DAS SICHERSTE LAND DER WELT
Gesellschaftliche Aspekte von Kriminalität und Verbrechen in Japan
Wie kann es sein, Japan eines der sichersten Länder der Welt? Die Ausgangslage war eine ganz andere: Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg war Nippon alles andere als sicher: In den 1950er-Jahren zählte es noch 4.000 Mordfälle pro Jahr, die Polizei registrierte weit über 150.000 gewaltbereite Gangster. Das waren die sogenannten Yakuza, betitelt nach der wertlosen Zahlenkombination eines traditionellen, dem Black Jack vergleichbaren japanischen Kartenspiels, die, straff organisiert in unterschiedlichen polizeibekannten Gruppen, ihren weitverzweigten illegalen Geschäften wie Schutzgelderpressung, Drogenhandel, Geldwäsche, Wetteinnahmen und Börsenspekulationen nachgingen. In einer Art staatlich geduldeter Parallelwelt folgten sie eigenen Gesetzen und Ritualen. Die von den Yakuza beherrschte Vergnügungsindustrie, deren Casinos allein über 250 Milliarden Euro Reingewinn jährlich einspielen, ist nur ein Teilbereich der florierenden Geschäfte.
Das soziale Phänomen dieser mal im Untergrund, mal im Halbschatten, dann wieder öffentlich operierenden japantypischen Hierarchie- und Bandenkriminalität, der sich zunehmend auch Angehörige der verachteten koreanischen Minderheit im Lande angeschlossen haben, ist bis in unsere Zeit erhalten geblieben. Mitgliederzahlen der japanischen Gangsterkonzerne mögen sich mittlerweile stark verringert, die Herkunftsmilieus verschoben und die Yakuza ihre engmaschigen Beziehungen auch auf ultranationalistische innen- und parteipolitische Kanäle sowie die erneut boomende Immobilienwirtschaft ausgedehnt haben. Am allgegenwärtigen, geradezu faszinierend gesellschaftsprägenden Einfluss der etablierten Syndikate hat sich wenig geändert, vielen Klischees über Japans harmonisch befriedete Sozialstruktur zum Trotz.
Wie keine zweite hoch entwickelte Industrienation wird das Land quasi doppelt regiert und von einer einheimischen Mafia durchsetzt und beherrscht, die sich nicht um geltende Strafgesetze zu scheren scheint, wohl aber sklavisch an ihre eigenen überlieferten Regeln hält. Wer diese bricht oder nicht verstanden hat, verliert zuerst die Fingerkuppen, später durchaus mehr.
Heute wird kaum ein Kultur- oder Reiseführer über Japan müde, die beruhigende Ungefährlichkeit des Landes für Touristen und andere Normalbürger inklusive des riesigen Großraums Tokio mit seinen über dreißig Millionen Menschen als besonderes Merkmal der japanischen Gesellschaft hervorzuheben: ein scheinbar überwiegend verbrechensfreier Hort des Schutzes und der Sicherheit.
Woran liegt das? Neben technischen Instrumenten, wie Tausenden von Überwachungskameras nach Londoner Vorbild, einer hohen Dichte polizeiinstitutioneller Dienststellen an praktisch jeder Straßenecke kommen spezifisch kulturelle Aspekte: Überalterung der Bevölkerung, damit einhergehend wenig Eigentumsdelikte, enge soziale Verflechtung in der Gesellschaft und ausgeprägt denunzierende Nachbarschaftskontrolle. Auch die drakonischen Gesetze des Staates dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Japan kennt noch immer die Vollstreckung der Todesstrafe. Seit Kriegsende wurden über 700 Menschen gehängt.
Die allgemeinen Tendenzen bei der Kriminalität sind rückläufig: Im Jahr 2017 gab es erstmalig unter eine Million Delikte, die meisten davon Diebstähle. Die Mordrate blieb unterhalb der Schwelle von 1.000; auch dies bei immerhin 127 Millionen Einwohnern eine verschwindend geringe Zahl. Strengste Waffengesetze, an die sich im Allgemeinen auch die Yakuza halten, und eine rigide xenophobische Immigrations- und Zuwanderungspolitik begrenzen die Straftaten. Hinzu kommt eine statistisch frappierend hohe Aufklärungsquote aller Verbrechen, die jedoch mit angeblich 99 Prozent etwas geschönt erscheint. Zum Vergleich: In Deutschland liegt sie bei 85 Prozent, in den USA bei 60 Prozent.
