Nicht länger als zwei Minuten dauerte der Überfall, der in unmittelbarer Nähe des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung stattfand und schlimmer hätte enden können.

Während auswärtige Touristen überwiegend verschont bleiben, haben die Südafrikaner gelernt, mit der Unsicherheit umzugehen. Entsprechend hat man sich auf ein Leben mit der Kriminalität eingerichtet: Mauern, Zäune, Stacheldraht, Gitter, Wachdienste, Hunde, Bewegungsmelder, Alarmanlagen, Warnschilder, extra gesicherte Räume in den eigenen vier Wänden oder der Notruf per Knopfdruck gehören zu den gängigen Sicherheitsmaßnahmen. Die Nichtregierungsorganisation

  1. MakeSASafe
hat sogar die App Namola entwickelt, damit Bürger mithelfen, das Land sicherer zu machen.

Laut des United Nations Office on Drugs and Crime (UNDOC) zählt Südafrika mit rund 31 Morden pro 100.000 Einwohner zu den gefährlichsten Ländern der Welt. Mitte der 1990er-Jahre betrug die Mordrate sogar das Doppelte, konnte jedoch dank einer strengeren Kontrolle und Eindämmung von Handfeuerwaffen reduziert werden. Auch in Johannesburg hat sich die Situation in den letzten Jahren leicht entspannt. Die größte Stadt des Landes befindet sich nicht mehr in der Statistik der fünfzig gefährlichsten Städte der Welt, zählt aber nach wie vor zur „Einbruchshauptstadt“ des Landes. Kapstadt und Port Elizabeth hingegen haben weiterhin mit hohen Mordraten zu kämpfen, sie stehen in der Liste der gefährlichsten Städte der Welt auf dem 17. beziehungsweise 46. Platz (vgl. Jahresranking der mexikanischen Nichtregierungsorganisation Seguridad, Justicia y Paz 2017 oder Ranking des brasilianischen Igarapé-Instituts).

Während die Mordraten in den letzten zwanzig Jahren gesunken sind, steigen die Zahlen für Raubüberfälle an. Die Polizei ist trotz einiger Erfolge seit vielen Jahren nicht imstande, Herr der Lage zu werden. Das bezeugen auch die florierenden Geschäfte des privaten Sicherheitsgewerbes. Die Gründe für die ungenügende Effizienz der Polizei sind vielschichtig. Neben unzureichender Personal- und Materialausstattung gehören eine mangelhafte Qualifikation und Unterbezahlung zu den immer wieder angeführten Ursachen. Korruption im Polizeikorps ist die Folge und ein sich selbst verfestigendes Problem, wenn sich Korruption als gängiges Sozialverhalten etabliert hat.

In einer qualitativen Studie fand Rudolph Zinn, Professor an der Universität von Südafrika, heraus, dass sich Einbrecher vor allem auf die Mittelschicht konzentrieren. Hautfarbe spielt bei der Auswahl der Opfer keine Rolle. Das hohe Maß an Gewaltbereitschaft der Täter, dazu zählt auch Folter bis hin zum Mord, war ein weiteres erschreckendes Ergebnis der Untersuchung, die auch auf den sozialen Hintergrund der Täter einging. Demnach haben die meisten Täter ein kriminelles „Vorbild“ im sozialen Umfeld, dessen üppiger Lebensstil anziehend wirkt. Einnahmen aus Beutezügen werden für Autos, Markenkleidung, Drogen und Alkohol verwendet. Nur ein Drittel der befragten Täter gab an, auch zum Überleben Notwendiges wie Essen oder Strom aus den „Erträgen“ der Raubzüge zu bezahlen. Vier Fünftel der Befragten bekundeten, dass der Familien- und Freundeskreis von den kriminellen Aktivitäten wüsste. Zwar ist die Studie „nur“ qualitativer Natur und nicht repräsentativ, allerdings offenbart sie, dass es in Südafrika in bestimmten gesellschaftlichen Milieus eine Kultur der Kriminalität gibt.

Das Centre for the Study of Violence and Reconciliation nennt Faktoren, die ebenso auf eine tiefe gesellschaftliche Verwurzelung der Kriminalität hindeuten. Die staatliche Strafverfolgung ist ineffizient, das Justizsystem korrupt. Darüber hinaus verstärken Armut, (Jugend-)Arbeitslosigkeit und Marginalisierung die ökonomische Ungleichheit in der Gesellschaft und bilden den Nährboden für kriminelle „Karrieren“. Es stellt sich eine „Normalisierung der Gewalt“ ein, das heißt, Gewalt im Alltag wird besonders in sozial schwachen Milieus als nichts Ungewöhnliches wahrgenommen. Nicht nur Raub, sondern auch Vergewaltigung ist infolgedessen weit verbreitet, unter der vor allem Frauen aus den unteren, vulnerablen Bevölkerungsschichten leiden.

Dass Südafrika in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Mordrate signifikant senken konnte, ist als Erfolg zu werten. Dennoch sind deutlich größere Anstrengungen seitens der Regierung notwendig, um die Kriminalität einzudämmen. Das betrifft sowohl die akute Kriminalitätsbekämpfung als auch die Beseitigung sozialer Missstände, die für die ausufernde Kriminalität ursächlich sind.

Quellen

Centre for the Study of Violence and Reconciliation, www.csvr.org.za

Safer Spaces: The State of Urban Safety in South Africa Report 2017, www.saferspaces.org.za/

resources/entry/the-state-of-urban-safety-in-southafrica-report-2017

South African Police Service (SAPS), Department of Police, www.saps.gov.za/services/crimestats

United Nations Office on Drugs and Crime (UNDOC): Global Study on Homocides, www.unodc.org/gsh/

Rudolph Zinn: Home Invasion: Robbers disclose what you should know, Tafelberg 2010

Henning Suhr

Leiter des Auslandsbüros Südafrika der Konrad-Adenauer-Stiftung

ALLGEGENWÄRTIGER ÜBERWACHUNGSSTAAT?

