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Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl

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„Nur als demokratisch legitimierte Rechtsgemeinschaft hat Europa eine Zukunft.“ Mit diesem Satz beendete der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, Anfang März einen Vortrag vor der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften über das Recht und die Rechtsprechung in der Europäischen Union. Darin erläuterte er, warum das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt hatte, ob die Europäische Zentralbank (EZB) Staatsanleihen ausgewählter Mitgliedsstaaten in unbegrenzter Höhe aufkaufen dürfe. Zugleich hatte das Gericht deutlich erkennen lassen, dass es selbst von der Verfassungswidrigkeit eines entsprechenden Beschlusses der EZB ausgehe, wenn der Europäische Gerichtshof nicht zu einer europarechtskonformen Auslegung finde. Ohne eine solche Auslegung überschreite die EZB die ihr mittelbar auch vom deutschen Wähler eingeräumten Befugnisse. Dann handele es sich um einen „ausbrechenden Rechtsakt“, („ultra vires“), aufgrund dessen Bundestag und Bundesregierung verpflichtet seien, „mit rechtlichen oder mit politischen Mitteln auf die Aufhebung kompetenzüberschreitender Maßnahmen hinzuwirken sowie – solange die Maßnahmen fortwirken – geeignete Vorkehrungen dafür zu treffen, dass die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so weit wie möglich begrenzt bleiben“.

 

Die Entscheidung

Weniger als drei Wochen nach diesem Vorlagebeschluss erklärte derselbe Senat des Bundesverfassungsgerichts die Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht für verfassungswidrig. Die Annahme des Gesetzgebers, durch den Wegfall der Drei-Prozent-Sperrklausel werde der Einzug kleinerer Parteien und Wählergemeinschaften in die Vertretungsorgane erleichtert und dadurch die Willensbildung in diesen Organen erschwert, reiche nicht aus, einen Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit zu legitimieren. „Nur die mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Vertretungsorgane aufgrund bestehender oder bereits gegenwärtig verlässlich zu prognostizierender künftiger Umstände kann die Drei-Prozent-Sperrklausel rechtfertigen.“ Das Gericht bekräftigte damit seine Entscheidung aus dem Jahr 2011, in dem es die Verfassungswidrigkeit der Fünf-Prozent-Hürde im Europawahlrecht festgestellt hatte. Es begründete dies unter anderem damit, dass das Europäische Parlament keine Regierung wähle, die auf seine verlässliche Unterstützung angewiesen wäre; auch sei die Gesetzgebung der Union nicht von einer gleichbleibenden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde.

 

Sondervoten

Beide Entscheidungen sind selbstverständlich zu respektieren, auch wenn sie juristisch wie politisch umstritten sind. Ersteres kommt schon in den Abstimmungsergebnissen – der Vorlagebeschluss wurde mit sechs zu zwei Stimmen gefällt, die Entscheidung zur Drei-Prozent-Klausel sogar nur von fünf der acht Richter getragen – und den sehr pointierten Sondervoten zu beiden Entscheidungen zum Ausdruck. Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff begründete ihr Sondervotum zum Vorlage-Beschluss des Zweiten Senats mit einer Aussage, die sich wie eine Erwiderung auf den Schlusssatz des in Berlin gehaltenen Vortrags ihres Präsidenten liest: „In dem Bemühen, die Herrschaft des Rechts zu sichern, kann ein Gericht die Grenzen richterlicher Kompetenz überschreiten. Das ist meiner Meinung nach hier geschehen.“ Und in der Begründung zur abweichenden Meinung des Richters Peter Müller über das Urteil zur Drei-Prozent-Klausel heißt es, es sei „nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, die vertretbare Entscheidung des Gesetzgebers durch eine eigene vertretbare Entscheidung zu ersetzen“. Jedenfalls hat das Wahlrecht unter den verschiedenen Ansprüchen, die sich nicht vollkommen miteinander vereinbaren lassen, Abwägungen zu treffen, die notwendigerweise auch mit politischen Prioritäten verbunden sind. Die vom Gesetzgeber getroffene Abwägung wird hier im Ergebnis vom Verfassungsgericht konterkariert.

Zweifellos hat das Verfassungsgericht auch nicht in erster Linie politischen Streit zu vermeiden, sondern die geltende Verfassung auszulegen – ob es den anderen Verfassungsorganen gefällt oder nicht. Bemerkenswert ist allerdings, wie ungewöhnlich kritisch auch die Medien, die im Allgemeinen positiv auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts reagieren, insbesondere das Urteil zur Sperrklausel bei Europawahlen kommentiert haben.