In der Tat beweisen etliche Wiederaufnahmeverfahren, dass nicht wenige Tötungsdelikte in Japan vorschnell als Suizid eingestuft und für erledigt gehalten werden. Alle fünfzehn Minuten bringt sich ein Mensch um. Japan hält damit den traurigen Rekord als Land mit der höchsten Selbstmordrate der Welt.
Die sprichwörtliche Höflichkeit der Japaner wird von manchem Ausländer oft mit empathischer Freundlichkeit verwechselt, deren anfangs euphorisch vermutete Tiefe allerdings nicht selten enttäuscht zu der Erkenntnis führt, dass hinter Konvention und Ritus ein ausgeklügeltes, jedoch fassadenhaft starres Regelwerk erfahrbar wird, das die erwartete echte Zuneigung nicht immer wiedergibt.
Gleichzeitig aber steuern ein stets präsentes Wissen um unerbittliche soziale Sanktionen und der vorgeformte Verhaltenskodex die rechtschaffene Gestaltung menschlicher Beziehungen im japanischen Gemeinwesen. Moralische Richtschnur ist das Schamgefühl, das heißt die stete Sorge, in der als maßgebend verinnerlichten Gesellschaft nicht Aufsehen zu erregen oder ihr zur Last zu fallen. Bevor man sich aufgrund eines gegen diese Gesellschaft gerichteten Vergehens schämen muss – der westliche Schuldbegriff funktioniert hier nicht –, lässt man es zur Sicherheit meistens bleiben.
Thomas Awe
Leiter des Auslandsbüros Japan und des Regionalprogramms Soziale Ordnungspolitik in Asien (SOPAS) der Konrad-Adenauer-Stiftung
TRADITION DER GEWALT
Kriminalität in Zentralamerika
Guatemala, Honduras und El Salvador bilden das „Nördliche Dreieck“ in Zentralamerika. Dieser Begriff, der einst für ein Wirtschaftsprogramm zugunsten der regionalen Integration der drei Länder stand, ist heute aus der Perspektive der Kriminalität ein Synonym für ein Dreieck von Gewalt, Verbrechen und Staatsversagen geworden. Nirgendwo sonst auf der Welt ist die Mordrate außerhalb von Kriegsgebieten so hoch wie in den drei mittelamerikanischen Staaten. Laut einer Statistik der Vereinten Nationen liegt die höchste Mordrate mit neunzig Opfern pro 100.000 Einwohner in Honduras. Auf Platz zwei und drei folgen El Salvador mit 41 und Guatemala mit vierzig Mordopfern pro 100.000 Einwohner. Der globale Durchschnitt liegt bei 6,2 Morden.
Diese Zahlen bilden eine grausame Realität ab, mit der die rund dreißig Millionen Menschen, die in den drei Ländern leben, täglich konfrontiert sind. Das Zahlenwerk erklärt jedoch weder die Ursachen dieser Gewaltspirale, noch lassen sich daraus die bisherigen Erfolge der Justiz und Politik sowie das vielfältige Engagement kirchlicher und zivilgesellschaftlicher Initiativen ablesen.
Die Anfänge der von Soziologen so bezeichneten „Gewalttradition“ und des daraus resultierenden Netzes aus Bandenkriminalität, Korruption, fehlendem Gewaltmonopol und Drogenhandel liegen in den Bürgerkriegen Guatemalas (1960–1996) und El Salvadors (1980–1991). In den Bürgerkriegen, die über 100.000 Todesopfer forderten, wurden viele Gräueltaten besonders gegen die indigene Bevölkerung der Region verübt. Honduras teilt die Bürgerkriegsgeschichte nicht, war aber in eine Vielzahl der regionalen Konflikte verwickelt.
