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Wie geht Digitalisierung?

Was wir über den Wandel wissen und besser machen können

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Der Wunsch nach Digitalisierung ist allgegenwärtig und prägt die Strategiediskussion in Unternehmen und Verwaltung. Dabei besteht weitgehend Einigkeit über das Ziel Mehr Digitalisierung. Fragt man aber zehn Unternehmen, was das genau für sie bedeutet, bekommt man zehn verschiedene Antworten. Diese reichen von generischen Slogans („Industrie 4.0“) über das Nachholen von Hausaufgaben aus den letzten Jahrzehnten (Automatisierung, Kunden-Self-Services, bessere Datennutzung, Integration) bis zu konkreten Ansätzen digitaler Innovation. Eine Gemeinsamkeit ist wiederum die Befürchtung, ohne eine nachhaltige digitale Transformation den Anschluss an Konkurrenz und Kunden zu verlieren. Politik wie Wirtschaft sind unzufrieden mit dem Stand der Digitalisierung. Aber was macht diese eigentlich so schwierig?

Mit Digitalisierungsprojekten sollen Abläufe in Unternehmen oder auch der öffentlichen Verwaltung verbessert werden. Aufgaben sollen schneller, besser, billiger und flexibler erledigt werden können. Dies wird unter anderem mithilfe von Informationstechnologie (IT) möglich. Damit ist die digitale Transformation zum Teil ein IT-Projekt. Diese Projekte gestalten sich bekanntermaßen schwierig, und sie scheitern nicht selten. Damit die Digitalisierung erfolgreich wird, ist gutes IT-Projektmanagement daher notwendig, allerdings nicht ausreichend.

 

Nutzen nur durch Nutzung

 

Ein Blick in die empirisch robuste Literatur zu IT-Projekt- und Change-Management zeigt, dass derzeit in aller Regel nicht Technik, sondern Menschen hinter problematischen Projekten stecken. Die University of Virginia hat beispielsweise in einer Untersuchung von 99 gescheiterten IT-Projekten in 76 verschiedenen Unternehmen festgestellt, dass in 88 Prozent der Fälle Mitarbeiterbeziehungsweise Projektmanagement ursächlich für Probleme war.1 Nur in jedem zwölften Projekt war das IT-System selbst problematisch und nur in jedem 25. Fall ein anderer technischer Grund. Die positive Erkenntnis ist, dass Problemursachen bei IT-Projekten damit meistens selbstverschuldet und somit vermeidbar sind.

Doch selbst wenn die Change-Manager alles so machen, wie es in klassischen Projektmanagementlehrbüchern steht, können die mit dem Projekt angestrebten Ziele oftmals nicht erreicht werden. Die schönen neuen Systeme funktionieren dann zwar, werden jedoch kaum genutzt. Ein Beispiel ist eine Bank, die ein neues System zur Vertriebsunterstützung einführt, das den Kundenberatern durch Automatisierung von Verwaltungsprozessen mehr Zeit für direkten Kundenkontakt geben soll. Wenn der Kundenberater das neue System nicht nutzt und weiterhin selbst Formulare oder eigene Spreadsheets – Kalkulationstabellen – mehrfach ausfüllt, kann es keinen Nutzen produzieren. IT-Systeme sind damit wie Fitnessgeräte: Ein elegantes Rudergerät, das im Keller steht und niemals genutzt wird, kann auch die Blutfettwerte der Käufer nicht verbessern. In der modernen Sicht ist ein IT-Projekt also nicht fertig, wenn ein technisch gutes System ausgeliefert wurde, sondern wenn dieses auch produktiv genutzt wird. Die tatsächliche Nutzung eines IT-Systems ist so grundlegend, dass sie in der IT-Wertschöpfungsforschung als „the missing link“ zwischen Investition und Nutzen von IT bekannt wurde. Im modernen „Technochange-Management“ steht daher das sogenannte Prä- und Postimplementierungsmanagement im Vordergrund. Das bedeutet, möglichst frühzeitig die künftigen Nutzer in Planung und Entwicklung von Digitalisierungsprojekten einzubinden („prepare the people“) und nach technischer Fertigstellung dafür zu sorgen, dass die neuen Systeme tatsächlich angenommen werden. Damit dies gelingt, lohnt ein Blick auf die Gründe, warum Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter überhaupt neue Systeme ablehnen.

