In Thüringen, dem Freistaat in der Mitte Deutschlands mit einer Einwohnerzahl von etwa 2,2 Millionen Menschen, wählen die Bürgerinnen und Bürger am 1. September 2024 einen neuen Landtag. Inmitten einer malerischen Landschaft, einer einmaligen Dichte an Burgen, Schlössern, Museen sowie Theatern und geprägt unter anderem von Persönlichkeiten wie der Heiligen Elisabeth, Martin Luther, Johann Sebastian Bach und Johann Wolfgang von Goethe, entfaltet sich eine einzigartige Mischung aus Tradition und Moderne. Aber hinter dieser idyllischen Fassade brodelt es in der politischen Landschaft.
Thüringen gilt inzwischen als Land politischer Besonderheiten und seltener Begebenheiten. 2024 ist ein Markstein in zehn politisch bewegten Jahren: Nach der Bildung der ersten rot-rot-grünen Landesregierung in Deutschland, die seit Ende 2014 mit kurzer Unterbrechung von einem „linken“ Ministerpräsidenten geführt wird, bedeutet Landespolitik seit dem Herbst 2019 in Thüringen das Regieren ohne Mehrheit.
Nach der Landtagswahl im Oktober 2019 war es den im Erfurter Landtag vertretenen Parteien nicht gelungen, eine regierungsfähige Mehrheit zu bilden. Erst nachdem Thomas Kemmerich (FDP) am 5. Februar 2020 mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden war, das Amt angenommen hatte und nach nur drei Tagen wieder zurückgetreten war, rang sich die CDU-Fraktion dazu durch, die Wahl von Bodo Ramelow als Chef einer „linken“ Minderheitskoalition zuzulassen.
Zudem wurde ein „Stabilitätsmechanismus“ zwischen dem rot-rot-grünen Regierungsbündnis und der oppositionellen CDU vereinbart, um eine funktionierende Zusammenarbeit zu gewährleisten. Allerdings sollte nach einem Jahr die Minderheitsregierung beendet sein: Für den Februar 2021 vereinbarten Die Linke, SPD und Bündnis 90/Die Grünen gemeinsam mit der CDU eine Selbstauflösung des Landtages, um am 25. April 2021 vorgezogene Neuwahlen zu ermöglichen. Aufgrund der Corona-Pandemie im Winter 2020/21 kam die vorgesehene Neuwahl nach einer ersten Verschiebung schließlich aufgrund einer fehlenden Zwei-Drittel-Mehrheit im Landtag nicht zustande.1
Politische Dynamik
Thüringen gilt seit der Landtagswahl 2019 aufgrund von zwei Besonderheiten als politisches Testfeld: Es ist das einzige Land in Deutschland, in dem die Partei Die Linke nach dem Ergebnis der Zweitstimmen im Mitte-Links-Lager die führende Partei ist.2 Zudem sticht am Ende der Legislaturperiode die Stärke der AfD bei vorerst anhaltender Schwäche der CDU als früherer „Thüringen-Partei“ heraus.3 Eine Mehrheitsregierung ist am Wahlabend des 1. September 2024 ausgeschlossen, sollten AfD und Die Linke erneut und wie bereits 2019 mehr als die Hälfte der Sitze im Landesparlament erringen. Die gegenwärtige politische Situation in Thüringen ist allerdings im Vergleich zu 2019 wesentlich dynamischer. In Thüringen sind mit der Partei Bürger für Thüringen, der Werte-Union und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) neue Parteien gegründet oder Bündnisse ausgerufen worden.
