Das geopolitische Umfeld der Europäischen Union hat sich in den letzten Jahren stetig gewandelt. Die sicherheitspolitische Bedrohung, die von staatlichen Akteuren wie Russland und dem Iran, aber auch von nicht staatlichen Akteuren ausgeht, nimmt zu. Russland hat die europäische Friedensordnung spätestens mit dem Angriff auf die Ukraine aufgelöst. Der Iran schürt das Feindbild eines liberalen und manipulierenden Westens und stützt terroristische Organisationen im dschihadistischen Kampf gegen die westliche Welt. Die Staaten der Europäischen Union (EU) müssen auf das Sicherheitsumfeld reagieren und die eigene Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit massiv erhöhen. Die europäische Rüstungsindustrie muss in der Lage sein, schnell und in großem Umfang moderne Fähigkeiten bereitzustellen und die Produktion im Krisenfall schnell hochzufahren. Dies ist angesichts der aktuellen Gegebenheiten kein leichtes Unterfangen: Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union entscheiden selbstständig über ihre Verteidigungsplanung, ihre Beschaffungsvorhaben und über ihre hierfür eingesetzten Mittel. Von gemeinschaftlich koordinierter Rüstungsplanung und einem europäischen Kapazitätenaufbau kann bisher nicht die Rede sein.
Für eine glaubwürdige Abschreckung müssen die Armeen Europas ihre Lücken bei Ausrüstung und Munition schnell schließen. Europäische Rüstungskooperation und Koordination sind unausweichlich, um das Ziel der glaubwürdigen Abschreckungsfähigkeit zu erreichen. Die Budgets für Verteidigung, Forschung und Entwicklung werden nicht mehr ausreichen, um nationale Alleingänge bei der Rüstungsbeschaffung zu ermöglichen. Nicht nur die Kosten für neue Waffensysteme steigen, sondern auch die Entwicklungszyklen, die Neuinvestitionen in Forschung im Bereich der Wehrtechnik notwendig machen, werden immer kürzer. Die europäisch koordinierte Neuentwicklung und Beschaffung von Waffensystemen garantieren zudem Interoperabilität. Sie ist der Schlüssel einer schlagkräftigen Abschreckungsfähigkeit im transatlantischen Bündnis.
Verhandlungen im Ad-hoc-Modus
Die Europäische Union hat seit Februar 2022 eine Reihe von Initiativen beschlossen, die den bereits vorhandenen Instrumentenkasten im Bereich der Sicherheit und Verteidigung ergänzen. Zwei Initiativen sind besonders zu nennen: ASAP (Act in Support for Ammunition Production) und EDIRPA (European Defence Industry Reinforcement through Common Procurement Act). Bei ASAP handelt es sich um einen EU-Fonds zur Förderung der Munitionsproduktion. Die europäische Rüstungsindustrie soll mit insgesamt 500 Millionen Euro bei der Produktion dringend benötigter Artilleriemunition unterstützt werden. Der Ausbau industrieller Kapazitäten zur Produktion von Artilleriemunition sowie von Boden-Boden-Flugkörpern soll mithilfe der finanziellen, aber auch anderer Mittel gefördert werden. Ziel der Verordnung ist es, die Ukraine bis Juni 2024 mit einer Million Artilleriegranaten zu unterstützen.1 Dieses Ziel droht aufgrund mangelnder industrieller Kapazitäten und fehlender Aufträge weit verfehlt zu werden.2
Mit EDIRPA stellt Brüssel Mittel zur Verfügung, um gemeinsame Rüstungsbeschaffungen der Mitgliedstaaten zu fördern und bei der kurzfristigen Beschaffung zu unterstützen. Die Beschaffungen müssen von mindestens drei EU-Mitgliedern gemeinsam bei ausschließlich in Europa ansässigen Unternehmen getätigt werden. Durch EDIRPA können Vorhaben, die alle administrativen Bedingungen erfüllen, mit bis zu zwanzig Prozent des Auftragsvolumens gefördert werden. Da das Budget für EDIRPA lediglich 300 Millionen Euro umfasst, wird die erhoffte Signalwirkung für eine vertiefte europäische Koordination bei Rüstungsbeschaffungen jedoch ausbleiben.3
Die Verhandlungen zu beiden Initiativen mussten teilweise sehr schnell und verkürzt zwischen Kommission, Rat und Parlament erfolgen.4 Um nicht zu viel Zeit bei der Kompromissfindung zu verlieren, wurden zahlreiche sinnvolle Elemente der Initiativen gestrichen: So war im Zuge von ASAP ursprünglich vorgesehen, eine EU-weite Aufstellung der Fertigungskapazitäten für Munition zu erstellen. Ebenfalls sollten die Munitionsbestände sowie die Verfügbarkeit der zur Munitionsproduktion benötigten Ressourcen in einem Monitoring zusammengetragen werden. Die EU-Kommission sollte ursprünglich zudem über ein Eingriffsrecht verfügen, um an die Industrie erteilte Aufträge nachträglich zu priorisieren. Die unzureichende Finanzierung sowohl von ASAP wie EDIRPA ist ebenfalls dem Ad-hoc-Modus der Verhandlungen geschuldet.5
Diese Versäumnisse sollen durch die Verabschiedung einer neuen European Defence Industrial Strategy (EDIS) kompensiert werden. Die Strategie wird derzeit unter Beteiligung der Mitgliedstaaten, der Rüstungsindustrie sowie von Thinktanks erarbeitet. Eine erste Beschlussfassung soll im ersten Quartal 2024 zur Abstimmung vorliegen.6
Zu viel Egoismus, zu wenig Weitsicht
Die Erkenntnis, handeln zu müssen, ist durchaus vorhanden. Der Versuch, die europäische Rüstungskooperation durch neue (und auch bereits vorhandene) Instrumente zu fördern und die Mitgliedsländer der Europäischen Union bei der gemeinsamen Beschaffung zu unterstützen, zielt auf mehr sicherheitspolitische Verantwortungsübernahme ab. Dennoch ist es derzeit um die europäische Rüstungskooperation schlecht bestellt. Im Verteidigungsbereich wird immer noch zu national gedacht.
