Haben Sie heute schon an Ihrer beruflichen Selbstverwirklichung gearbeitet? In Zeiten hart umkämpfter Arbeitsmärkte und einer höchst anspruchsvollen, mit vermeintlich ganz anderen Ansprüchen auftretenden jungen Generation lässt sich dem Selbstverwirklichungsangebot in unserer Arbeitswelt kaum entkommen.1 Ein Jobangebot verspricht, dass man sich in der Rolle der Key-Account-Managerin „ganz selbst verwirklichen“ könne, Führungskräfte machen Coachings, um aus ihrer „inneren Natur heraus zu führen“, und in der Great Resignation kündigen viele Menschen stabile Anstellungen, weil sie dort nicht „sie selbst“ sein können.
Der Trend zur Selbstsuche, die allein in einem Job gelingen soll, markiert eine fragwürdige Entwicklung: Er spaltet erstens die Belegschaft, entgrenzt zweitens Arbeit auf ungesunde Weise und entsachlicht drittens wichtige Probleme des Wirtschaftens im 21. Jahrhundert – indem alles zur Mindset-Frage wird. Für eine Zukunft der Arbeit, die weniger Selbstbespiegelung und mehr Aufmerksamkeit für eine Welt im Umbruch benötigt, ist diese Suche mehr schädlich als in irgendeiner Weise meaningful. Dies ist kein Appell für Selbstverleugnung: Es ist eine große Errungenschaft, dass wir zum Beispiel Homosexualität in den meisten Jobs nicht verstecken müssen. Aber unserer zeitgenössischen Selbstverwirklichungssucht geht es ohnehin um etwas anderes, und genau das ist das Problem. Um diesen Trend zu dekonstruieren, müssen wir seine Geschichte verstehen. Hier spielen drei historische Figuren eine Rolle: der Hippie der 1970er-Jahre, die Genies des Sturm und Drangs und die protestantischen Unternehmer des 19. Jahrhunderts.
Das zentrale Ziel der Hippies war der Ausstieg aus einer von Zwängen und bürgerlichen Tabus dominierten Gesellschaft. Die Methoden waren Selbstentdeckung durch Drogenkonsum, Reisen auf dem Hippie-Trail nach Asien und das Leben in Selbstversorgerkommunen. Doch ausgerechnet ihr Vokabular hat überlebt. Zur Jahrtausendwende haben die Wirtschaftssoziologen Luc Boltanski und Ève Chiapello untersucht, wie nahtlos die Selbstverwirklichungssprache der „Blumenkinder“ in unsere Arbeitswelt eingeflossen sind: „Die Management-Literatur von heute gleicht der Selbstverwirklichungsprosa lebensreformerischer Entfremdungskritiker der 1960er- und 1970er-Jahre aufs Haar.“2 Die Methoden sind freilich andere: Statt im Abtauchen in Joints, Goa und Hippiedörfern suchen wir das Selbst in Purpose-Workshops, Workations und loungigen Büros mit Sitzsäcken. Auf den wichtigsten Unterschied zwischen Hippie- und Arbeits-Selbstverwirklichung weist der Soziologe Andreas Reckwitz hin: Selbstverwirklichung muss heute immer erfolgreiche Selbstverwirklichung3 sein. Wo der Hippie sein Selbst abseits bürgerlicher Statussymbole suchte, wollen wir auf unserer Selbstsuche gleichzeitig beruflichen Erfolg finden. In meiner Forschung stellt sich heraus, dass sich dieser „double bind“ aus bürgerlichem Erfolg und hippieskem Storytelling in einen Sinndruck verwandelt.4 Dass es ausgerechnet eine Kapitalismuskritik von links war, die unser Arbeitsleben immer mehr zur Selbstvermarktung macht, ist eine Ironie der Wirtschaftsgeschichte.
