Der Stimmzettel suggeriert Kontinuität: Erststimme für persönliche Wahlkreiskandidaten, Zweitstimme für die Landesliste der Parteien. Diskontinuität offenbart der Wählerschaft erst die Mandatsverteilung. Denn daß Sieger im Wahlkreis ein Mandat erhalten, ist nicht gewiß. Sie können leer ausgehen. Dies ist die Konsequenz der Wahlrechtsreform, die die Ampel 2023 in einem rasanten Verfahren und im Dissens zu allen anderen Parteien im Bundestag durchgezogen hat. Daß das Bundesverfassungsgericht von der Union, der Bayerischen Staatsregierung, der LINKEN und tausenden Staatsbürgern gegen diese Reform, die zugleich auch noch die 5%-Sperrklausel verschärfte, angerufen wurde, war zu erwarten. Denn sie entwertete den personellen Faktor der bisherigen Regel und gefährdete die parlamentarische Vertretung regionaler oder ideeller Positionen. Das Urteil vom 30. Juli 2024 bestätigte sie einerseits im Blick auf die Wahlkreiskandidaturen als verfassungskonform und verwarf sie anderseits hinsichtlich der Unbeschränktheit der Sperrklausel als verfassungswidrig.
Worum ging (und geht) es bei der Reform?
Der durch Überhangs- und Ausgleichsmandate (deren Existenz und Wachstum auch durch das BVerfG gefördert worden war) auf über 700 Abgeordnete angeschwollene Bundestag ist dauerhaft auf 630 Mitglieder beschränkt worden. 299 werden in den Wahlkreisen, die anderen über die Landeslisten gewählt. Die Gesamtzahl der den Parteien zustehenden Mandate ergibt sich aus ihrem Anteil an den Zweitstimmen, also wie auch zuvor schon grundsätzlich nach den Prinzipien der Verhältniswahl. Nur waren diese Prinzipien durch die Mehrheitswahl in den Kreisen modifiziert worden, wenn dort über den Anteil nach dem Zweitstimmenergebnis hinaus zusätzliche (Überhang-)Mandate gewonnen worden waren, die dann zur möglichst gerechten Bewahrung des Proporzes durch die Zuweisung zusätzlicher Sitze an die anderen Parteien ausgeglichen werden sollten. Diesen Trend konsequent zu beenden, um eine Fixierung der Größe des Bundestags zu gewinnen, ist die Kernidee des neuen Wahlrechts.
Wie wird sie verwirklicht?
Zunächst werden Wahlkreis- und Listenmandate verhältnisgemäss auf die Landeslisten verteilt. Die Reihenfolge der Zuweisungen ergibt sich sodann nach der Rangfolge der persönlich erzielten Stimmen: je höher der eigene Anteil, umso höher der Platz auf der Verteilungsliste. Übersteigt die zustehende Mandatszahl die Wahlkreisgewinne, kommen die Listenbewerber zum Zug. Ist aber die Zahl der gewonnenen Direktmandate höher als der Anteil der Partei an den Zweitstimmen, erhalten die „Sieger“ in den Wahlkreisen mit den geringsten Stimmanteilen kein Mandat. Sie gehen leer aus (und mit ihnen offensichtlich auch weithin ihre Wähler). „Zweitstimmendeckung“ wird jenseits der Spitzenposition bei den direkt erworbenen Stimmen zur Voraussetzung dafür, ein Direktmandat tatsächlich zu gewinnen. Wenn die Zweitstimme konkurrenzlos erstrangig und bestimmend wird, verliert zudem das „Splitting“ an der Wahlurne, das Koalitionsbildungen im Auge hat, weithin Sinn und Wirkung.