Die EU-Mitgliedstaaten koordinieren ihre Verteidigungsausgaben nicht untereinander. Die jeweiligen nationalen Beschaffungspläne sind trotz zahlreicher Instrumente auf EU- und NATO-Ebene nicht aufeinander abgestimmt.7 Die Beschaffung von Waffensystemen und Munition erfolgt oft national. Jeder Mitgliedstaat strebt stets an, die eigene Wehrindustrie bei Beschaffungen zu beauftragen. Das führt unter anderem dazu, dass zahlreiche Staaten unterschiedliche Rüstungshersteller mit der Produktion des gleichen Munitionstyps beauftragen. Die Munitionsproduzenten konkurrieren daraufhin am Weltmarkt um die gleichen Zulieferungsprodukte (meist Rohstoffe). Durch die konkurrierende Beauftragung werden die Preise für die Fertigungsrohstoffe nach oben getrieben, was die Kosten insgesamt in die Höhe treibt. Synergien innerhalb Europas werden auf diese Weise vermieden.
Ein weiteres Problem liegt darin, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union bei zahlreichen Beschaffungsvorhaben nicht auf europäische Produzenten zurückgreifen. Obwohl konkurrenzfähige Produkte europäischer Hersteller vorhanden sind, geben zahlreiche Staaten seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Herstellern außerhalb der Europäischen Union den Vorzug.8 Grund hierfür ist die vermeintlich schnellere Verfügbarkeit der Produkte („Off-theShelf-Verfügbarkeit“) von Produzenten in Drittstaaten. Zudem machen beispielsweise die USA durch günstige Finanzierungsmöglichkeiten (Foreign Military Sales) US-amerikanische Rüstungsgüter attraktiv. Die Aufträge an Drittstaaten kommen jedoch nicht nur der US-Rüstungsindustrie zugute. Aufstrebende Rüstungshersteller in Südkorea und der Türkei profitieren ebenfalls von der fehlenden Koordination innerhalb Europas.
Bereits bestehende europäische Rüstungskooperationsprojekte sind nach ihrer Initiierung mit Problemen behaftet. Die Kooperationen sind nicht nur zeitintensiv und oftmals ineffizient, sondern verursachen auch hohe politische und finanzielle Kosten. Außerdem erweisen sie sich nur dann als ökonomisch erfolgreich, wenn auch der Export an Drittstaaten gelingt. Die Kooperationen innerhalb Europas leiden darunter, dass die Projekte auf politischer Ebene beschlossen werden, die Industrie aber oftmals nicht oder nur ungenügend einbezogen wird. Es mangelt stets an einer klaren Vereinbarung, wer für die industrielle Führerschaft verantwortlich ist. Das führt zu zeitaufwendigen Zwischenverhandlungen und Konflikten über Zuständigkeiten innerhalb des gemeinsamen Projekts. Die geltenden deutschen Regelungen zum Rüstungsexport machen die Ausfuhr von Waffensystemen an Drittstaaten sehr unwahrscheinlich.9 Dadurch sind Kooperationsprojekte mit deutscher Beteiligung ökonomisch selten lukrativ.
Kraftakt aller Mitgliedstaaten
Eine erfolgreiche Rüstungskooperation innerhalb der Europäischen Union ist wichtiger denn je. Die einzelnen Mitgliedstaaten müssen auf Basis einer strategischen Planung den Bedarf an militärischem Gerät ermitteln und dann gemeinsam koordiniert die erforderlichen Rüstungsgüter beschaffen. Die European Defence Agency (EDA) ist eine geeignete Institution, diese Prozesse zu koordinieren und auch gemeinsame Beschaffungen, etwa von Munition, zu beauftragen. Dafür muss die EDA jedoch mit dem erforderlichen Budget ausgestattet werden.