In einer Umfrage des Instituts für neue soziale Antworten (INSA) vom 1. Mai 2024 erreichten die AfD 30 Prozent, die CDU 20 Prozent, das BSW und Die Linke jeweils 16 Prozent, die SPD sieben Prozent und die Grünen fünf Prozent, was die Suche nach Partnern für ein stabiles Regierungsbündnis erschwert, aber nicht unmöglich gestaltet.4
Beabsichtigten noch im Frühjahr 2024 die „Bürger für Thüringen“ zur Landtagswahl einen Zusammenschluss mit der Werte-Union unter Hans-Georg Maaßen, erscheint dieses Vorhaben wegen interner Streitigkeiten brüchig und die Werte-Union weit von einem Einzug in den Landtag entfernt zu sein. Die Linke von Bodo Ramelow tritt zwar pragmatisch auf, scheint aber von der Person des Ministerpräsidenten künstlich am Leben gehalten zu werden, erreicht doch kein anderer Thüringer Landespolitiker trotz Einbußen annähernd vergleichbare Bekanntheits- und Beliebtheitswerte. Abspenstige Protestwähler könnten von der AfD zum BSW übergehen, das sich von der AfD zumindest als antivölkisch und antirassistisch abgrenzt, allerdings in Sachen Russland- und Migrationspolitik Parallelen zu ihr aufweist. Der neuen Partei unter Führung von Sahra Wagenknecht gelang in Thüringen mit der Nominierung der amtierenden Eisenacher Oberbürgermeisterin und früheren Linke-Landtagsabgeordneten Katja Wolf ihr bisher größter Coup. Das BSW wird trotz fehlender Programmatik des kürzlich gegründeten Thüringer Landesverbandes als Projektionsfläche für eine politische Sehnsucht nach etwas Neuem und nach einer Politikwende wahrgenommen. Mit den vier zentralen Punkten aus dem Gründungsmanifest gibt sich das Bündnis freiheitlich sowie der sozialen Gerechtigkeit, Vernunft und Frieden verpflichtet. Einen hohen Anteil unter den Mitgliedern und Anhängern nehmen einerseits politisch bisher nicht organisierte Menschen, andererseits Abgänge aus anderen Parteien ein. Die Führung der Partei bemüht sich um ein langsames Mitgliederwachstum und will die Themen Bildung und ländlicher Raum in den Vordergrund des Landtagswahlkampfs stellen.
Der CDU kommt in Thüringen eine besondere Rolle zu. Zum einen ist sie die größte demokratische Oppositionspartei, zum anderen verhalf sie für eine geraume Zeit der Minderheitsregierung zu Mehrheiten in verschiedenen inhaltlichen Fragen. Diese Situation hat es der Partei erschwert, ihr Profil als Gegenangebot zu Rot-Rot-Grün zu schärfen. Gleichzeitig wird die Zusammenarbeit mit den „linken“ Parteien immer wieder aus bürgerlichen Kreisen kritisiert.
Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten
Die Nichtfortführung des „Stabilitätsmechanismus“ nach der gescheiterten Neuwahl war ein erster Schritt der Partei zu einer verstärkten Profilbildung. Darüber hinaus hat die CDU versucht, mit Initiativen gegen die Landesregierung ihrer Rolle als eigenständiger Oppositionspartei gerecht und nicht nur als „Mehrheitsbeschaffer“ wahrgenommen zu werden.
Für bundesweite Aufmerksamkeit sorgten 2022 ein Aufruf zum Verbot von geschlechterneutralen Sonderzeichen und Formulierungen in der Kommunikation von Behörden, Schulen und Hochschulen sowie 2023 ein Gesetz zur Minderung der Grunderwerbssteuer. Beide CDU-Vorhaben erzielten im Thüringer Landtag eine Mehrheit mit Stimmen der AfD-Fraktion.
Der CDU-Fraktions- und -Landesvorsitzende Mario Voigt begründet das Vorgehen damit, nicht aus parteitaktischen Rücksichten gänzlich auf eigene Vorschläge verzichten zu wollen. Zugleich geht er in die direkte Auseinandersetzung mit dem Hauptgegner AfD. So hat er mit dem umstrittenen TV-Duell zwischen den Spitzenkandidaten von CDU und AfD am 12. April 2024 Neuland betreten. Das direkte Aufeinandertreffen oppositioneller Spitzenkandidaten ohne Beteiligung des amtierenden Ministerpräsidenten stellt ein politisches Novum in Deutschland dar und wurde von mehr als zwei Dritteln der Deutschen in dieser unkonventionellen Art der offenen Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Kräften für richtig befunden.5
Die Hauptkonkurrenten im ländlichen Raum stellen für die CDU die AfD und das BSW dar. Die Gefühlslage, von der Europa-, Bundesund Landespolitik etablierter Parteien „abgehängt“ zu sein, ist hier am stärksten ausgeprägt. Dieses Stimmungsbild vermitteln die Ergebnisse des Thüringen-Monitors, der seit 2000 jährlich die politische Kultur im Freistaat untersucht.6 Zwar unterstützt eine breite Mehrheit der Befragten die Demokratie als Staatsform, jedoch sind weniger als die Hälfte der Befragten mit der konkreten Umsetzung demokratischer Prozesse vor Ort zufrieden. In Verbindung mit den weltweiten Polykrisen sticht besonders die hohe Unzufriedenheit mit der Bundesund der Landesregierung heraus.