Der zweite Treiber unserer Selbstsuche ist der Geniekult, dem wir seit der Epoche des Sturm und Drangs frönen und der in der Arbeitswelt heute nicht wegzudenken ist. Wir sind überzeugt davon, dass bestimmte Leader ein besonderes Geheimwissen haben und es diese Genies allein sind, die unsere Welt nach vorn bringen, wie die Wirtschaftsethikerin Lisa Herzog schreibt.5 Diese Genies dürfen dabei mit allen Normen und Regeln brechen, nein, sie müssen es sogar: kein visionärer Guru, der einfach ein angenehmer Zeitgenosse ist. In einer Art sadomasochistischer Selbstverachtung brauchen wir vom Genie gerade ein gewisses Maß an abstoßendem Verhalten, denn das zeigt ja erst, wie sehr er über uns schwebt – er ist halt kompromisslos authentisch. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierte der Geniekult die Arbeitswelt. Übersetzt man den allzeit bemühten Begriff „Leader“ ins Deutsche, erkennt man, wo der Geniekult in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts bebte, nämlich in der Politik. Wenn wir heute von unserem wahren Ich auf der Arbeit träumen und uns Elon Musk und Co. zum Vorbild machen, sehnen wir uns danach, selbst Genie zu werden, selbst nicht mehr der Zumutung von Regeln und Normen ausgesetzt zu sein, selbst nur den Funken der Götter in uns zu haben.
Die dritte historische Wurzel unser Selbstverwirklichungssehnsucht entstammt dem protestantisch geprägten Unternehmertum des 19. Jahrhunderts, einer Verbindung von Religion und Wirtschaft, die für den Soziologen Max Weber den Aufstieg unserer modernen Wirtschaft ausmachte.6 Unter vielen anderen, für uns heute noch starken Narrativen kommt von dort die Idee, dass wir unser Leben nicht einfach so leben können, wie es ist, sondern dass unser Leben, unsere Talente, unsere Motivation stets eine Wachstumsaufgabe sind. Dass wir unser Selbst restlos in der Arbeit aufbrauchen sollen und buchhalterisch nachfassen müssen, ob wir aus der Gottesgabe auch wirklich alles restlos herausholen.
Gegenwärtige Probleme der Selbstsuche
Zurück in die Gegenwart und zu dem, was diese Ideen in der Arbeitswelt anrichten. Wie die um sich selbst kreisende Authentizitätssuche, auf die uns die Hippies gebracht haben, unsere Arbeitswelt spaltet, können etwa die Studien des Organisationspsychologen Hannes Leroy belegen.7 Er zeigte, dass das Ausmaß, in dem sich ein Mensch auf der Arbeit authentisch fühlt, negativ mit demjenigen Ausmaß zusammenhängt, mit dem andere diesen Menschen als authentisch wahrnehmen.
Die Behauptung, authentisch, etwa ein besonders „empowering leader“, zu sein, wirkt nämlich ähnlich wie die Behauptung, moralisch zu sein. Intuitiv denken dann andere: „Du hältst dich also für etwas Besseres?“ Und das lässt sie jede beobachtbare Tat auf die Goldwaage legen: Wenn du so „empowering“ bist, warum hast du dann den letzten Muffin auf dem Sommerfest gegessen? Wenn du so „empowering“ bist, warum hast du dann im Strategiemeeting so vehement auf deiner Meinung bestanden? Damit blüht der Arbeitsatmosphäre das, was vielen Hippiekommunen blühte: ein spaltendes Schauspiel.
Der Geniekult führt dazu, dass wir ein völlig falsches Bild davon zeichnen, was Arbeit im Kern ausmacht: nämlich das Soziale. Wir denken niemals allein, so die Kognitionswissenschaftler Steven Sloman und Philip Fernbach,8 unser Gehirn funktioniert in Isolation nicht. Als soziale Spezies haben wir in der menschlichen Evolution kognitive Fähigkeiten, wo immer möglich, auf die Gruppe ausgelagert. Lisa Herzog erinnert daran, dass wir nur durch geregelte Arbeitsteilung überhaupt die hochkomplexen Aufgaben unserer Gegenwart erledigen können. Elon Musk kann allein höchstens den Reifen eines Teslas wechseln. Die Verehrung von Genies geht zulasten der Gemeinschaft, die den Laden am Laufen hält, Wissen teilt, verfügbar macht und oft auch hinter den Genies die Scherben aufräumt. Ebenso werden durch diese Ego-Glorifizierung Probleme auf der Arbeit entsachlicht: Wenn alles eine Frage der Personality, des Mindset und der Energy ist, dann ist eben nichts mehr eine Frage der Rollenverantwortung, der Regeln und der systemischen Herausforderungen. Das Ökonomische wird persönlich. Aus der Schutzfunktion professioneller Rollen wird Arbeit zur alles aufsaugenden letzten Religion. Statt „Bring your whole self to work“ müsste es viel eher heißen: „Bring your role self to work“.
