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Alte Denkgewohnheiten und neue Handlungsmuster

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Das Ende einer Epoche oder Ära und der Beginn einer neuen Zeit“ – so ist im Duden der Begriff „Zeitenwende“ definiert, mit dem Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner denkwürdigen Regierungserklärung drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine die Lage beschrieben hat, um die Maßnahmen zu begründen, für die es bis dahin weder eine Mehrheit in der deutschen Bevölkerung noch in der Wählerschaft der Koalitionsparteien gegeben hat – darunter Waffenlieferungen an die Ukraine und ein mittlerweile beschlossenes, 100 Milliarden Euro schweres Sondervermögen für die Bundeswehr.

Obwohl seit dem Frühjahr 2022 zweifellos schwerwiegende politische Entwicklungen stattfinden, ist der Begriff der „Zeitenwende“ ebenso einleuchtend wie irreführend, denn er suggeriert einen plötzlichen, tiefgreifenden Umbruch. Aber werden wir wirklich gerade Zeugen vom Ende einer Ära und dem Anbruch einer neuen?

Tatsächlich stehen die revisionistischen Ziele und das brutale Vorgehen Moskaus eher in einer Kontinuität der letzten Jahre: Russlands massive Zerstörung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny in den 1990er-Jahren, der Georgien-Krieg 2008, die Annexion der Krim und Militäroperationen in den ostukrainischen Oblasten Donezk und Luhansk 2014, das Eingreifen Russlands in den syrischen Bürgerkrieg ab 2015 mit der Zerstörung von Aleppo, Mordanschläge auf Journalisten und Oppositionelle in Russland, Großbritannien und Deutschland waren nicht nur überdeutliche Warnsignale, sondern flagrante Verstöße gegen Recht und internationale Verträge, verbunden mit den ersten gewaltsamen Grenzverschiebungen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Friedrich Merz hatte das späte Erwachen im Februar 2022 deshalb als „Realitätsschock“ beschrieben und in der Mai/Juni-Ausgabe 2022 der Politischen Meinung ausgeführt, „dass die Welt, in der wir an diesem Tag [des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine] aufgewacht sind, lange vorher schon so war, wir dies aber nicht wahrhaben wollten“.

 

Politische Gratwanderung

 

Nun müssen wir nicht nur mit den unmittelbaren Folgen des Krieges zurechtkommen, sondern auch mit den Auswirkungen dieser jahrelangen Realitätsverweigerung: „Die Bundeswehr, das Heer, […] steht mehr oder weniger blank da“, gab der Inspekteur des Deutschen Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, zu Protokoll. Zudem stellen wir fest, in welche gefährliche energiepolitische Abhängigkeit sich Deutschland selbst manövriert hat – obwohl uns unsere Verbündeten mehrfach auf diese Gefahr hingewiesen haben. Russlands Aggression, die sich auch gegen die eigenen Verpflichtungen auf eine gemeinsam garantierte Friedensordnung richtet, entschlossen zu begegnen, ohne eine weitere Eskalation zu riskieren, ist eine heikle politische Gratwanderung, die auch dadurch erschwert wird, dass man in Peking, Brasilia, Neu-Delhi und anderswo genau beobachtet, wie der Westen agiert.

Der BRICS-Gipfel, bei dem sich Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika im Juni 2022 trafen, hat verdeutlicht, dass sich ein mächtiger anti-westlicher Block etablieren könnte, der mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung repräsentiert. Es ist daher dringend an der Zeit, zu handeln, um unsere Sicherheit, unsere Freiheit, unsere Demokratie und auch unseren Wohlstand zu schützen. Nichts davon gibt es zum Nulltarif, wie wir gerade schmerzhaft erfahren.

Zentrale Komponente europäischer Sicherheit sind die transatlantischen Beziehungen im Kontext der NATO. Unbestritten ist: Ohne die militärischen Fähigkeiten der USA können sich auf absehbare Zeit weder Deutschland noch Europa wirkungsvoll schützen. Unsere Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist deshalb langfristig auf die transatlantische Partnerschaft ausgerichtet und angewiesen.