Wachsende Unzufriedenheit im Stimmungsbild
In der Kommunalpolitik erscheint der Weg einer strikten Abgrenzung zur AfD nicht immer konsequent umsetzbar. Vielfach wird kritisiert, dass die „Brandmauer“ auf der kommunalen Ebene, die sich durch Pragmatismus, persönliche Nähe politischer Akteure und lagerübergreifende Kooperationsoffenheit auszeichnet, bei Abstimmungen von Sachanträgen schwierig bis unmöglich durchzuhalten sei. Bereits in der zurückliegenden Wahlperiode war es für die Parteien mühsam bis kräftezehrend, gemeinsame Absprachen zu treffen oder lagerübergreifende Kandidaten aufzustellen. Das gilt besonders in den Regionen von Süd- und Ostthüringen, in denen AfD-Kandidaten gute Wahlchancen bescheinigt werden.
Das Stimmungsbild in Thüringen ist deutlich geprägt von einer wachsenden Unzufriedenheit in verschiedenen Bereichen, die verbunden ist mit einer Angst vor Wohlstandsverlust. Viele Menschen erleben den Politikbetrieb als selbstreferenziell und fühlen sich weder wahrgenommen noch adressiert. Politische und gesellschaftliche Diskurse sind zudem zunehmend durch Polarisierung und Radikalisierung gekennzeichnet. Die Mehrheit der Menschen sehnt sich nach einer Politik, die über ideologische Gräben hinweg rational und zukunftsorientiert erreichten Wohlstand und gesellschaftlichen Frieden sichert.
Hauptthema für die Thüringer Bevölkerung ist auch im Kontext von Sicherheit die Zuwanderung, die in jüngsten Umfragen etwa 60 Prozent der Menschen als Problem benannten. Thüringen hat in den letzten Jahren einen Anstieg der Zuwanderung erlebt, der die Stimmung in der Gesellschaft verändert und neue Herausforderungen mit sich bringt. Die hohen Flüchtlingszahlen und das mangelnde Flüchtlingsmanagement der Landesregierung haben in vielen Thüringer Kommunen bestehende Probleme verschärft. Katastrophale Zustände in der Erstaufnahmeeinrichtung in Suhl und ein schwelender Konflikt zwischen Kommunen und der zuständigen Ministerin haben das öffentliche Bild in den vergangenen Monaten geprägt.
Zentrales Thema ist darüber hinaus die Wirtschaftspolitik. Zwar sind in Thüringen weltweit renommierte Unternehmen wie Carl Zeiss und Jenoptik angesiedelt, insgesamt ist die Wirtschaftsstruktur jedoch mittelständisch geprägt, mit überwiegend kleinen Unternehmen, darunter auch einige hidden champions. Thüringen hat bei der Wirtschaftskraft in den letzten Jahren deutlich aufgeholt, insbesondere bei der Arbeitsproduktivität und der Lohnentwicklung. Dennoch liegt das Land ebenso wie bei der demografischen Entwicklung im Ländervergleich auf dem vorletzten Rang. Das ändert nichts daran, dass die Thüringer Unternehmen insgesamt konkurrenzfähig und innovativ wirtschaften. Letzteres gilt insbesondere für Fertigungs- und Produktionsprozesse, nur bei Produktinnovationen fällt Thüringen ab. Insbesondere die traditionellen Industriezweige, wie etwa die für Thüringen bedeutsame Automobilindustrie, vollziehen gerade einen erheblichen Strukturwandel (der auch in Thüringen von den großen Trends Demografischer Wandel, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Smart Manufacturing, Industrie 4.0 geprägt wird), um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Der Strukturwandel betrifft auch die Arbeitswelt. In neuen Studien zeichnet sich hier die Gefahr einer „digitalen Spaltung“ in der Arbeitnehmerschaft ab; über die Hälfte der Menschen im Land fürchtet, von den neuen Technologien abgehängt zu werden.
Allgegenwärtig sind in Thüringen der Fachkräftemangel und die Bildungsmisere. Viele Unternehmen klagen über Schwierigkeiten, qualifiziertes Personal zu finden. Gleichzeitig stehen Beschäftigte oft vor Herausforderungen wie prekären Arbeitsbedingungen und einem im Vergleich geringen Lohnniveau. Bürokratieabbau auf allen Ebenen sowie die Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft sind zudem wichtige Themen, denen sich die politischen Entscheidungsträger stellen müssen und die ausschlaggebend für das Stimmungsbild in Thüringen sind.
Die Kommunal- und Europawahlen in Thüringen können als Stimmungstest gesehen werden. In den Kreistagsund Stadtratswahlen am 26. Mai konnte sich die CDU mit 27,2 Prozent (−0,1 Prozent) als stärkste Kraft behaupten, gefolgt von der AfD mit 25,8 Prozent (+8,1 Prozent), die SPD erzielte 11,6 Prozent (−1,8 Prozent), Die Linke 9,1 Prozent (−4,9 Prozent), Grüne 4,1 Prozent (−3,4 Prozent), FDP 2,6 Prozent (−2,2 Prozent), Sonstige 19,5 Prozent (+4,1 Prozent).