Das Phänomen des „Quiet Quitting“
Die protestantische Idee, sein Selbst, seine Sehnsüchte, Talente und Eigenheiten restlos und gewinnbringend zu Markte zu tragen, entgrenzt Arbeit obendrein. Dieses Jahr haben erstmalig über die Hälfte der beruflichen Erkrankungen psychische Ursachen. Diese Haltung verhindert den Weg zu einer regenerativen Arbeitswelt, die eigene Ressourcen – genau wie die Ressourcen der Natur! – bewahrt und achtet. Das Phänomen des Quiet Quitting, das über TikTok populär wurde, zeigt: Gerade junge Arbeitnehmer beginnen die Selbstmaximierung auf der Arbeit zynisch abzulehnen. Denn selbstverständlich können wir ohnehin nicht „alles aus uns herausholen“. Weil wir sterblich sind. Die Dogmatiker des 19. Jahrhunderts wussten das, sie arbeiteten ohnehin nur für den Lohn im Himmel. Unsere weltliche Arbeitsgegenwart verdrängt den Tod und damit auch jegliches Verständnis für Grenzen, auch der eigenen Grenzen. Ihr mag es helfen, das Leben auch vom Ende her zu betrachten: Welche Arbeitswelt möchte ich hinterlassen haben?
Wir brauchen für eine Zukunft der Arbeit auf einem begrenzten Planeten daher keine Selbstbespiegelung, sondern exakt das Gegenteil: Wissen, dass wir die Herausforderungen der Zukunft nur gemeinsam angehen können, dass wir diese Probleme benennen müssen, statt sie zu Mindset-Fragen zu machen, und dass unser Wirtschaften, wie unser Arbeiten, langfristig am erfolgreichsten innerhalb von Grenzen funktioniert. Und eine Spielfreude daran, dass wir auf der Arbeit eben nicht ganz wir selbst sind, sondern jemand anderes: ein Vorbild, eine Hinterfragerin, ein Mentor, eine Chefin. Oder wollen Sie wirklich mit jemandem zusammenarbeiten, der die ganze Zeit an Erdbeereis und Formel 1 denkt?
Hans Rusinek, geboren 1989 in Düsseldorf, Mitglied des Promotionskollegs Soziale Marktwirtschaft der Konrad-Adenauer-Stiftung, promoviert an der Universität St. Gallen zum Thema „Organisational Purpose“, zuvor Organisationsberater und als erster Mitarbeiter beim Aufbau der europäischen Purposeberatung der Boston Consulting Group tätig. Als Autor beteiligt er sich an Debatten zwischen Wirtschaft und Gesellschaft (etwa in „BrandEins“ oder „Deutschlandfunk“), 2020 mit dem Förderpreis des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet.
1 Hans Rusinek: Der Kampf um die jungen Talente. Arbeitsmarkt und Klischees, in: Deutschlandfunk, 05.08.2021, www.deutschlandfunkkultur.de/arbeitsmarkt-und-klischees-der-kampf-um-die-jungen-talente-100.html [letzter Zugriff: 23.02.2023].
2 Luc Boltanski / Ève Chiapello: The New Spirit of Capitalism, Verso Verlag, London / New York 2018 (2. Auflage).
3 Andreas Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
4 Hans Rusinek: Die Zukunft der Arbeit zwischen Purpose und Sinndruck, HR Review Veröffentlichungsreihe Personalberatung, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2020.
5 Lisa Herzog: Die Rettung der Arbeit. Ein politischer Aufruf, Hanser Verlag, Berlin 2019.
6 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, C. H. Beck Verlag, München 2013 (4. Auflage, Erstauflage: 1904).
7 Hannes Leroy: „Being Your True Self at Work: Integrating the Fragmented Research on Authenticity in Organizations”, in: Academy of Management Annals, 13. Jg., Nr. 2, Mai 2019.
8 Philip Fernbach / Steven Sloman: The Knowledge Illusion: Why We Never Think Alone, Riverhead Books / Penguin, New York 2017.