Um als Bündnispartner für die USA attraktiv zu bleiben, müssen wir mehr in die transatlantischen Beziehungen einbringen. Es war daher überfällig, dass die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) in der Erklärung von Versailles bereits im März 2022 bekräftigt haben, dass Europa mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen und die eigenen Verteidigungsfähigkeiten deutlich erhöhen muss. Wenn die seit Jahren immer wieder beschworene Stärkung europäischer Verteidigungskapazitäten allerdings auch unter den jetzigen Bedingungen nicht zustande kommt, wird sie vermutlich nie stattfinden. Sie kann jedoch nur erfolgen, wenn die Beteiligten nicht nur verlässliche finanzielle Verpflichtungen eingehen, sondern auch zu strukturellen Veränderungen bereit sind. Das stellt vor allem Deutschland und Frankreich vor besondere Herausforderungen: Frankreich mit seiner nationalen Verfügungsgewalt über Nuklearwaffen und Deutschland mit seinem exklusiven Parlamentsvorbehalt für Auslandseinsätze der Bundeswehr. Präsident Emmanuel Macron hatte bereits im Februar 2020 angeboten, den Dialog über die strategische Abschreckung mit den EU-Partnern zu stärken – mit zaghaften Reaktionen in anderen Mitgliedstaaten.

 

Militärische Minimalmarken

 

Mit Blick auf unsere Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der NATO müssen wir uns auch fragen, was unsere Verbündeten von uns brauchen. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Heer: Den deutschen Landstreitkräften fällt die Hauptlast der konventionellen Verteidigung an der Ostflanke der NATO zu. Dass das Heer dazu entsprechend ausgestattet sein muss, ist keineswegs eine neue Erkenntnis. Unter dem Eindruck der russischen Annexion der Krim hatte die Bundeswehr bereits ein detailliertes Fähigkeitsprofil erarbeitet, wie die Streitkräfte bis Anfang der 2030er-Jahre ausgestattet sein sollen. Außerdem hat Deutschland seinen Verbündeten in der NATO zugesagt, bis 2031 drei voll ausgestattete Heeresdivisionen einsatzbereit zu haben. Das ist wohl die Minimalmarke, die schnellstmöglich aufgebaut und je nach sicherheitspolitischer Entwicklung erweitert werden sollte. In ähnlicher Weise gilt das auch für die militärischen Fähigkeiten der Bundeswehr im See-, Luft- und Cyberbereich. Durch die Ende Juni 2022 von der NATO beschlossene massive Aufstockung der schnellen Eingreiftruppe und die Stärkung der Ostflanke steht die Bundeswehr unter noch größerem Zeitdruck, wenn sie den Partnern versprochene Kontingente tatsächlich bereitstellen will – immerhin hat sich Deutschland verpflichtet, etwa 15.000 Soldaten, 65 Flugzeuge und zwanzig Schiffe beizutragen. Die damit verbundenen Anstrengungen sind aufgrund jahrelanger Vernachlässigung und Unterfinanzierung unserer Streitkräfte enorm. Zumal schon jetzt absehbar ist, dass das vereinbarte Sondervermögen dafür nicht ausreichen wird und das zugesagte Zwei-Prozent-Ziel für Verteidigungsausgaben auch in den nächsten Jahren nicht oder nur knapp erreicht wird. Die Handlungs- und Einsatzfähigkeit der Streitkräfte bedeutet im Klartext: „[…] wir müssen die Bundeswehr kriegsfähig machen“, wie es der Militärhistoriker Sönke Neitzel in der Welt formuliert hat.

 

Institutionelle Neujustierungen

 

Die Bundeswehr gilt politisch als „Parlamentsarmee“. Damit kommt dem Bundestag die Verantwortung zu, die Bundeswehr mit dem entsprechenden Material und dem notwendigen Personal in Umfang und Qualität auszustatten, dass sie zur Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben sowohl zur Landesverteidigung als auch ihrer Bündnisverpflichtungen benötigt. Dieser Verantwortung muss das deutsche Parlament stärker gerecht werden. Im Kontext europäischer Verteidigungsstrukturen muss der Bundestag die Vorbehalte für Militäreinsätze jenseits der Landesverteidigung neu justieren, um Verpflichtungen gegenüber Bündnispartnern im Ernstfall rasch nachkommen zu können. Wir müssen Lösungen finden, wie der Parlamentsvorbehalt gestaltet sein kann, um eine schnelle Reaktionsfähigkeit zu gewährleisten.

Im Kompetenzbereich der Exekutive ist die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrates, wie es ihn beispielsweise in den USA oder in Großbritannien gibt, längst überfällig. Ein solches Gremium, unter Beteiligung der relevanten Ressorts und mit einem Lage- und Analysezentrum ausgestattet, könnte nicht nur dabei helfen, Deutschlands Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu bündeln und nach außen hin zu verdeutlichen, wie es in der „Kölner Erklärung“ der CDU und CSU formuliert worden ist, sondern auch dazu beitragen, Gefahren und Risiken frühzeitiger zu erkennen und Handlungsempfehlungen zu entwerfen.