 

„Verfassungsrechtlich verkleideter Europaskeptizismus“

Auch aus der Wissenschaft gibt es teilweise heftige Kritik, die sich nicht als Ausdruck verletzter Eitelkeit gemaßregelter Gesetzgeber abtun lässt. Ein „verfassungsrechtlich verkleideter Europaskeptizismus“, den Ulrich Beck in diesem Urteil sieht, lässt sich im Kontext der jüngeren Rechtsprechung zur Europäischen Union nicht gänzlich ausschließen. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich nicht zum ersten Mal mit der Frage der Zulässigkeit von Sperrklauseln im Wahlrecht beschäftigt – auch mit Blick auf das Europäische Parlament. 1979, zu einem Zeitpunkt, als das Europäische Parlament fraglos noch nicht annähernd die heutige Bedeutung hatte, hielt es die Sperrklausel für zulässig. Warum das Gericht nun ausgerechnet in einer Zeit, in der das Europäische Parlament stark an Bedeutung gewonnen hat und nach verbreiteter Überzeugung und erklärter politischer Absicht weiter an Raum und Kompetenzen gewinnen soll, Bedenken nicht nur entdeckt, sondern in dieser Weise zum Ausdruck gebracht hat, erschließt sich jedenfalls nicht sofort. Das gilt nicht nur für die selbstkritische Betrachtung eines Mitglieds des Deutschen Bundestages, sondern etwa auch für den ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, der erklärte, er halte „die Mehrheitsentscheidung zur Drei-Prozent-Hürde weder im Ergebnis noch in der Begründung für richtig“ (Die Welt vom 10. März 2014).

 

Grenzüberschreitung?

Wichtiger als die Kritik an einzelnen Entscheidungen scheint mir gerade im Kontext der Europäischen Union die grundsätzliche Diskussion um die richtige Balance der Zuständigkeiten von Bundestag, Bundesregierung und dem Bundesverfassungsgericht und damit die Architektur von Legislative, Exekutive und Judikative zu sein. Es ist Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, darauf zu achten, dass andere Institutionen nicht „ultra vires“ handeln, also die ihnen von der Verfassung oder dem europäischen Vertragswerk gesetzten Grenzen überschreiten. Doch sollte sich das Gericht auch immer wieder vergewissern, ob es die ihm selbst gesetzten Grenzen seinerseits so einhält, wie es dies von anderen Institutionen verlangt. Die Versuchung, solche Grenzen auszuloten oder zu verschieben, beschränkt sich jedenfalls nicht auf Parlamente und Behörden.

In seiner Rechtsprechung betont das Gericht stets, dass vor allem der Deutsche Bundestag dazu berufen ist, politische Entscheidungen zu treffen, weil er als einziges Verfassungsorgan unmittelbar gewählt wird und deswegen über eine besonders starke Legitimation verfügt. Zu dieser demokratischen Legitimation durch Wahlen kommt hinzu, dass der Deutsche Bundestag öffentlich tagt. Gerade das im parlamentarischen Verfahren gewährleistete Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche eröffnet in den Worten des Bundesverfassungsgerichts „Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen, die sich bei einem weniger transparenten Vorgehen so nicht ergäben. […] Erst die Öffentlichkeit der Beratung schafft die Voraussetzungen für eine Kontrolle durch die Bürger.“

Diese besondere Stellung hat das Parlament spätestens seit dem Lissabon-Vertrag auch auf dem Gebiet der Europapolitik. Hier – und gerade im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschafts- und Währungskrise – hat das Bundesverfassungsgericht die besondere Verantwortung des Deutschen Bundestages in den letzten Jahren deutlich gemacht und gestärkt.

Unbestritten ist andererseits, dass das Bundesverfassungsgericht zur auch für die anderen Verfassungsorgane verbindlichen Auslegung unseres Grundgesetzes berufen ist, obwohl es nur über eine mittelbare demokratische Legitimität verfügt (die sich freilich durch eine Neuregelung der für die Richterwahlen geltenden Bestimmungen erhöhen ließe – ein altes Anliegen, das umzusetzen sich die Große Koalition nun verständigt hat). Bislang hat sich diese Rollenverteilung bewährt; sie ist eine offensichtliche Erfolgsgeschichte.

Umso wichtiger ist es, dass das Bundesverfassungsgericht auch in Zukunft jene kluge Zurückhaltung pflegt, die es in der Vergangenheit auszeichnete und der es nicht nur seine im Vergleich zu anderen Verfassungsorganen nach wie vor hohe Popularität, sondern vor allem seine Autorität verdankt; sie hängt nicht zuletzt von der Akzeptanz seiner Entscheidungen ab.

 

Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, von 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, seit Oktober 2005 Präsident des Deutschen Bundestages.