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Europas sicherheitspolitische Interessen im Indo-Pazifik

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Lange Zeit fehlte es der europäischen Asienpolitik an strategischer Ausrichtung. Geprägt von der Aussicht auf lukrative Märkte im Fernen Osten, konzentrierte sich die Brüsseler Asienpolitik primär auf Handel und Investitionen. Politischen Entscheidungsträgern fiel die Vorstellung schwer, eine (sicherheits)politische Rolle Europas in einer geografisch so weit entfernten Region einzunehmen, insbesondere, weil innerhalb der Europäischen Union (EU) große Probleme unmittelbare Aufmerksamkeit verlangten: Die Zukunft der transatlantischen Beziehungen, die Klimakrise, aber auch der Umgang mit der Flüchtlingskrise und das Erstarken rechtsnationaler Tendenzen in einigen ihrer Mitgliedstaaten belasteten den Zusammenhalt innerhalb der Europäischen Union. Gleichzeitig veränderten sich durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine die geopolitischen Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten bisher agierten.

 

Konzept der maritimen Sicherheit

 

In einem globalen Kontext, der nicht nur durch den erneuten Wettbewerb der Großmächte, sondern auch durch die zunehmende Verflechtung von Wirtschafts- und Sicherheitspolitik gekennzeichnet ist, werden viele traditionelle, auf den Binnenmarkt bezogene EU-Politikbereiche wie Handel, Investitionen, Wettbewerb, Technologie oder Finanzen, de facto immer strategischer und sicherheitsbezogener. Diesen Veränderungen Rechnung zu tragen und global mehr Verantwortung zu übernehmen, ist das erklärte Ziel der „geopolitischen Kommission“, die Ursula von der Leyen bereits 2019 ausgerufen hat. Ein besonderer geografischer Fokus liegt dabei auf dem indopazifischen Raum – definiert als geografischer Bereich von der Ostküste Afrikas bis hin zu den Inselstaaten im Pazifik. Im indopazifischen Raum liegen nicht nur die am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt, auf die 62 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts entfallen – er ist auch das zweitgrößte Ziel von EU-Exporten und umfasst vier der zehn wichtigsten EU-Handelspartner.1 Allein der Handel mit China belief sich im Jahr 2021 auf 696 Milliarden Euro (Importe plus Exporte) und macht die Volksrepublik zum wichtigsten Handelspartner Europas.2

Doch inmitten dieser strategischen Neuausrichtung fordert der Krieg in der Ukraine seit Anfang dieses Jahres nicht nur die politische Aufmerksamkeit Brüssels, sondern auch eine kurzfristige Umstrukturierung der ohnehin schon begrenzten Ressourcen und Verteidigungsbudgets der europäischen Mitgliedstaaten. Dennoch könnten der Krieg und Chinas Unterstützung für Moskau der Indo-Pazifik-Debatte in Europa unverhofft neue Impulse geben und der Europäischen Union verdeutlichen, dass ein aktiver Beitrag zur Sicherheitsarchitektur der Region wichtiger Bestandteil eines ganzheitlichen Ansatzes für den indopazifischen Raum ist.

Mit der Veröffentlichung der EU Strategy for Cooperation in the Indo-Pacific3 am 16. September 2021 hat die Europäische Union erstmals ihre eigenen Interessen in der Region klar formuliert. Für die Handelsmacht Europa, deren Handel zu beinahe neunzig Prozent über den Seeweg abgewickelt wird,4 entwickeln sich die wichtigsten Sicherheitsdynamiken im Indo-Pazifik im maritimen Bereich. Daher ist es naheliegend, dass sich das Thema „Sicherheit und Verteidigung“, einer der insgesamt sieben Teilbereiche des Strategiepapiers, primär auf maritime Sicherheitsinteressen fokussiert.