Zur Europawahl am 9. Juni wiederum haben sich 30,7 Prozent der Thüringer Wähler dafür entschieden, ihre einzige Stimme für Europa der AfD zu geben. Dies bedeutet bei ähnlicher Wahlbeteiligung (61,9 Prozent) für die Partei einen Zugewinn von acht Prozentpunkten im Vergleich zu 2019. Mit 23,2 Prozent liegt die CDU auf Platz zwei, der Neuling BSW mit glatten 15 Prozent auf dem dritten. Weit abgeschlagen mit einstelligen Ergebnissen folgen die Parteien der Thüringer Minderheitsregierung: SPD 8,2 Prozent, Die Linke 5,7 Prozent und Grüne 4,2 Prozent.
Auffällig ist im Fall der Europawahl, dass die AfD dort Kreise klar gewonnen hat, in denen der AfD-Kandidat am gleichen Abend die kommunale Stichwahl verloren hat. Stattdessen gingen diese Sitze meist an die CDU, die mit allen Oberbürgermeister- und Landratskandidaten überzeugen konnte. Ein Überraschungssieg der CDU gelang in der Landeshauptstadt Erfurt. Der CDU-Kandidat setzte sich mit 64,2 Prozent gegen den Amtsinhaber der SPD durch. Städte wie Eisenach und Gera wurden für die CDU neu gewonnen. In Weimar und Suhl holten die Amtsinhaber mit deutlichem Abstand schon im ersten Wahlgang den Sieg. War das BSW zur Kommunalwahl noch nicht deutlich sichtbar, so konnte es in Thüringen bei der Europawahl vor allem Wechselwähler aus dem Lager der SPD und der Partei Die Linke gewinnen. In Suhl erhielt das BSW ihr bundesweit stärkstes Wahlergebnis mit 20,1 Prozent. Sollte sich dieser Trend weiter fortsetzen, so wird bei der Landtagswahl das BSW eine beachtliche Rolle spielen und damit Einfluss auf die Bildung einer neuen Thüringer Regierung nehmen.
Thüringen steht vor einer entscheidenden Phase seiner politischen Geschichte. Es geht um das Zurückgewinnen von verlorenem Vertrauen in die Politik. Es geht um die Menschen in einer freiheitlichen Demokratie, um die Zukunft des Landes. Für die Wählerinnen und Wähler in Thüringen gilt die Hoffnung: Spannung am Wahltag, aber danach bitte Stabilität.
Maja Eib, geboren 1977 in Bad Salzungen, Landesbeauftragte und Leiterin des Politischen Bildungsforums Thüringen der Konrad-Adenauer-Stiftung.
1 Antonie Rietzschel: „Unklare Mehrheiten. Keine Neuwahlen in Thüringen“, in: Süddeutsche Zeitung, 16.07.2021, www.sueddeutsche.de/politik/thueringen-neuwahlen-landtag-ramelow-1.5354314 [letzter Zugriff: 21.05.2024].
2 Thüringer Landesamt für Statistik: Landtagswahl 2019 in Thüringen – endgültiges Ergebnis, https://wahlen.thueringen.de/datenbank/wahl1/wahl.asp?wahlart=LW&wJahr=2019&zeigeErg=Land [letzter Zugriff: 21.05.2024].
3 infratest dimap: ThüringenTREND Juli 2023. Repräsentative Studie im Auftrag des MDR, www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundeslaender/thueringen/laendertrend/2023/juli/ [letzter Zugriff: 21.05.2024].
4 „Umfrage in Thüringen: BSW legt zu, AfD verliert leicht“, in: ZEIT Online, 01.05.2024, www.zeit.de/news/2024-05/01/umfrage-in-thueringen-bsw-legt-zu-afd-verliert-leicht [letzter Zugriff: 21.05.2024].
5 „Mehrheit der Deutschen hält TV-Duell-Entscheidung von Mario Voigt für richtig“, in: Die Welt, 11.04.2024, www.welt.de/politik/deutschland/video250973296/Hoecke-vs-Voigt-Mehrheit-der-Deutschen-haelt-TV-Duell-Entscheidung-fuer-richtig.html [letzter Zugriff: 21.05.2024].
6 Vgl. Friedrich-Schiller-Universität Jena / KomRex – Zentrum für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration: Politische Kultur im Freistaat Thüringen. Politische Kultur und Arbeitswelt in Zeiten von Polykrise und Fachkräftemangel. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2023. Kurzbericht, S. 6–7, https://thueringen.de/fileadmin/user_upload/Landesregierung/Kurzversion_17042024_formatted.pdf [letzter Zugriff: 21.05.2024].