Seit Mitte des Jahres 2021 sind die Inflationsraten weltweit deutlich angestiegen. Für den Mai 2022 wurde für Deutschland eine Inflationsrate von 8,7 Prozent gemessen, für den Euroraum 8,1 Prozent. In den USA wurden im Mai 2022 8,6 Prozent erreicht. Auch in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern haben die Konsumentenpreise deutlich angezogen. Ägypten vermeldete im April 2022 einen Wert von 13,1 Prozent, Brasilien 12,1 Prozent und Sri Lanka sogar 33,8 Prozent. Dennoch gab es einige Länder mit niedrigen Inflationsraten: In Japan, China und der Schweiz lagen die Inflationsraten im April 2022 mit 2,5 Prozent, 2,1 Prozent und 2,5 Prozent auf weiterhin niedrigem Niveau. Woher kommt der globale Inflationsdruck, und woraus resultieren die Unterschiede?
Der jüngste globale Inflationsdruck wurde zuletzt vielfach aufgrund stark steigender Energie-, Rohstoff- und Lebensmittelpreise mit dem Ukraine-Krieg in Verbindung gebracht. Der amerikanische Präsident Joe Biden hat deshalb siebzig Prozent der Inflation in den USA im Monat März dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zugeschrieben. Auch die Europäische Zentralbank (EZB) hat im Lichte des Krieges ausdrücklich auf die Bedeutung der stark steigenden Energiepreise für die hohe Inflation im Euroraum verwiesen. Dass die Inflationsrate schon deutlich vorher gestiegen ist, sieht EZB-Präsidentin Christine Lagarde in der Corona-Pandemie begründet.
Doch die Gründe für den Inflationsdruck auf breiter Front liegen tiefer. Dieser hat sich über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren aufgebaut, da ausgehend von den USA in Krisen die Zinsen stark gesenkt, jedoch in den Erholungsphasen nach den Krisen nicht mehr in gleichem Ausmaß angehoben wurden. Da jede Abwertung des Dollars die anderen Währungen im Weltwährungssystem unter Aufwertungsdruck brachte, sind seit den 1990erJahren die meisten Zentralbanken dem geldpolitischen Expansionskurs der USA gefolgt. Die globale Geldschwemme schlägt sich nun in weltweit steigenden Produzentenpreisen und – nur teilweise! – in stark steigenden Konsumentenpreisen nieder.
Für viele Industrieländer gilt, dass der Inflationsdruck lange Zeit aufgrund der Art der Inflationsmessung in den offiziellen Konsumentenpreisindizes nicht sichtbar wurde. Seit den 1990er-Jahren wurde ausgehend von den USA die Qualitätsanpassung bei der Inflationsmessung forciert. Die statistischen Behörden haben vermehrt – beispielsweise bei Industrieprodukten wie Mobiltelefonen und Computern – Qualitätsverbesserungen zum Anlass genommen, die in den Läden gemessenen Preise in der Preisstatistik nach unten zu rechnen. Gleichzeitig fanden bei anderen Produktkategorien, wo Qualitätsverluste vermutet werden können, keine Qualitätsanpassungen in Form hochgerechneter Preise statt – so zum Beispiel bei Dienstleistungen, wo die Selbstbedienung deutlich zugenommen hat, oder bei Lebensmitteln, deren Produktionsmethoden weniger nachhaltig geworden sind.
Ebenso wurden die Gewichte der in den Konsumentenpreisindizes repräsentierten Güter den veränderten Konsumgewohnheiten angepasst. Das dürfte dazu geführt haben, dass in den Preisindizes schrittweise teure Güter mit hoher Preissteigerung – etwa Vollholzmöbel – durch billige Güter mit geringer Preissteigerung – beispielsweise Pressspanmöbel zum Selbstaufbau – ersetzt wurden. Wichtige Gütergruppen wie Immobilien, Aktien und öffentliche Güter (beispielsweise Straßen, Alterssicherung und Flughäfen) blieben von der Preismessung ganz ausgeschlossen. Im Euroraum werden im Gegensatz zu anderen Ländern wie der Schweiz oder den USA sogar selbstgenutzte Immobilien bei der Inflationsmessung ausgeklammert, obwohl die EZB mit anhaltend niedrigen Zinsen zu einem deutlichen Anstieg der Immobilienpreise beigetragen hat.