Die beschlossene Preisgabe der drei gewonnenen Grundmandate als Instrument, die 5%- Sperrklausel zu umgehen, hat das Gericht speziell mit Blick auf CDU/CSU und der Berufung auf den Sinn dieser Hürde zurückgewiesen. Die Ungleichbehandlung der Parteien dies- und jenseits der 5% sei nur durch die erstrebte Gewährleistung der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Bundestages zu legitimieren, die arbeits- und gestaltungsfähige Fraktionen voraussetze. Daher sei es nicht notwendig, eine Partei auszuschließen, deren Abgeordnete mit einer anderen Partei dauerhaft eine Fraktionsgemeinschaft (nicht nur ein Wahlbündnis o. ä.) bilden würden. Karlsruhe bezieht sich ausdrücklich auf das jahrzehntelang praktizierte Beispiel von CDU und CSU, ihre gleichgerichteten Zielvorstellungen sowie auf den Verzicht auf Wettbewerb untereinander, indem Listen nur in unterschiedlichen Ländern eingereicht werden. Durch diese kooperierende Gemeinsamkeit werde das funktionale Ziel der Sperrklausel erreicht. Das Gericht verlangt daher eine Neuregelung mit der Maßgabe, daß Parteien unter 5% nur dann nicht berücksichtigt werden, wenn sie weniger als drei Mandate gewonnen haben. Konkret verworfen hat es den Koalitionsvorschlag ausdrücklich unter Berücksichtigung der speziellen, sich von den anderen Parteien unterscheidenden Konstellation von CSU und CDU. Im Kern seiner Logik läßt sich die CSU eigentlich sogar ohne Grundmandate als berücksichtigungsfähig verstehen. Offensichtlich will das Gericht jenseits des Unionsproblems hier grundsätzlich eine Revision, wohl auch angesichts des differenzierenden Wandels im Parteiensystem, der etwa 2017 dazu führte, daß 15% der Wählerstimmen unberücksichtigt blieben. Demnach ist die Diskussion schon Karlsruhes wegen nicht zu Ende. Erst recht wird sie wieder aufflammen, weil die unterlegenen und negativ tangierten Parteien die Chance dazu ergreifen werden, sobald sie sich stellt. In der Tat fordert die Verwandlung eines Siegers an der Wahlurne zu einem Verlierer bei der Mandatsverteilung legitimatorisches Verständnis deutlich heraus. Karlsruhe kann das nicht entgangen sein.
Wie hat das Bundesverfassungsgericht seine Zustimmung zur Zweitstimmendeckung begründet?
Karlsruhe hat dem Gesetzgeber freie Hand gelassen – lassen müssen –, solange er sich an die einschlägigen Artikel des Grundgesetzes (21,1 und 38,1,1) hält. Demnach hat die Wahl allgemein, unmittelbar, gleich, frei und geheim zu sein. Jenseits dessen ist die Wahlrechtsreform verfassungsrechtlich nicht an besondere Voraussetzungen gebunden. Gerecht, rational, nachvollziehbar, konsensuell u. ä. sind keine rechtlich relevanten Eigenschaften. Demnach waren im Urteil des Gerichts sämtliche Eigenheiten des rasanten parlamentarischen Verfahrens und der erheblichen Reichweite der Entscheidungen, welche die Kläger einwandten, verfassungsrechtlich unerhebliche parlamentarische Normalität. Systematisch nachvollziehbar ist es doch erstaunlich, weil das Gericht ehedem das Prinzip demokratischer Repräsentation aussagestark interpretiert und konkretisiert, sich sogar selbst einen besonderen Kontrollauftrag gegenüber der Freiheit des Gesetzgebers zugewiesen hat, da das Wahlrecht die politische Konkurrenz berühre und die parlamentarische Mehrheit somit gewissermaßen in eigener Sache tätig werde. U. a. deswegen wies es 2012 eine allein von der Unions- und FDP- Mehrheit im Bundestag getragene Reform zurück. In der Sache sieht Karlsruhe in der Zweitstimmendeckung keine Abkehr von den bisherigen Grundzügen: Die Prinzipien der Persönlichkeitswahl in Wahlkreisen wie der Verhältniswahl über Listen seien erhalten geblieben, verändert sei nur das Ausgleichsverfahren zwischen beiden Elementen. Der Gesetzgeber könne sich für eine andere Kombination entscheiden, und der Einwand, das neue Verfahren verstoße gegen die Wahlkreisrepräsentation finde im Recht keine Stütze. Auch seien Zählwert und Erfolgswert der Wählerstimme gleich geblieben, weil die Bedingungen für alle gleich und allein vom Wahlergebnis abhängig sind. Abstrakt rechtlich mag das gelten, konkret praktisch ist es zweifelhaft, weil z. B. Wahlkreisbürger, denen man ihren direkt gewählten Repräsentanten nimmt, sich schwerlich gleich gewichtet sehen wie ihre Nachbarn, die einen solchen Repräsentanten als Kommunikationsbrücke und Identifikationsfigur besitzen.