Die Unterzeichnung der Friedensverträge und die Installation demokratischer Institutionen beendeten zwar die Bürgerkriege in den 1990er-Jahren, jedoch nicht die Migrationswellen in das US-amerikanische Ausland, wo sich Parallelgesellschaften der Bürgerkriegsflüchtlinge bildeten. Eine ganze Generation, traumatisiert von den Gewalterfahrungen, glaubte, den Verbrechen und der wirtschaftlichen Ausweglosigkeit ihrer Heimatländer entflohen zu sein, sah sich aber nunmehr als neues Schlusslicht in einer Gesellschaft, in die sie sich kaum integrieren konnte. Arbeitslosigkeit, Analphabetismus und Drogenabhängigkeit waren der Nährboden für das Entstehen der sogenannten Maras. Die Banden, anfänglich Jugendgangs in den Vororten von Los Angeles, wurden zu kriminellen Organisationen, die Geschäften im Drogenhandel, Prostitution, Erpressung und Auftragsmord nachgingen. Bald hatte dies Auswirkungen auf ihre Ursprungsländer.
Gleichzeitig bildeten Drogentransitkartelle in den bürgerkriegsgeschwächten Heimatländern Parallelstrukturen zu den schwachen staatlichen Institutionen. Die Kartelle kontrollieren ganze Regionen, von denen sie fast ungehindert die in den Andenländern produzierten Drogen in die USA bringen. So wuchsen sie zur einflussreichsten Macht im Staat, organisierten die öffentliche Ordnung, fungierten sogar als „soziale Institution“, um die Bevölkerung gewogen zu halten.
Als nach einem Beschluss des US-Kongresses zwischen den Jahren 2000 und 2004 rund 20.000 zuvor inhaftierte beziehungsweise vorbestrafte Mitglieder von Maras in ihre mittelamerikanischen Länder abgeschoben wurden, bildete sich eine neue explosive Mischung von kriminalitätserfahrenen Gruppierungen. Der daraus zwangsläufig entstehende Konkurrenzkampf zwischen Maras und Kartellen war der Beginn einer neuen Spirale der Gewalt, die nicht nur durch eine hohe soziale Ungleichheit und Perspektivlosigkeit, sondern auch durch das Versagen eines korrupten Staatsapparats immer stärker zunahm.
Dennoch gelingt es Teilen der Öffentlichkeit, die Zugang zu einer wertebasierten Bildung haben, der weit verbreiteten Kultur des Misstrauens neue Impulse eines gesellschaftlichen Miteinanders entgegenzusetzen. So entstehen immer mehr zivilgesellschaftliche Gruppen und eine kritische Öffentlichkeit, die ein Gemeinwesen der Abschottung und des Wegschauens nicht mehr akzeptieren. Als 2015 der frühere guatemaltekische Präsident Pérez Molina wegen Korruption und krimineller Geschäfte verhaftet wurde, erreichte die Empörungswelle ihren Höhepunkt. Dies zeigt, dass eine kulturelle Veränderung hin zu Zivilcourage, Korruptionsächtung und Akzeptanz der Justiz nur aus der Mitte der Gesellschaft heraus entstehen kann – ein Lösungsansatz, der für die ganze Region des Nördlichen Dreiecks“ von Bedeutung ist und die Verantwortung der westlichen Staatengemeinschaft unterstreicht, neben Regierungen auch die Akteure der Zivilgesellschaft zu stärken. Eine effektive Ursachenbekämpfung wird langfristig jedoch nur durch eine Stärkung der Wirtschaft und die damit verbundene Schaffung neuer Arbeitsplätze erfolgen können. Staaten, deren Bruttoinlandsprodukt zwischen zehn und zwanzig Prozent durch Auslandsüberweisungen von Millionen meist illegal in den USA lebenden Landsleuten gestützt wird, brauchen dringend eigene Beschäftigungsperspektiven. Sollte es zu einer zweiten Abschiebungswelle aus den USA kommen, zum Beispiel durch die Aufkündigung des temporären Schutzprogrammes TPS (Temporary Protected Status), wären die Folgen nicht nur für die Sicherheit im „Nördlichen Dreieck“ fatal.
Ruben Alexander Schuster
Leiter des Auslandsbüros Guatemala/Honduras der Konrad-Adenauer-Stiftung
EIN PROBLEMFALL MIT HOFFNUNG?
Die Brüsseler Gemeinde Molenbeek
Nach den Terroranschlägen in Paris vom November 2015 richtete sich die Aufmerksamkeit schnell auf Brüssel und dort auf die Gemeinde Molenbeek, die kaum einen Kilometer vom historischen Stadtzentrum entfernt liegt. Drei der Attentäter von Paris stammten von dort, in Molenbeek wurde die Tat geplant. Bereits in der Vergangenheit hatte die Gemeinde in direktem Bezug zu Gewalt und Terrorismus gestanden. Nun geschah es, dass der einzige überlebende Terrorist der Pariser Anschläge, Salah Abdeslam, sich trotz intensiver Fahndung mehr als vier Monate lang dort verstecken konnte.