In vielen Ländern spielen Subventionen eine wichtige Rolle dafür, dass lange Zeit die Preise in den Läden stabil geblieben sind. Mit den anhaltenden Niedrig-, Null- und Negativzinspolitiken der Zentralbanken wurden weltweit die Unternehmen subventioniert, die die Zinsvergünstigungen in Form geringerer Preise weitergeben konnten. Ebenso haben zahlreiche Krisen in vielen Ländern die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften unterhöhlt, sodass mit den Lohnkosten auch der Preisdruck unter Kontrolle gehalten werden konnte. Fast alle Industrieländer subventionieren die Landwirtschaft, was die Preise von Lebensmitteln niedrig hält.
Ostasiatisches Modell als Vorbild?
Einen besonders großen Umfang haben die Subventionen in Japan erreicht, wo der Staat seit dem Platzen einer Aktien- und Immobilienpreisblase Anfang der 1990er-Jahre dank immenser Staatsanleihekäufe der Bank von Japan enorme zusätzliche Ausgabenspielräume gewonnen hat. Nach Schätzungen der Washington International Trade Association kommen über vierzig Prozent der Einkommen der japanischen Bauern vom Staat. Großzügige Hilfen für Reisbauern haben dazu beigetragen, dass der Reispreis in den letzten Jahren deutlich gefallen ist. Darüber hinaus werden Weizen, Sojabohnen, Buchweizen und Raps (auch als Futtermittel) bezuschusst.
Weitere Subventionen finden sich beim Bahnverkehr, der im dicht besiedelten Japan eine wichtige Rolle spielt. Staatliche Hilfen haben seit 2009 die Schul- und Hochschulgebühren gedrückt. Die Nachfrage nach Autos wurde immer wieder durch Subventionen – zuletzt für Elektrofahrzeuge – angekurbelt, sodass deren Preise seit 1990 weitgehend konstant geblieben sind. Schnell wachsende staatliche Zuzahlungen haben den Preisanstieg bei der Gesundheitsversorgung gedämpft. Auch die staatlich kontrollierten Preise für Wasser und Strom sind nur schwach gestiegen. In Reaktion auf den jüngsten steilen Anstieg der Rohölpreise wurde der Benzingroßhandel subventioniert.
China bewegt sich in eine ähnliche Richtung. Dort hatte zuletzt der deutliche Anstieg der Produzentenpreise im Gegensatz zu den USA keine spürbare Auswirkung auf die Konsumentenpreise. Das dürfte daran liegen, dass die Peoples Bank of China in Reaktion auf die Ukraine-Krise über den staatlich kontrollierten Bankensektor und die Lokalregierungen viel billige Liquidität in den Unternehmenssektor pumpt. Die Preise von öffentlichen Dienstleistungen – die die im Preisindex vertretenen Dienstleistungen dominieren – und die Preise von Industriegütern – die oft von staatlichen Unternehmen produziert werden – scheinen mit Blick auf die Inflationsziele der Zentralregierung gesetzt zu werden. Zuletzt dürften die vergleichsweise restriktive Finanzpolitik sowie die Corona-Lockdowns den politisch gefährlichen Inflationsdruck gedämpft haben.
Mit dem letzten Preisschub, getrieben vor allem von den Energiepreisen, könnte das ostasiatische Modell nun auch in der Europäischen Union Schule machen. Die im europäischen Vergleich niedrige Inflation in Frankreich dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass dort bereits im letzten Herbst die Gas- und Strompreise gedeckelt wurden. Im Januar 2022 entschied die Regierung in Paris, den Preisanstieg bei Strom in diesem Jahr auf vier Prozent zu begrenzen. In Reaktion auf die stark steigenden Inflationsraten bringen viele Länder der Europäischen Union nun ebenfalls umfassende Subventionen auf den Weg. Diese umfassen einerseits direkte Zahlungen an die Bürgerinnen und Bürger – wie in Deutschland die einmalige 300-Euro-Zahlung für jeden Einkommensteuerpflichtigen – und andererseits Subventionen für Energie, was die Preise für die Verbraucher drückt.
Deutschland hat die Energiesteuer auf Kraftstoffe für drei Monate auf das europäische Mindestmaß abgesenkt und die Umlage für Erneuerbare-Energien-Anlagen (EEG-Umlage) ausgesetzt. Das Neun--Euro--Ticket senkt für drei Monate die Preise im öffentlichen Nahverkehr. Österreich will die Steuern auf Gas und Strom für Haushalte und Kleinunternehmen reduzieren. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán hat die Strom- und Gaspreise um 25 Prozent gesenkt sowie die Preise für Weizenmehl, Zucker und Milch gedeckelt.
