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Schusswaffengebrauch bei der Polizei im internationalen Vergleich

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„Ein Schuss aus der Polizeipistole traf den Axt-Angreifer tödlich – nun wird gegen den Schützen ermittelt“ (Dierk Rohdenburg: gleichnamiger Artikel, in: Kreiszeitung, 04.01.2023, www.msn.com/de-de/nachrichten/panorama/ein-schuss-aus-der-polizeipistole-traf-den-axt-angreifer-tödlich-nun-wird-gegen-den-schützen-ermittelt/ar-AA1kZIiX). Schlagzeilen wie diese sind in Deutschland eine Seltenheit. Im Jahr 2022 wurden insgesamt elf Menschen im Rahmen eines polizeilichen Schusswaffengebrauchs tödlich verletzt, 2023 waren es mit acht noch weniger. International sieht das anders aus. Ein Blick auf frei zugängliche Statistiken offenbart große Unterschiede bei der Anzahl der tödlichen Schusswaffenanwendungen.

Brasilien ragt mit 6.430 Getöteten (2022) deutlich heraus. Die USA, die in diesem Zusammenhang oft im Mittelpunkt medialer Aufmerksamkeit stehen, dokumentieren in demselben Jahr 1.097 Tote. Die den tödlichen Schusswaffengebrauch der Polizei betreffende Statistik ist nicht in allen Ländern öffentlich einsehbar. Indizien aus den verfügbaren Quellen legen jedoch nahe, dass in Venezuela mehr als 5.000 und in Indien und Syrien jeweils über 1.000 Menschen tödlich getroffen wurden.

Um eine Basis für die Vergleichbarkeit zu erzielen, hat sich die Bildung einer sogenannten Häufigkeitsziffer (HZ) etabliert, die die Anzahl von tödlichem Schusswaffengebrauch auf 100.000 Einwohner in Bezug setzt. Bei der Betrachtung der Häufigkeitsziffer verschiebt sich statistisch das Bild zugunsten von Indien (HZ 0,12) und den USA (HZ 0,33). 2019 wurden in Indien 1.731 Menschen durch polizeilichen Schusswaffengebrauch getötet.

Brasilien, mit einer Bevölkerung von über 200 Millionen Einwohnern, steht in der Vergleichsgruppe – sofern offizielle Zahlen für die einzelnen Länder vorliegen – an der Spitze: Die Häufigkeitsziffer beträgt 2,99 Getötete pro 100.000 Einwohner. Zu den Ländern mit sehr niedrigen Fallzahlen gehören die Niederlande mit einem, die Schweiz mit zwei, Belgien und Großbritannien mit drei durch Polizisten tödlich getroffenen Menschen. Die Bildung einer Häufigkeitsziffer hat für diese Länder aufgrund der niedrigen Fallzahlen keinen Sinn.

Die Zahl der Menschen, die in Deutschland im Rahmen von Polizeieinsätzen erschossen werden, ist im internationalen Vergleich sehr gering. Dies ist auf eine Reihe von Faktoren, wie die bestehenden Rechtsgrundlagen, die Ausbildung der Polizei und die Kriminalitätsrate, zurückzuführen. Die deutsche Polizei verwendet Schusswaffen nur als letztes Mittel, um eine unmittelbare Gefahr für das Leben Dritter und von Polizistinnen und Polizisten abzuwenden. Jeder Schusswaffengebrauch wird intensiv untersucht.

An den Beispielen Brasilien und Vereinigte Staaten von Amerika lassen sich die Ursachen der hohen Todesfallzahlen durch Polizeischüsse im internationalen Vergleich zeigen.

 

Hohe Kriminalitätsrate in Brasilien

Die große Anzahl von Todesfällen durch Polizeischüsse in Brasilien (2022: 6.430) lässt sich durch mehrere Faktoren erklären: Das Land hat eine hohe Kriminalitätsrate einschließlich schwerer Gewaltverbrechen. In vielen Fällen sehen sich die Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten mit gefährlichen Situationen konfrontiert, in denen sie sich gezwungen sehen, Schusswaffen einzusetzen, um sich selbst oder andere zu schützen. Das brasilianische Justizsystem hat mit erheblichen Herausforderungen zu kämpfen, darunter lange Verfahrensdauern und hohe Straffreiheitsraten. Korruption innerhalb der Polizei ist ebenfalls ein weit verbreitetes Problem. Dies kann dazu führen, dass Polizeieinsätze verraten werden und die Täterinnen und Täter sich gezielt auf Polizeieinsätze, auch mit Schusswaffen, vorbereiten können.