 

Ursachen von Skepsis und Widerstand

 

Erzählt man in fachkundigen Kreisen von Digitalisierungsprojekten, bei denen auf die Einführung eines neuen Systems mit Ablehnung und Schrecken reagiert wurde, nicken gern alle und ergänzen ihre eigene Geschichte. Die verschiedenen Arten, wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter neue Systeme ablehnen, gehen von Lustlosigkeit über verbalen Widerstand bis zu offenem Boykott. Dieses sogenannte Reaktanzverhalten ist aber aus Sicht eines aufmerksamen Change-Managements gar nicht das eigentliche Problem. Es ist vielmehr eine Chance, sich auf die Suche nach den wirklichen Ursachen zu machen. Reaktanzverhalten ist damit wie körperlicher Schmerz, der beispielsweise warnt, wenn man eine Hand auf eine heiße Herdplatte legt. Es ist dann weniger hilfreich, den Schmerz zu verbieten oder zu unterdrücken, als vielmehr die Ursache zu finden und zu beseitigen, also die Hand vom Herd zu nehmen. Was sind nun die wirklichen Ursachen des häufigen Reaktanzverhaltens?

Mein Lehrstuhl hat die Digitalisierungsbemühungen eines großen Unternehmens der Automobilbranche verfolgt, bei dem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „das neue System“ hassten. Die Ablehnung spiegelte sich auch in sinkender Performance, hoher Fluktuation und steigenden Krankenstandstagen wider.2 Alle waren sich einig, dass das neue System furchtbar sei, und die Mehrheit zweifelte, damit langfristig klarzukommen. Eine genauere Analyse zeigte allerdings, dass „das IT-System“ eher Medium als Kern der Befindlichkeiten war. Die größte Unsicherheit und eigentlicher Grund der Ablehnungen waren die Änderung der in Jahren eingeschliffenen Arbeitsabläufe und die Notwendigkeit, völlig neue Arbeitsroutinen zu erlernen. Es wurden also die neuen Prozesse abgelehnt, nicht die neue IT, die eigentlich nur die sichtbare Oberfläche war. Als das Unternehmen aufgrund dieser Erkenntnis dann statt der üblichen IT-Schulungen umfassende Erklärungen anbot, warum die neuen Prozesse für das Unternehmen überlebenswichtig seien und sogar eine verbesserte tägliche Arbeit für viele ermöglichten, wandelte sich die starke Ablehnung von einem schwierigen „Da mache ich auf keinen Fall mit“ zum viel besseren „Die ganze Digitalisierung ist schon wichtig, die IT hat aber eine hässliche Oberfläche“. In der Folge konnten die Ziele des Digitalisierungsprojektes zunehmend erreicht werden, und Fluktuation, Leistung und Krankenstand normalisierten sich wieder. Die Digitalisierung wurde also erst ab dem Zeitpunkt erfolgreich, zu dem das Change-Management die Menschen richtig verstanden und ihnen die Chance gegeben hat, den notwendigen organisationalen Wandel jenseits der Technik zu verstehen.

 

Ein soziotechnisches Phänomen

 

Im Mittelpunkt erfolgreicher Digitalisierung muss daher der Mensch stehen. Bisher haben neue IT-Einführungen die alten Identitäten und Prozesse einer Organisation eher bestätigt und verstärkt. Im Gegensatz dazu ändert wirkliche Digitalisierung das Selbstverständnis der Organisation und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; sie ist damit per definitionem ein soziotechnisches Phänomen. Entsprechend beschreibt die Wirtschaftsinformatik seit jeher Informationssysteme als soziotechnische Systeme aus den Elementen Mensch, Aufgabe und Technik.