Das Sozialpunktesystem in China

Gegenseitiges Vertrauen gilt als Grundvoraussetzung für das Funktionieren einer Gesellschaft. Mithilfe eines Sozialpunktesystems, das in China flächendeckend bis zum Jahr 2020 eingeführt wird, sollen dieses gesellschaftliche Vertrauen gestärkt und noch dazu Gesetzesverstöße eingedämmt werden. Neue technische Möglichkeiten, wie die massenhafte Sammlung und Speicherung von Daten, die umfassende Vernetzung und Auswertung von Datenbanken, die Weiterentwicklung von Software zur Gesichtserkennung und die Verbreitung von mobilen Internetanwendungen bieten ungeahnte neue Möglichkeiten zur Kontrolle und Steuerung des Verhaltens in nahezu allen Lebensbereichen – weit über die Bekämpfung von Kriminalität hinaus.

Nach aktuellen Plänen der chinesischen Regierung soll im Rahmen der Einführung des Sozialpunktesystems aus der Zusammenführung aller gewonnenen Daten pro Einwohner eine aggregierte Gesamtpunktzahl errechnet werden, die über Rechtstreue und Vertrauenswürdigkeit der jeweiligen Person off n und transparent Auskunft gibt. In verschiedenen chinesischen Städten laufen bereits Pilotprojekte.

Mit dem Sozialpunktesystem würde ein umfassendes staatliches Überwachungssystem unter Nutzung neuester Technologien für ein Land mit knapp 1,4 Milliarden Einwohnern geschaffen werden. Algorithmen werden darin die Generierung der Sozialpunkte und somit die Verhängung möglicher Sanktionen oder die Gewährung von Vorteilen errechnen. Neben der Sanktionierung von Gesetzesbrüchen soll auch unerwünschtes Verhalten zu einem Abzug von Sozialpunkten führen. Durch erwünschtes Verhalten soll es hingegen möglich sein, Pluspunkte zu sammeln und den Punktestand zu verbessern. Ist einmal ein solches System geschaffen, etabliert und gesellschaftlich akzeptiert, ist weiterhin ein Ausbau des Systems in verschiedene Richtungen möglich.

Das Sozialpunktesystem lässt sich nicht nur zur Steuerung des sozialen Verhaltens nutzen, sondern es wäre eine weitgehende politische Steuerung und Kontrolle der betroffenen Personen möglich. So könnten beispielsweise Meinungsäußerungen in sozialen Netzwerken erfasst, bewertet und sanktioniert oder belohnt werden.

Es ist davon auszugehen, dass das Sozialpunktesystem nach der flächendeckenden Einführung in China weiterentwickelt und als Komplettsystem mitsamt Konzeption und dahinterstehender Technologie auch in andere Länder exportiert werden wird. Durch die in diesem Bereich bereits aufgebaute Expertise wird China eine Vorreiterstellung haben und globale Standards setzen können. Insbesondere Schwellenländer mit noch schwachen (rechts)staatlichen Strukturen sowie autoritäre Regime dürften ein besonderes Interesse an solchen neuen und umfassenden Kontroll- und Sanktionssystemen haben.

Die Einführung des Sozialpunktesystems in China wird nicht nur neue technologische Möglichkeiten der sozialen Kontrolle mit sich bringen. Es ist darüber hinaus davon auszugehen, dass sich insbesondere das Verhältnis zwischen Bürger und Staat gravierend ändern wird. Das Bild vom allgegenwärtigen Überwachungsstaat wird in einigen Teilen der Welt künftig möglicherweise nicht mehr nur negativ konnotiert sein, sondern sich teilweise über eine verbesserte Umsetzung von Regeln und Standards sowie über eine verbesserte Bekämpfung der Kriminalität legitimieren können. Der Schutz der Privatsphäre und der individuellen Freiheiten wird insbesondere in der Europäischen Union als hohes Gut angesehen, was schlussendlich als Basis für ein demokratisches Staatssystem und eine innovative Wirtschaft und Wissenschaft wichtig ist. Ein Sozialpunktesystem hingegen kann, wenn es entsprechend ausgebaut wird, auch in persönliche Lebensbereiche eingreifen und einen Konformitätsdruck erzeugen, der Individualität und persönliche Freiheit einschränkt.

Im Zentrum des Sozialpunktesystems steht ein Staat, der durch umfassende Kontrolle und Sanktion oder Belohnung über die Einhaltung von Regeln und erwünschtem Sozialverhalten wacht. Dies unterscheidet sich grundlegend von der Idee, wonach ein konfliktfreies Zusammenleben, gegenseitiges Vertrauen und ein gesellschaftlicher Konsens in erster Linie über gemeinsame Werte zustande kommen. Die daraus resultierende intrinsische Motivation, Regeln einzuhalten, etwas für die Gemeinschaft zu leisten und sich sozial zu engagieren, ist demnach der gesellschaftliche Kitt, der eine Gesellschaft und einen Staat zusammenhält – und nicht in erster Linie ein System von Kontrolle und Sanktion.

Die derzeit zum Sozialpunktesystem laufenden Pilotprojekte lassen erahnen, dass eine Entwicklung von globaler Relevanz angestoßen wird. Neben möglichen positiven Effekten wie mehr Gesetzestreue und weniger Kriminalität hat dieses System zahlreiche Nebenwirkungen. Die Standards für diese Entwicklung werden in China gesetzt.

Michael Winzer

Leiter des Auslandsbüros China der Konrad-Adenauer-Stiftung