Wenn von maritimer Sicherheit die Rede ist, konzentrieren sich die EU-Länder oftmals auf die Sicherheit der Seeverbindungen, insbesondere deren Schutz vor Piraterie. Doch auch regionale Instabilitäten und maritime Grenzkonflikte durch die wachsende maritime Präsenz und Anspruchshaltung Chinas, beispielsweise im Südchinesischen Meer, bedrohen die Seewege zunehmend. Eine Blockade des Südchinesischen Meeres oder der Straße von Malakka hätte verheerende wirtschaftliche Konsequenzen für Europa.

Hinzu kommen die Auswirkungen des Klimawandels auf Winde und Strömungen, die nicht nur essenziell für die Schifffahrt sind, sondern auch für die Erhaltung der biologischen Vielfalt der Meere, die für viele Menschen in der Region die Lebensgrundlage bildet. Das Konzept der maritimen Sicherheit geht daher weit über die Gewährleistung einer sicheren Durchfahrt für Handelsschiffe hinaus. Europa darf sich nicht nur auf den Schutz der Seewege konzentrieren, sondern muss vieles im Blick haben: den im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen als umfassend und weltweit geltenden Rechtsrahmen für alle Aktivitäten in den Ozeanen und Meeren, insbesondere für die dort verankerte Freiheit der Schifffahrt und des Überflugs über internationale Gewässer sowie das Recht auf friedliche Durchfahrt durch Küstengewässer, die Gewährleistung der staatlichen Souveränität über die ausschließlichen Wirtschaftszonen seiner Partnerländer, den sicheren globalen Datenverkehr über Unterseekabel sowie den nachhaltigen Umgang mit den Meeren als Ressource.

 

Begrenzte Ressourcen

 

Diesen enormen Ambitionen und der damit einhergehenden Erwartungshaltung regionaler Partnerländer stehen jedoch begrenzte Ressourcen und teils ein fehlender politischer Wille vonseiten der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten entgegen: So verfügt die Europäische Union weder über eine eigene Armee noch über Marineeinheiten oder eigene Schiffe und ist daher allein auf die militärischen Mittel und den politischen Willen ihrer Mitgliedstaaten angewiesen. Umfragen belegen zwar, dass ein verstärktes europäisches Engagement für die maritime Sicherheit im indopazifischen Raum von den meisten EU-Mitgliedstaaten befürwortet wird; allerdings sind nur wenige bereit, in dieser Region militärische Kapazitäten für den Schutz europäischer Interessen einzusetzen.5

Mit Ausnahme Frankreichs, das sich aufgrund seiner Überseeterritorien als Regionalmacht im Indo-Pazifik versteht und eigene Sicherheitsinteressen verfolgt, gibt es eine klare Präferenz für die Beschränkung des Engagements auf nichtmilitärische Aktivitäten. Einzelne Initiativen, wie die Entsendung der Fregatte „Bayern“ durch die deutsche Marine oder die jüngst angekündigte Entsendung deutscher Militärflugzeuge, senden zwar wichtige Signale an Partnerländer in der Region, werden jedoch nur begrenzt dazu beitragen können, die Europäische Union zu einem glaubwürdigen Sicherheitsakteur im Indo-Pazifik zu machen, wenn sie nicht in eine nachhaltige, ganzheitliche EU-Strategie eingebettet werden.

Ein allgemein wenig beachtetes Positivbeispiel ist die sogenannte „koordinierte maritime Präsenz“ der Europäischen Union im Golf von Guinea,6 die nun auf den Indischen Ozean ausgeweitet werden soll. Im Bestreben, als Europäische Union mehr Präsenz zu zeigen, bietet die „koordinierte maritime Präsenz“ einen flexiblen Rahmen für mehr Kooperation zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten und ermöglicht der Europäischen Union, trotz ihrer begrenzten Ressourcen einen sichtbaren Beitrag zur maritimen Sicherheit zu leisten.

