„Der radikale Umbau der Bundeswehr ist eine der wichtigsten politischen Gestaltungsaufgaben des Jahrzehnts. In ihrer heutigen Verfassung entsprechen die Streitkräfte längst nicht mehr dem, was Deutschland an militärischen Mitteln und Möglichkeiten zur Erfüllung seiner Verpflichtungen in der Außen- und Sicherheitspolitik braucht.“ Dies sind die Anfangssätze des Artikels „Bedingt einsatzfähig: Der lange Weg zur Neugestaltung der Bundeswehr“ von Bernhard Fleckenstein aus dem Jahr 2000 (Aus Politik und Zeitgeschichte, APuZ, B 43/2000, S. 13–23, hier: S. 13). Sie beschreiben die Herausforderung eines groß angelegten Umbaus der Bundeswehr – wenn auch zu einer sicherheitspolitisch gänzlich anderen Zeit, die mit der heutigen nicht verglichen werden kann. Denn heute sehen wir uns konfrontiert mit der direkten und völlig unverhohlen ausgesprochenen Bedrohung durch eine ebenso konventionell wie nuklear hochgerüstete Großmacht: Russland.
Diese neue Lage erfordert eine Anpassung der Streitkräfte für die Abwehr eines potenziell großen konventionellen Angriffs auf Deutschland oder seine NATO-Verbündeten. Die daraus abzuleitende Forderung ist die (Wieder-)Befähigung der Bundeswehr zur Bündnis- und Landesverteidigung binnen kürzester Zeit. Es geht um einen veritablen Wiederaufbau und eine tiefgehende Modernisierung der Streitkräfte. Die Ampelkoalition hat diese Herausforderung erkannt, immer wieder Absichtserklärungen abgegeben, Strategien wie die Nationale Sicherheitsstrategie und die Verteidigungspolitischen Richtlinien veröffentlicht, die dieses Ziel klar benennen – bisher aber ist sie mit einer Zeitenwende bei der Bundeswehr und in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (leider) gescheitert. Denn die bisherigen Maßnahmen sind unzureichend und wenig konkret. Als Ziel wird völlig zu Recht der Auf- oder Ausbau der Bundeswehr zum „Rückgrat der konventionellen Verteidigung der NATO in Europa“ benannt. Generalinspekteur Carsten Breuer und Verteidigungsminister Boris Pistorius ist zuzustimmen, wenn sie im vergangenen Jahr gefordert haben, dass Kriegstüchtigkeit und der Wille sowie die Fähigkeit, einen Krieg auch gewinnen zu können, im Mittelpunkt der Veränderungen bei der Bundeswehr stehen müssen. Doch der Weg dahin erscheint nach wie vor unklar und nicht strukturiert. Es fehlen Stringenz, Dringlichkeit und Gestaltungswille. Einige zentrale Beispiele sollen dies verdeutlichen.
Finanzierung
Grundlage für einen Wiederaufbau der Bundeswehr muss die finanzielle Ausstattung sein. Die Zeitenwende hat hier einen zumindest kurzfristigen Erfolg gebracht: das Sondervermögen für die Bundeswehr. Die Idee, die Finanzierung großer, langjähriger und komplexer Rüstungsprojekte aus der Jährlichkeit des Verteidigungshaushalts herauszunehmen, ist schon älter und wurde unter anderem von den ehemaligen Verteidigungsministern Volker Rühe und Annegret Kramp-Karrenbauer als Überlegung ins Spiel gebracht. Deswegen war der Vorschlag der Bundesregierung, einen solchen Sonderfonds in Form des Sondervermögens zusammen mit der oppositionellen CDU/CSU-Bundestagsfraktion durch die Änderung des Grundgesetzes zu realisieren, richtig und konnte in relativ kurzer Zeit intensiver Verhandlungen bereits vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause 2022 verabschiedet werden. Doch nach anderthalb Jahren stellen sich drei grundlegende Probleme, für die die Ampelregierung verantwortlich ist.
Erstens: Mit dem Sondervermögen allein steht die Finanzierung der Bundeswehr noch lange nicht auf gesicherten Füßen – vor allem langfristig gesehen. Denn das Sondervermögen wird irgendwann verausgabt sein – geplant bis spätestens 2027 –, und danach stellt sich die existenzielle Frage, wie die deutschen Verteidigungsausgaben auf dem gleichen Niveau gehalten werden können. Es droht hier ein Defizit von zwanzig bis dreißig Milliarden Euro. Dieses dann, zu Beginn einer neuen Wahlperiode, durch eine Ad-hoc-Anhebung des Einzelplans allein kompensieren zu können, ist politisch völlig unrealistisch.