Ein Teil der Polizeibeamten in Brasilien hat möglicherweise eine unzureichende Ausbildung und verfügt damit über nur begrenzte Ressourcen, um Konflikte gewaltfrei zu lösen. Die brasilianische Gesellschaft ist durch eine erhebliche soziale Ungleichheit und Armut geprägt, was sich verschärfend auf die Kriminalität auswirkt. Die Polizei muss verstärkt in benachteiligten Gemeinschaften aktiv sein, was wiederum das Konfliktpotenzial erhöht. Es ist wichtig, zu betonen, dass es in Brasilien durchaus Bemühungen gibt, die Situation zu verbessern. Menschenrechtsorganisationen, die Zivilgesellschaft und einige Regierungsstellen arbeiten daran, eine Polizeireform auf den Weg zu bringen und die Ausbildung der Polizei zu stärken, um den Schusswaffengebrauch zu reduzieren. Insgesamt bleibt Polizeigewalt nach wie vor ein drängendes Problem in Brasilien, das weiterhin intern erhebliche Anstrengungen sowie internationale Aufmerksamkeit erfordert.

 

Regelungen in den USA

Betrachtet man die Häufigkeitsziffer des polizeilichen Schusswaffengebrauchs in den USA, ergibt sich ein differenziertes Bild, das sich von der hiesigen öffentlichen Wahrnehmung unterscheidet. Gleichwohl sterben in den USA jedes Jahr rund 1.000 Menschen im Zusammenhang mit einem polizeilichen Schusswaffengebrauch. Die große Anzahl von Getöteten steht teilweise im Zusammenhang mit dem Recht der Bürger, Schusswaffen zu besitzen. In den USA wird der Schusswaffengebrauch von Polizisten von Bundesstaat zu Bundesstaat und sogar von Polizeibehörde zu Polizeibehörde unterschiedlich geregelt. Dies hat zu einer kontroversen und breiten Debatte in den USA über den Einsatz von Schusswaffen durch die Polizei geführt.

Hauptgründe für die Probleme in den USA sind:

Erstens: Bewaffnung der Bevölkerung. Innerhalb der Bevölkerung sind Schusswaffen weit verbreitet, was grundsätzlich zu einem erhöhten Risiko von bewaffneten Konfrontationen führt. Polizeibeamte in den USA sind oft gezwungen, schnell in Situationen zu reagieren, in denen Waffen mit im Spiel sind.

Zweitens: unterschiedliche Polizeipraktiken. Eine einheitliche nationale Politik für den Schusswaffengebrauch der Polizei liegt nicht vor, was zu unterschiedlichen Vorgehensweisen und Standards führen kann. Dies ergibt sich aus der föderalen Struktur der USA. Polizeipraktiken variieren somit von Bundesstaat zu Bundesstaat, manchmal sogar von Polizeibehörde zu Polizeibehörde.

Drittens: Schulung und Deeskalation. Die Qualität der Polizeiausbildung und die Betonung von Deeskalationsstrategien weichen teilweise deutlich voneinander ab. In einigen Fällen gibt es möglicherweise unzureichende Schulungen in Konfliktbewältigungs- und Deeskalationstechniken.

Viertens: rassistische und soziale Ungleichheit. Die USA haben mit rassistischen und starken sozialen Ungleichheiten zu kämpfen. Studien haben nachgewiesen, dass Menschen aus ethnischen Minderheiten weit häufiger von Polizeigewalt betroffen sind. Diese Problematik hat zu Protesten und Forderungen nach Polizeireformen geführt.

Fünftens: rechtliche Standards. Die rechtlichen Standards für den Schusswaffengebrauch variieren von Bundesstaat zu Bundesstaat. In einigen Bundesstaaten sind sie weniger restriktiv als in anderen, was die Anzahl der polizeilichen Schießereien beeinflussen kann.