 

Die Bedrohung Taiwans als Sicherheitsrisiko Europas

 

Spätestens mit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine war klar, dass die kriegerischen Handlungen Russlands an der europäischen Ostflanke Europa vor ein massives Problem hinsichtlich der Zuteilung eigener militärischer Ressourcen stellen. Zudem zeigte die massive Bedrohung auf, wie viel militärisches Gerät beispielsweise in Deutschland veraltet oder nicht einsatzbereit ist. So hat der Krieg in der Ukraine die Europäer davon überzeugt, generell mehr in Verteidigung und Hard Power-Kapazitäten zu investieren.

Deutschland, das erstmals anstrebt, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO zu erreichen, und 100 Milliarden Euro zusätzlich in die Bundeswehr investieren will, ist diesbezüglich das vielleicht spektakulärste Beispiel. Wie und wofür die neuen Gelder konkret eingesetzt werden, ist zum Teil noch offen. Doch ein strategisch agierendes Deutschland, das seine eigenen Sicherheitsinteressen schützt, wird nicht umhinkommen, einen Teil der Ressourcen mit Blick auf künftige Konfliktszenarien im Indo-Pazifik einzusetzen. Spätestens Pekings Unterstützung für Moskaus Angriffskrieg verdeutlicht, was viele Staaten im Indo-Pazifik bereits wissen: China ist kein verlässlicher Partner für Europa und könnte – im Gegenteil – mittelfristig zu einem sicherheitspolitischen Problem werden. Die lange Zeit nicht hinterfragten chinesischen Investitionen in kritische europäische Infrastruktur – insbesondere in Schifffahrtsterminals, Versorgungseinrichtungen und Telekommunikationsnetze – bieten eine hervorragende Plattform für das Sammeln vertraulicher Informationen und machen Europa anfällig für Cyberangriffe, wie Beispiele aus Australien zeigen.7

Neben diesen direkten sicherheitspolitischen Risiken in Europa bestehen im Indo-Pazifik indirekte Gefahren für europäische Sicherheitsinteressen. In diesem Kontext wird sich Europa künftig eingehender mit dem Schicksal Taiwans beschäftigen müssen. Offiziell verfolgt Europa eine Ein-China-Politik und betrachtet Taiwan nicht als unabhängigen Staat. Daher ist es wenig verwunderlich, dass sich viele europäische Politiker zu dem umstrittenen Besuch Nancy Pelosis auf der Insel zurückhaltend geäußert haben, denn die Krise um Taiwan wird bisweilen als rein „amerikanisches Problem“ wahrgenommen.

Der Ausfall globaler Lieferketten als Folge einer militärischen Eskalation in der Straße von Taiwan würde jedoch zu einem echten Sicherheitsrisiko für Europa, das in hohem Maße von der taiwanesischen Produktion von Computerchips abhängig ist. Eine Unterbrechung der Zulieferungen hätte fatale Folgen für alle Bereiche der europäischen Wirtschaft und ist damit sehr wohl ein „europäisches Problem“. Insbesondere nach den Erfahrungen der pandemiebedingten globalen Lieferengpässe investiert die Europäische Union deshalb in die Resilienz ihrer Lieferketten. Dies beinhaltet sowohl den Ausbau eigener Kapazitäten und Produktionsstätten als auch die Diversifikation von Handelspartnern zur Reduktion übermäßiger Abhängigkeiten. Zu diesem Zweck hat die Europäische Union ihre Zusammenarbeit mit den USA verstärkt und strebt im Rahmen der Indo-Pazifik-Strategie den Ausbau ihrer Kooperationen mit Australien, Indien, Japan und dem Verband Südostasiatischer Nationen (Association of Southeast Asian Nations, ASEAN) an.

 

Werteorientierte Sicherheitspolitik

 

Der Krieg in der Ukraine hat viele Europäer aus ihrer sicherheitspolitischen Komfortzone gelockt: Um ihre Grundwerte zu verteidigen, waren die EU-Mitgliedstaaten und die Europäische Union bereit, in einem noch nie dagewesenen Ausmaß Unterstützung für ein Land zu leisten, das nicht Teil ihres formellen Bündnissystems ist. Die Kombination aus der Bereitstellung tödlicher Waffen und dem Einsatz umfangreicher Sanktionen als außenpolitischem Instrument könnte sich bei Bedarf auch in anderen Krisenregionen bewähren.