Zweitens laufen der Bundeswehr die Kosten für Personal, Infrastruktur und Betrieb davon. Der eigentliche Verteidigungshaushalt (Einzelplan 14) wird zusehends von diesen Kosten förmlich aufgefressen. Schlimmer noch: Je mehr es gelingt, das Sondervermögen schnell umzusetzen und große Beschaffungen zu realisieren, desto mehr explodieren diese Kosten. Denn Inflation, steigende Energiekosten und hohe Tarifabschlüsse schlagen bei einer Organisation von der Größe der Bundeswehr ordentlich ins Kontor.
Drittens hat die Ampelregierung im Laufe des Jahres 2023 das Gesetz zur Umsetzung des Sondervermögens so verändert, dass mittlerweile nicht, wie ursprünglich festgelegt, große, langjährige komplexe Rüstungs- und Beschaffungsvorhaben, sondern auch Kostenfaktoren wie Infrastruktur, Betrieb und anderes aus dem Sondervermögen finanziert werden sollen (darunter die Wiederbeschaffung von an die Ukraine abgegebenem Material aus Bundeswehrbeständen). Das ist nicht nur für die Bundeswehr schädlich, sondern politisch ein Skandal. Denn es widerspricht massiv dem Geist, in dem die Ampelkoalition gemeinsam mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion das Sondervermögen geschaffen hat. Insgesamt ist das Sondervermögen also die richtige Idee gewesen, um schnell einen Investitionsschub für die Bundeswehr auszulösen. Doch die Umsetzung ist handwerklich unsauber, wenn nicht sogar missbräuchlich; vor allem aber fehlt die Perspektive.
Was notwendig wäre, ist neben dem Sondervermögen ein sukzessives Anheben des Einzelplans. Verteidigungsminister Boris Pistorius hat für den Haushalt 2024 zusätzlich zehn Milliarden mehr für seinen Einzelplan gefordert. Diese Summe halten Experten für realistisch; sie müsste Jahr für Jahr zusätzlich in Verteidigung investiert werden, um die Bundeswehr aktuell und nach dem Wegfall des Sondervermögens am Laufen zu halten sowie ausbauen und modernisieren zu können. Doch Boris Pistorius ist mit seiner Forderung leider gescheitert, und die Bundeswehr droht so, sprichwörtlich am langen Arm zu verhungern oder ab 2026 zu kollabieren.
Personal
Die wohl größte Herausforderung für die Bundeswehr ist jedoch die Personalfrage – präziser: die Personalgewinnung und der Personalaufwuchs. Seit Jahren stagniert die personelle Stärke des militärischen Personals, die aktuell bei 182.000 Soldatinnen und Soldaten liegt. Das unterschreitet die seit Jahren gültige Sollplanung von 184.000 und ist weit von den bis 2031 geplanten 203.000 Soldatinnen und Soldaten entfernt – ein Ziel, das auf Bündniszusagen innerhalb des NATO beruht, von einigen hohen Militärs aber als immer noch zu niedrig erachtet wird. Will die Bundeswehr dieses Ziel erreichen, braucht sie von heute an bis 2031 einen jährlichen Zuwachs von rund 3.000 Personen neben der jährlichen Regenerationsquote von über 30.000 Menschen. Diese Zahlen scheinen mit Blick auf Ergebnisse der Nachwuchsgewinnung der vergangenen Jahre völlig illusorisch.
Die Personalstagnation und die Probleme bei der Nachwuchsgewinnung sind zwar nicht neu, doch verschärfen sie sich mit atemberaubender Geschwindigkeit aufgrund des demografischen Wandels, sinkender Geburtsjahrgänge und des mittlerweile weit über den Facharbeiterbereich hinausgehenden Arbeitskräftemangels. Dennoch ist auch hier seit der Verkündung der Zeitenwende im Grunde nichts geschehen. Zwar wurden neue Werbekampagnen initiiert und neue Rekrutierungsanreize gesetzt, doch vieles sind Maßnahmen, die schon x-mal mit selten durchschlagendem Erfolg versucht worden sind. Im Laufe der vergangenen Monate hat deswegen zu Recht eine Diskussion um die Wiedereinsetzung der Allgemeinen Wehrpflicht, die Einführung einer Allgemeinen Dienstpflicht beziehungsweise von Mischmodellen wie etwa des Wehrpflichtmodells nach schwedischem Vorbild an Fahrt aufgenommen. Diese Forderung erhält mittlerweile breite Unterstützung: von der Wehrbeauftragten über den Verteidigungsminister bis hin zum Bundespräsidenten. Die CDU hatte bereits 2022 einen Parteitagsbeschluss zur Einführung einer Dienstpflicht gefasst, der ebenfalls von der CSU geteilt wird. Es scheint einen langsamen, aber konstanten Rutschbahneffekt in Richtung „eines“ Dienstes zu geben.