Es wäre sinnvoll, den Modus europäischer Rüstungskooperation neu zu denken. Die Zusammenarbeit muss nicht zwingend auf der Kooperation von Firmen verschiedener europäischer Staaten aus demselben Sektor basieren. Diese Form der Rüstungskooperation ist meist politisch gewollt und dient eher einzelstaatlichen Partikularinteressen, heimische Rüstungsbetriebe an europäischen Projekten zu beteiligen. Eine europäische Ausschreibung auf Basis eines klar definierten Bedarfs wäre ein anderer Ansatz für Kooperation. Mit dem Zuschlag an ein einzelnes Unternehmen könnten die großen ökonomischen und politischen Reibungsverluste bisheriger Kooperationen vermieden werden. Die Produktion der Waffensysteme könnte dennoch jeweils im Land des Bestellers erfolgen.
Die Änderung des Modus europäischer Rüstungskooperationen erfordert einen politischen Kraftakt aller Mitgliedstaaten. Ein solcher ist derzeit weder spür- noch absehbar. Doch werden die Bedrohungen künftig nicht kleiner, die Bedarfe nicht weniger und die Anforderungen nicht geringer, sodass der politische Kraftakt vollzogen werden muss – die Frage ist nur, wie lange wir noch darauf warten können, bevor es zu spät ist für die europäischen Waffenbrüder.
Alexander Schuster, geboren 1986 in Landshut, Referent für Europäische Sicherheit und Leiter Projektteam Europa 24, Hauptabteilung Analyse und Beratung, Konrad-Adenauer-Stiftung.
1 Aurélie Pugnet: „EU richtet Fonds zur Förderung der lokalen Munitionsproduktion ein“, in: Euractiv, 07.07.2023, www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/eu-richtet-fonds-zur-foerderung-der-lokalen-munitionsproduktion-ein/ [letzter Zugriff: 08.12.2023].
2 Zeit Online: „EU verfehlt Lieferzusage von Munition für die Ukraine“, 14.11.2023, www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/ukraine-krieg-eu-munition-lieferung-boris-pistorius [letzter Zugriff: 08.12.2023].
3 ES&T Redaktion: „EU-Rüstungsinstrument EDIRPA – Weniger Geld und mehr Verspätung“, in: Europäische Sicherheit & Technik, 07.07.2023, https://esut.de/2023/07/meldungen/43272/eu-ruestungs-instrumente-dirpa-weniger-geld-und-mehr-verspaetung/ [letzter Zugriff: 08.12.2023].
4 ASAP wurde innerhalb von zwei Monaten ausverhandelt, EDIRPA innerhalb eines Jahres.
5 ES&T Redaktion: „EU fördert Munitionsproduktion mit 500 Millionen Euro“, in: Europäische Sicherheit & Technik, 13.07.2023, https://esut.de/2023/07/meldungen/43337/eu-foerdert-munitionsproduktion-mit-500-millionen-euro/ [letzter Zugriff: 08.12.2023].
6 Aurélie Pugnet: „Industriestrategie: EU-Kommission befragt Rüstungsbranche“, in: Euractiv, 29.11.2023, www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/industriestrategie-eu-kommission-befragt-ruestungsbranche/?_ga= 2.88103835.1859313903.1701602957-473995222.1701602957 [letzter Zugriff: 08.12.2023].
7 Eine Folge des unkoordinierten Vorgehens ist auch, dass alle EU-Staaten gleichzeitig ihre Bestände an Kampfpanzern reduziert haben: 2000 gab es noch circa 15.000 Kampfpanzer in den Arsenalen der EU-Mitgliedstaaten, heute sind es unter 5.000. Im Vergleich dazu verfügte Russland (vor Kriegsbeginn) über 12.400 Kampfpanzer. Vgl. Christoph Eisenring / Dominik Feldges: „Plötzlich wollen alle wieder Panzer. Aber ist es mehr als ein Strohfeuer?“, in: Neue Zürcher Zeitung, 28.01.2023, www.nzz.ch/wirtschaft/leopard-und-abrams-ploetzlich-wollen-alle-wieder-panzerld.1723165 [letzter Zugriff: 08.12.2023].
8 Die Rüstungsimporte der EU-Staaten haben sich 2022 um 35 Prozent erhöht. Vgl. Stockholm International Peace Research Institute: SIPRI Arms Transfers Database, www.sipri.org/databases/armstransfers [letzter Zugriff: 08.12.2023].
9 Beispielsweise der fehlgeschlagene Export des Eurofighter Typhoons an Saudi-Arabien. Vgl. Niklas Záboji: „Das ist schädlich für Deutschlands Ruf“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.11.2023, www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/saudi-arabien-airbuskritisiert-eurofighter-exportstopp-19302533.html [letzter Zugriff: 08.12.2023].