Viele Polizeibeamte in den USA arbeiten in extremen Druckund Gefahrensituationen und sehen sich gezwungen, Schusswaffen einzusetzen, um das eigene oder das Leben anderer Menschen zu schützen. Dennoch geben die hohen Zahlen von Schusswaffeneinsätzen durch die Polizei dringenden Anlass zu Reformen und haben zu Diskussionen über eine verbesserte Schulung und Deeskalation sowie die Notwendigkeit einheitlicherer Standards geführt. Sicher stellt umgekehrt die große Zahl der im Dienst durch Schusswaffen getöteten Polizisten in den USA eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar. Als Beispiel könnte hier der Nachbarstaat Kanada dienen, der in den letzten acht Jahren mit 32 bis 69 getöteten und 37 Millionen Einwohnern statistisch gesehen deutlich besser als die USA dastehen.

 

Strenge Regulierung in Deutschland

In Deutschland unterliegt der Schusswaffengebrauch der Polizei strengen rechtlichen und operativen Rahmenbedingungen. Die Verwendung von Schusswaffen durch die Polizei ist auf die Abwehr einer gegenwärtigen, rechtswidrigen Gefahr für Leib oder Leben beschränkt, wie es in Paragraf 32 Strafgesetzbuch festgelegt ist. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist von entscheidender Bedeutung. Der Schusswaffengebrauch darf nur das letzte Mittel sein, wenn mildere Mittel zur Gefahrenabwehr nicht ausreichen oder nicht möglich sind. Die Polizei darf Schusswaffen auch zur Nothilfe einsetzen, um andere Menschen vor einer akuten Lebensgefahr zu schützen. Dies kann, sofern die Gefahr nicht anders abgewehrt werden kann und der Einsatz der Schusswaffe verhältnismäßig ist, auch ein gezielter Rettungsschuss sein.

Jeder Schusswaffengebrauch wird gründlich untersucht. Es herrschen eine strenge Kontrolle und Rechenschaftspflicht, um sicherzustellen, dass der Einsatz rechtmäßig und angemessen war. In vielen Bundesländern werden die Schusswaffengebräuche durch die Landeskriminalämter untersucht, so auch seit 2022 beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg. Die Ermittlungen selbst profitieren bei diesen Regelungen insbesondere von dem gesammelten Erfahrungswissen. Wichtig ist, dass die Delikte transparent, neutral und umfänglich aufbereitet werden. Die Öffentlichkeit wird über Untersuchungsergebnisse informiert, um das Vertrauen in die Arbeit der Polizei aufrechtzuerhalten. Die Polizei in Deutschland legt großen Wert auf Deeskalationstechniken und Schulungen, um Konfrontationen gewaltfrei zu lösen.

Der Schusswaffengebrauch der Polizei mit tödlichem Ausgang ist ein in der Öffentlichkeit aufmerksam und kritisch wahrgenommenes Thema, das eine sorgfältige Abwägung der rechtlichen Rahmenbedingungen, der Notwendigkeit in Extremsituationen und der Bemühungen um eine bessere Schulung und Deeskalation erfordert. Die Gesellschaft erwartet von der Polizei, Leben zu schützen, aber auch, dass sie ihre Befugnisse verantwortungsvoll ausübt und bei Fehlverhalten rechenschaftspflichtig agiert. Dies ist eine anspruchsvolle Verpflichtung, die ständig überwacht und angepasst werden muss, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Polizeiarbeit zu bewahren.

Insgesamt zeigt der internationale Vergleich, dass kulturelle, rechtliche und soziale Unterschiede erhebliche Auswirkungen auf die Häufigkeit des Schusswaffengebrauchs der Polizei haben. Die Debatte über die Notwendigkeit von Reformen, verbesserte Schulung und einheitliche Standards bleibt in vielen Ländern bestehen, und die Gesellschaften versuchen, das Gleichgewicht zwischen Sicherheit und dem Schutz der Bürgerrechte zu finden. Während einige Nationen den Schusswaffengebrauch der Polizei sehr restriktiv handhaben und auf Deeskalation setzen, haben andere eine liberalere Politik, die zu mehr Schusswaffeneinsätzen führt. Die Debatte darüber, wie der Schusswaffengebrauch der Polizei in verschiedenen Ländern reguliert werden sollte, wird intensiv geführt und hat erhebliche Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Polizei und Gesellschaft.


Oliver Hoffmann, geboren 1972 in Nagold, Leiter der Abteilung Wirtschafts- und Umweltkriminalität, Landeskriminalamt Baden-Württemberg, Präsident der International Police Association (IPA), Deutsche Sektion e.V., Bexbach.

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