Die Niederlande haben die Energiesteuer einmalig reduziert und werden ab Sommer die Mehrwertsteuer auf Energie von 21 Prozent auf neun Prozent absenken. Polen hat den Mehrwertsteuersatz für Benzin und Diesel von 23 Prozent auf acht Prozent reduziert. Tschechiens Regierung hat die Straßenverkehrssteuern gestrichen. Rumänien hat die Preise für Strom und Erdgas gedeckelt. In Italien entfallen Netzentgelte, und es werden 25 Cent für jeden Liter Kraftstoff erstattet. In Spanien liegt die Erstattung bei zwanzig Cent, während in Portugal die Regierung Benzingutscheine verschickt.
Schweizer Sonderweg
Eine besondere Art und Weise, die Preise niedrig zu halten, hat die Schweiz gefunden, die in dem globalen inflationären Umfeld als sicherer Hafen für Kapitalzuflüsse gilt. Würden die großen Kapitalzuflüsse in der Schweiz verbleiben, würde dies sowohl die Aktien- und Immobilienpreise stark nach oben treiben als auch das Kreditwachstum und damit die Inflation befeuern. Doch dadurch, dass die Schweizer Nationalbank das Zinsniveau deutlich unter dem Zinsniveau der USA hält, begünstigt sie in großem Umfang Kapitalabflüsse, die den Inflationsdruck im Inland dämpfen. Wenn die Schweizer Nationalbank zudem wie in den letzten Monaten eine Aufwertung des Franken zulässt, dann sinken die Preise importierter Güter. Der Druck auf die inländischen Unternehmen und den inländischen Handel wächst, die Preise niedrig zu halten. Die Schweizer Bürgerinnen und Bürger haben deshalb in der Vergangenheit von deutlich niedrigeren Inflationsraten als die Bürgerinnen und Bürger im Euroraum profitiert.
Während die Menge der subventionierten Güter in vielen Ländern über den Zeitverlauf zu wachsen scheint, bleibt die Finanzierung der wuchernden Staatsausgaben offen. Da die Kassen weithin leer und Kürzungen bei anderen Ausgabenbereichen unpopulär sind, scheinen sich viele Regierungen im Euroraum – ebenso wie im Falle Japans – auf zusätzliche Verschuldung und damit auf den Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB zu verlassen. Dadurch wächst jedoch die Geldmenge weiter, was den Inflationsdruck längerfristig noch weiter nach oben treiben dürfte.
Um diesem Teufelskreis zu entkommen, gibt es nur einen Weg: Die Zentralbanken müssen die Zinsen erhöhen. Da dies mittelfristig die Ausgabenspielräume der hoch verschuldeten Euro-Staaten einschränkt und schlecht für die Konjunktur ist, scheint die EZB trotz erster angekündigter Zinsschritte vor entschlossenen Schritten noch zurückzuschrecken. Viele andere Zentralbanken haben sich hingegen bereits auf einen klaren Zinsanstiegskurs begeben. In den USA hat die Notenbank Federal Reserve im Lichte hoher Inflationsraten die Anleihekäufe beendet und zahlreiche Zinsschritte für das Jahr 2022 signalisiert. Die Bank von England hat die Zinsen bereits mehrfach erhöht. Schwedens Reichsbank hat einen fundamentalen Kurswechsel vollzogen und die erste Zinserhöhung zeitlich vorgezogen. Auch reformerfahrene mittel- und osteuropäische Staaten wie Polen, Tschechien und Ungarn haben die Zinsen angehoben. Es bleibt abzuwarten, ob diese Zentralbanken im Lichte wachsender wirtschaftlicher und politischer Instabilitäten, die mit den Zinserhöhungen verbunden sein dürften, ihre geldpolitischen Straffungskurse durchhalten werden.
Unabhängig davon ist eines sicher: In der Vergangenheit waren zu hohe Staatsausgaben und anhaltend lockere Geldpolitiken immer wieder mit wirtschaftlicher und politischer Instabilität verbunden. Das Verstecken von Inflation mithilfe von Subventionen und Preiskontrollen mag kurzfristig anhaltend lockere Geld- und Finanzpolitiken rechtfertigen, löst allerdings das Problem zu hoher Ausgabenverpflichtungen nicht. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass die Ankündigung von Zinserhöhungen in den USA und vielen anderen Ländern den Beginn eines globalen geld- und finanzpolitischen Stabilisierungsprozesses einläutet.
Gunther Schnabl, geboren 1966 in Starnberg, Professor für Wirtschaftspolitik und Internationale Wirtschaftsbeziehungen sowie Leiter des Instituts für Wirtschaftspolitik, Universität Leipzig.