Wie wichtig für erfolgreiche Digitalisierung auch das Weiterentwickeln der organisationalen und professionellen Identität ist, zeigen Untersuchungen zum Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) in einer Krankenhausgruppe. Dort waren Ärzte und Verwaltung überzeugt, mit KI-Unterstützung wichtige Qualitäts- und Effizienzziele erreichen zu können. Trotzdem kommen diese Anwendungen nicht über die Pilotphase hinaus. Die KI wird letztlich abgelehnt. Einer der Gründe bei den Ärzten ist die Inkompatibilität mit ihrem alten beruflichen Selbstbild. Die erheblichen Chancen, die mit künstlich intelligenteren Prozessen verbunden sind, bleiben daher so lange ungenutzt, bis diese kulturellen Hürden überwunden werden.

Eine wirkliche digitale Transformation geht also über punktuelle Automatisierung und isolierbare Projekte hinaus und ändert das Selbstbild der Organisation und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Daher gibt es aktuell umfangreiche Forschungen zu Art und Rolle digitaler Kultur als Voraussetzung erfolgreicher digitaler Transformation. Ende der 1990er-Jahre erkannten Unternehmen ganz ähnlich, dass ein wirksames Qualitätsmanagement (Lean Management [schlankes Management], Kaizen [konsequentes Innovationsmanagement]), das verschwendungsarm produziert und kundenorientiert ist, nur mit sich mitentwickelnden und lernenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erfolgreich sein kann. Wie wichtig (und nicht technisch) eine gelebte digitale Kultur sein kann, zeigt ein Vergleich der Digitalisierung von Personalprozessen bei den 1.000 größten deutschen Unternehmen.3 Die Digitalisierungs-Champions haben nicht nur bessere Geschäftsprozesse. In diesen Unternehmen wird auch signifikant mehr Wert auf gutes Arbeitsklima und Work-Life-Balance gelegt. Ebenso hat eine achtzehnmonatige Fallstudie zu einer fundamentalen digitalen Transformation bei einem großen Luft- und Raumfahrtzulieferer gezeigt, dass Digitalisierung nur mit einem Kulturwandel gelingen konnte.4 Dazu gehörte das Ablösen einer traditionellen Topdown-Führungs- und Kommunikationskultur durch mehr Transparenz und bereichsübergreifende Kollaboration und ein Change-Management, das sich bis in die höchste Führungsebene erstreckte. Erst als die Topmanager die Notwendigkeit des kulturellen Wandels (etwa „Gemeinsam statt Silo“) erklärten und durch aktive Teilnahme an den Change-Maßnahmen deren Bedeutung klarmachten, lösten sich Skepsis und Widerstand auf, und die Transformation wurde ein Erfolg.

Wirkliche Digitalisierung ist also kein technisches Projekt, sondern (auch) das Aufbauen eines neuen Selbstverständnisses in einer neuen Welt. Das macht den Wandel schwieriger, aber auch nachhaltiger.

 

Tim Weitzel, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Informationssysteme in Dienstleistungsbereichen, Forschungsverbund „ForDigitHealth – Gesunder Umgang mit Digitalen Technologien und Medien“, Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

 

1 Ryan Nelson: „IT Project Management: Infamous Failures, Famous Mistakes, and Best Practices“, in: MIS Quarterly Executive, 6. Jg., Nr. 2/2008, S. 67–78.

2 Sven Laumer / Christian Maier / Andreas Eckhardt / Tim Weitzel: „Work routines as an object of resistance during information systems implementations: Theoretical foundation and empirical evidence“, in: European Journal of Information Systems (EJIS), 25. Jg., Nr. 4/2016, S. 317–343.

3 Tim Weitzel et al.: Digitalisierung und Zukunft der Arbeit – Ausgewählte Ergebnisse der Recruiting Trends 2020 und der Bewerbungspraxis 2020, Research Report, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Bamberg 2020.

4 Heinz-Theo Wagner / Tim Weitzel: „How To Achieve Operational Business-IT Alignment: Insights From A Global Aerospace Firm“, in: MIS Quarterly Executive, Jg. 11, Nr. 1/2012, S. 25–36.

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