Molenbeek, mit rund 100.000 Einwohnern auf knapp sechs Quadratkilometern eines der besonders dicht bewohnten Viertel der Stadt, ist durch einen außerordentlich hohen Anteil an Menschen geprägt, die einen nicht-belgischen Hintergrund haben. Die Gemeinde selbst wird durch eine Bahnlinie getrennt: Dabei liegt der Anteil der Bewohner mit Migrationshintergrund im östlichen Teil bei über neunzig Prozent. Mit einem jährlichen Nettoeinkommen von durchschnittlich rund 7.000 Euro gehört er zu den ärmsten des Landes. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt rund vierzig Prozent.
Angesichts dieser Zahlen ist bemerkenswert, dass ein großer Teil der molenbeekois bereits seit langer Zeit, viele bereits ihr ganzes Leben, dort wohnen. So ist in Molenbeek eine Parallelgesellschaft entstanden, deren Mitglieder wenig Kontakt zu anderen Bevölkerungsteilen haben. Von großer Bedeutung für diese Entwicklung ist die innere Homogenität verschiedener Gruppen in Molenbeek, insbesondere der Bewohner marokkanischen Ursprungs, die rund vierzig Prozent der Bevölkerung stellen.
Nach den Anschlägen von Paris geriet zunehmend der Zusammenhang von Terrorismus und existierenden kriminellen Strukturen sowie Alltagskriminalität in den Fokus. Alle drei Terroristen, die aus Molenbeek stammten, hatten eine kriminelle Vorgeschichte. Die ungünstigen sozioökonomischen Bedingungen in Molenbeek, das mangelhafte Bildungsniveau der Bewohner und ein schwieriges Verhältnis der Gemeinschaft zur Polizei begünstigen kleinkriminelle Strukturen und ermöglichen der Organisierten Kriminalität und Terrorgruppen, ihre Netzwerke auszubreiten.
Im Rahmen des sogenannten „Kanal-Plans“ haben die Behörden die Polizeipräsenz in Molenbeek und anderen Gemeinden deutlich verstärkt. Die Bewohner von rund 11.000 Gebäuden und 1.600 Nichtregierungsorganisationen wurden inzwischen überprüft, 1.500 Personen erhielten eine administrative Verwarnung. Der verstärkte Einsatz zeigt Wirkung: In der ersten Jahreshälfte 2017 wurden vierzehn Prozent weniger Kriminalitätsfälle registriert als im gleichen Vorjahreszeitraum.
Molenbeek reiht sich in den landesweiten Trend sinkender Kriminalitätsraten ein. Seit 2011 ging die Kriminalität in Belgien um rund siebzehn Prozent zurück. 2011 wurden insgesamt 1,06 Millionen Straftaten registriert, 2016 war die Gesamtzahl bereits auf 885.000 zurückgegangen. Diebstähle und Erpressungen stellen mit vierzig Prozent den Hauptteil der Delikte dar. Zurückzuführen ist das sinkende Kriminalitätsniveau auf eine landesweit verstärkte Polizeipräsenz.
Dass die desolate Situation Molenbeeks keine Naturgegebenheit ist, sondern auch auf einer jahrzehntelangen Vernachlässigung beruht, zeigt das positive Beispiel der flämischen Stadt Mechelen. Die 90.000 Einwohner große Stadt zwischen Brüssel und Antwerpen hat eine ähnliche Bevölkerungsstruktur wie Molenbeek und galt noch Anfang der 2000erJahre als „dreckigste Stadt in Flandern“. Die dortige Kriminalitätsrate war damals die höchste Belgiens. 2001 wurde mit Bart Somers ein Mann Bürgermeister Mechelens, der die Stadt einem radikalen Programm unterzog, das eine Null-Toleranz-Politik in Sachen Kriminalität mit einem multikulturellen Ansatz von Prävention und Inklusion kombinierte. Neben mehr Polizisten und einer umfassenden Videoüberwachung setzte Somers auf eine starke Einbindung der familiären