Dass dieses Vorgehen möglicherweise nicht exklusiv auf die Ukraine begrenzt ist, hat Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock deutlich gemacht: „Wir akzeptieren nicht, wenn das internationale Recht gebrochen wird und ein größerer Nachbar völkerrechtswidrig seinen kleineren Nachbarn überfällt – und das gilt natürlich auch für China.“8 Dies bedeutet nicht, dass die Europäische Union künftig systematisch in militärische Konflikte intervenieren oder ihre Mitgliedstaaten gar militärische Großmächte im Indo-Pazifik sein werden; allerdings ist es ein Hinweis darauf, dass die neue, geopolitisch engagierte Europäische Union in der Lage und willens ist, zu reagieren, wenn sie ihre sicherheitspolitischen Interessen bedroht sieht.

 

Manisha Reuter, geboren 1993 in Berlin, Expertin für Indo-Pazifik-Strategie, Programmkoordinatorin Asien, European Council on Foreign Relations (ECFR), Berlin.

 

1 Josep Borell: „The EU needs a strategic approach for the Indo-Pacific“, in: EEAS Online Blog, 12.03.2021, www.eeas.europa.eu/eeas/eu-needs-strategic-approach-indo-pacific_en [letzter Zugriff: 10.08.2022].
2 Statistisches Bundesamt: „EU-Außenhandel: China wird immer wichtiger“, www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Aussenhandel/EU-Handelspartner.html#:~:text=China%20ist%20der%20 wichtigste%20Handelspartner,%25%20des%20gesamten%20EU%2DWarenverkehrs [letzter Zugriff: 08.08.2022].
3 European Commission: „The EU Strategy for Cooperation in the Indo-Pacific“, 16.09.2021, https://ec.europa.eu/info/sites/default/files/jointcommunication_indo_pacific_en.pdf [letzter Zugriff: 08.08.2022].
4 Josep Borell: „The EU needs a strategic approach for the Indo-Pacific“, in: EEAS Online Blog, 12.03.2021, www.eeas.europa.eu/eeas/eu-needs-strategic-approach-indo-pacific_en [letzter Zugriff: 10.08.2022].
5 Frédéric Grare / Manisha Reuter: „Moving closer: European Views of the Indo-Pacific“, in: European Council on Foreign Relations, 13.09.2021, https://ecfr.eu/special/moving-closereuropean-views-of-the-indo-pacific/ [letzter Zugriff: 08.08.2022].
6 European External Action Service (EEAS): „The EU launches its Coordinated Maritime Presences concept in the Gulf of Guinea“, 25.01.2021, www.eeas.europa.eu/eeas/eu-launches-itscoordinated-maritime-presences-concept-gulf-guinea_en#:~:text=The%20EU%20launches% 20its%20Coordinated%20Maritime%20Presences%20concept%20in%20the%20Gulf%20of%20Guinea,-25.01.2021&text=The%20Coordinated%20Maritime%20Presences%20tool, partner%20and%20maritime%20security%20provider [letzter Zugriff: 08.08.2022].
7 Samuel Stolten: „Von der Leyen: Chinese cyberattacks on EU hospitals ‚can’t be tolerated‘“, in: Euractiv, 23.06.2020, www.euractiv.com/section/digital/news/von-der-leyen-chinesecyberattacks-on-eu-hospitals-cant-be-tolerated/ [letzter Zugriff: 12.08.2022].
8 „Baerbock sagt Taiwan Unterstützung bei möglichem Überfall zu“, in: Der Spiegel, 02.08.2022, www.spiegel.de/ausland/annalena-baerbock-verspricht-taiwan-unterstuetzung-bei-moeglichemueberfall-durch-china-a-bd14bf74-dddd-4eab-9c09-f7c6d4bc2c4a [letzter Zugriff: 08.08.2022].

 

 

 

 

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