Reform, Rechtsprechung. Realität
Politiker wie Experten ließen in der Diskussion vielfach außer Acht, daß das Bundesverfassungsgericht sich zunehmend an den Repräsentationserwartungen der Bürger orientiert hat, auf Kosten systemischer, mathematischer wie auch staatsrechtlicher Perfektionierung. Auch Karlsruhe denkt an die Repräsentation von Regionen, Interessen, Ländern und Kleinparteien als bürgerschaftliche Anforderung, die sich im pluralistischen gesellschaftlichen Diskurs und in politischem Vertretungsanspruch niederschlägt. Resonanz und einzelne Erfolge sah das Gericht 1995 als Indiz dafür, das eine solche Partei - also eine Themen- oder Regionalpartei - „besondere Anliegen aufgegriffen hat, die eine Repräsentanz im Parlament rechtfertigen.“ Offensichtlich gilt diese Einsicht fort, wie die Wiedereinsetzung der Grundmandatsklausel zeigt. Im Wahlkampf 2025 ist sie für mehrere Kleinparteien geradezu zum Hoffnungsstern und zur strategischen Orientierung geworden.
Gleiche Bürgerfreundlichkeit gilt allerdings nicht mehr für das Wahlverfahren, dem es zumindest zunächst an Transparenz mangelt, auf die Karlsruhe einst großen Wert gelegt hat. Nun muß man sich gewiss keine Illusionen darüber machen, wie angemessen das bisherige Verfahren vom Wählervolk verstanden worden ist. Daß aber jetzt, wie in der Begründung des Gesetzentwurfes ausdrücklich festgestellt worden ist, in den Wahlkreisen gar keine Wahl mehr, sondern nur eine Vorauswahl der Kandidaten stattfindet, die dann gemäß ihrer Prozentanteile in der innerparteilichen Konkurrenz ins Parlament einziehen oder auch nicht, ist im vorgeblichen Wahlakt an Intransparenz nicht zu überbieten. Niemand weiß bei der Abgabe seiner Erststimme, was sie wert ist. Sie bleibt wahlkreisfremden Ergebnissen unterworfen. München könnte z. B. über Nürnberg, Essen über Paderborn, Dresden über Leipzig bestimmen. Reiht sich der Vorausgewählte nicht unter die Zweitstimmendeckung ein, sind die Stimmen seiner Wähler gar nichts wert. Ein relativ bequemer Sieg in einer Hochburg versperrt z. B. demParteifreund, der sich in einem umkämpften Kreis mit auszehrendem Einsatz den ersten Platz mit einer mittelmäßigen Prozentzahl erstritten hat, den Zugang zur Mandatsverteilung. Von der bisherigen Erfordernis ihres gleichen Erfolgswerts ist nach der Interpretation des Urteils eigentlich nur das gleiche Risiko potentiellen Misserfolgs geblieben. Die Erststimme – die „Vorauswahl“ – wird zu einer Wahl ins Ungewisse.
Diese Konstruktion schwächt die ohnehin nicht mehr allzu strahlkräftige Idee des Wahlkreisabgeordneten als speziell Legitimation förderndes Bindeglied zwischen Institution und Bürgern. Sie ist bisher in der Übermacht der Parteiendemokratie nicht gänzlich destruiert, wie die immer wieder gemessene Reputation „ihres“ Angeordneten als Interessenvertreter gegenüber Politik, Verwaltung und Wirtschaft bei einem nicht geringen Teil der Wahlkreisbürgerschaft zeigt – in konkreten Fällen durchaus auch über die Parteineigung hinaus. Daß der Unterschied zwischen Persönlichkeits- und Parteistimme relativ gering geworden ist, ändert an diesem Befund weniger als manche Parteienforscher meinen. Diese strukturelle Repräsentanz ist immer noch etwas anderes als das Faktum, daß sich bei der Vielzahl der Mandatare wohl meist jemand finden läßt, der sich einer Sache annimmt. Diese Rolle kann durchaus vertrauensbildend wirken, wie sie auch Eigenständigkeiten von Abgeordneten, die nicht selten mit Wahlkreisinteressen verbunden sind, zu stützen vermag. Solche mehr politisch-kulturellen Phänomene mögen Parteiführungen, Parteiapparate und parlamentarische Eliten weniger leiten. Aber sie beeinflussen Stimmungen und Meinungen in der politisch interessierten Öffentlichkeit.
Ein Fazit
Das neue Wahlrecht macht zur Hauptsache, die Höchstzahl von 630 Abgeordneten im Bundestag zu garantieren. Doch eine Demokratie, die sich an einem solchen Ziel auf Kosten normativer Kriterien orientiert, die für ihre Identität relevant sind, verliert an Wert – hoffentlich nicht ebenso wie die Erststimmen bei der nächsten Wahl. Im aktuell erregten und herausfordernden Diskurs ist das neue Wahlrecht kein Thema. Liegen die Ergebnisse vor, könnte es zum Thema werden. So oder so bleiben Korrekturen zu erwarten, wie sie von der damaligen Opposition wiederholt angekündigt worden sind. Allerdings hängt deren Realisierung von den Ergebnissen ab, welche die strittige Reform zeitigt.