Auch hier agiert die Bundesregierung, allen voran der Verteidigungsminister, zu zögerlich. Schließlich sind die größten Gegner einer Wehroder Dienstpflicht in den Reihen der Ampelkoalition zu finden, allen voran in der FDP und Teilen der SPD, während sich die Grünen auffallend zurückhalten. Deswegen agiert Boris Pistorius zurückhaltend und tastend, statt konkrete Modelle eines Dienstes konzipieren und durchrechnen zu lassen. Dieses Vorgehen verdrängt die Tatsache, wie wichtig der Faktor Zeit gerade in dieser Frage ist. Notwendig sind ein Wehrerfassungswesen, größere Musterungskapazitäten, zusätzliche Infrastruktur – wahrscheinlich auch zusätzliche Standorte – und zusätzliche Ausrüstung. Dies alles zu planen, zu organisieren, zu beschaffen und aufzubauen, braucht Zeit. Das gilt insbesondere für andere Organisationen, die im Rahmen eines „Ersatzdienstes“ respektive einer Allgemeinen Dienstpflicht profitieren sollten und könnten. Entscheidungen sind also auch in diesem für die Bundeswehr existenziellen Feld so schnell wie möglich zu treffen.
Strukturen
Für Streitkräfte sind auch immer Strukturfragen und damit Aspekte der Aufstellung zentral. In diesem Bereich lässt sich zeigen, dass die Zeitenwende noch nicht einmal gestartet ist, obwohl es an Ideen und Konzepten gerade hier nicht mangelt. Der damalige Generalinspekteur, Eberhard Zorn, legte nach monatelangen Abstimmungen innerhalb der militärischen Führung der Bundeswehr bereits im Mai 2021 ein Eckpunktepapier vor, das strukturelle und prozessorale Veränderungen für die gesamte Bundeswehr vorsieht, um der Aufgabe der Landes- und Bündnisverteidigung besser gerecht werden zu können. Dieses grundlegende Dokument hätte es ermöglicht, sofort nach der Wahl im September 2021 mit den Veränderungen zu beginnen. Doch statt diese militärisch (nicht politisch!) abgeleiteten Pläne umzusetzen – und sei es unter einem anderen Namen – oder sie zumindest zu prüfen, legte die neue Verteidigungsministerin Christine Lambrecht sie in den Giftschrank, um dann ihrerseits eine „kritische Bestandsaufnahme“ anzuweisen. Die Ergebnisse dieser Bestandsaufnahme lagen erst Ende 2022 vor.
Als wäre diese Verzögerung von rund anderthalb Jahren nicht genug, ließ Verteidigungsminister Pistorius sowohl die Eckpunkte als auch die Ergebnisse der kritischen Bestandsaufnahme weiter liegen. Stattdessen verkündete er im September 2023, ein Umbau der Bundeswehr sei weder beabsichtigt noch notwendig – um dann im November 2023, bei der „Kommandeurstagung“ der Bundeswehr, den zuständigen Staatssekretär und den Generalinspekteur gewohnt kernig anzuweisen, ihm bis Ostern 2024 Ideen und Konzepte für Strukturveränderungen bei der Bundeswehr vorzulegen. Man darf gespannt sein, worin sich diese Ideen und Konzepte gravierend von den Inhalten des Eckpunktepapiers und der kritischen Bestandsaufnahme unterscheiden.
Was jetzt bereits feststeht, ist die Tatsache, dass bis Ostern 2024 volle drei Jahre seit dem Entwurf von Generalinspekteur Zorn ins Land gegangen sein werden, ohne dass sich, abgesehen von marginalen Veränderungen in der Struktur des Verteidigungsministeriums, bei der Bundeswehr maßgeblich etwas geändert haben wird. Das ist für unsere Verteidigungsfähigkeit fatal. Wie kein anderes Beispiel zeigt sich hier, dass die Zeitenwende der Bundesregierung leider im wahrsten Sinne nur eine „Sonntagsrede“ geblieben ist.
Johann Wadephul, geboren 1963 in Husum, promovierter Jurist, Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU- Bundestagsfraktion für Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, Europarat.