Eine wichtige politische Lektion der letzten Monate ist, wie schnell und deutlich sich Verhaltensmuster und Orientierungen verändern, sobald ein nicht erwartetes, von vielen auch nicht für möglich gehaltenes Ereignis tatsächlich eingetreten ist, während der wiederholte Hinweis auf mögliche, wahrscheinliche, selbst akute Risiken und Herausforderungen eher folgenlos bleibt. Dazu gehört zum einen die Einsicht, dass vitale Versorgungsstrukturen etwa im Energiebereich keine „rein privatwirtschaftlichen Angelegenheiten“ sind; zum anderen zählt dazu eine ganze Reihe stabiler Verhaltensmuster, die nun in Bewegung geraten sind – wie die Neigung zum Pazifismus („Frieden schaffen ohne Waffen“) und das Scheintabu von Waffenlieferungen in Krisenregionen beziehungsweise akute Konflikte (mit Ausnahme von NATO-Staaten, aber auch Israel, Ägypten, Saudi-Arabien).

Ob und inwiefern dadurch nachhaltige Veränderungen in der Politik und bei den Bürgern hinsichtlich Nachrüstung und Waffenexporten eintreten, ist jedoch keineswegs sicher. Einerseits sind die Deutschen weniger pazifistisch eingestellt als gemeinhin angenommen: Wiederbewaffnung, NATO-Doppelbeschluss, die Militäreinsätze im Kosovo und in Afghanistan – diese Entscheidungen waren hoch umstritten, wurden jedoch letztlich von Mehrheiten mitgetragen. Andererseits ist eine Erosion der Zustimmung zu Sanktionen gegen Russland und Waffenlieferungen für die Ukraine jetzt schon spürbar und auch nicht präzedenzlos, wie bei der nachlassenden Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen 2015/2016 zu beobachten war.

Jedenfalls müssen wir dringend die in Deutschland zu gering ausgeprägte strategische Kultur stärken. So beschrieb die junge deutsche Sicherheitsexpertin und Altstipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung Ulrike Franke Anfang des Jahres, als sich die Lage in der Ukraine schon zuspitzte, hierzulande allerdings kaum jemand ernsthaft von einer russischen Invasion ausging, in der ZEIT die weitverbreiteten Illusionen und Denkgewohnheiten auch und gerade in ihrer Generation: „Wollen wir sichergehen, dass unsere Interessen – wie der Kampf gegen den Klimawandel – Gehör finden, müssen wir mehr über Europas und Deutschlands Macht und Einflussmöglichkeiten nachdenken. Wir müssen die Geopolitik wieder erlernen. Das mag in deutschen Ohren unschön klingen. Aber es geht hier nicht unbedingt um Truppenbewegungen – wohl aber um die Frage, wie die Bundeswehr ausgestattet und geführt werden muss, um auch als Abschreckungsmacht wieder ernst genommen zu werden. Es geht darum, sicherzustellen, dass die nächsten Generationen in Deutschland und Europa in Frieden und Wohlstand leben.“ So gilt es vor dem Hintergrund der russischen Aggression, unser Verhältnis nicht nur zu Russland, sondern auch zu China zu überdenken und neu zu justieren. Anstatt weitere Abhängigkeiten mit Autokratien zu verstärken, sollten wir mit jenen Staaten noch mehr kooperieren und Handel treiben, die unsere Werte teilen. Dazu gehört beispielsweise, endlich die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA wiederaufzunehmen und zum Abschluss zu führen.

„Historisch waren es aber vor allem Situationen der Bedrohung und des Krieges, in denen kollektives und koordiniertes Handeln doch Formen fand“, hat der Soziologe Armin Nassehi im Spiegel geschrieben und spricht von einem „window of opportunity“ für Veränderungen. Mit anderen Worten: Wir müssen jetzt eingefahrene Denk- und Handlungsmuster hinterfragen und anpassen. Es muss also manches anders werden, damit bleiben kann, was offensichtlich nicht selbstverständlich ist: Freiheit und Sicherheit.

 

Norbert Lammert, geboren 1948 in Bochum, Sozialwissenschaftler, 1998 bis 2002 kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages, seit 2018 Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.