Familiärer Hintergrund und prägende Einflüsse
Ernst Müller wird am 30. September 1915 als drittes von sechs Kindern des Arztes Fritz Müller und dessen Ehefrau Susanne, geborene Hermann, im ostpreußischen Königsberg geboren. Er wächst wohlbehütet in großbürgerlichen Verhältnissen auf. Seine Kindheit und Jugend bezeichnet er in der Rückschau als „ein sorgloses und unbeschwertes Leben“.
Neben dem Elternhaus ist es die Schule, die Ernst Müller entscheidend prägt. Er besucht das Staatliche Friedrichs-Kollegium, ein humanistisches Gymnasium, an dem er im September 1932 noch vor Vollendung seines 17. Lebensjahres das Abitur mit der Note „Gut“ besteht. In Elternhaus und Schule weht ein „Geist preußischer Pflichterfüllung und liberaler Weltoffenheit“ – eine Geisteshaltung, die auch einem Diplomaten gut ansteht. Ernst Müller strebt den diplomatischen Dienst an und beginnt deshalb nach dem Abitur an der Albertus-Universität Königsberg ein Studium der Rechte und der Volkswirtschaft, das er im Jahre 1934 abbrechen muss.
Opfer des Nationalsozialismus
Die nationalsozialistische Machtübernahme in Deutschland mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 bleibt für Müller persönlich wie für seine Familie nicht folgenlos. Seine Mutter ist das vierte Kind des bekannten jüdischen Professors für Physiologie Ludimar Hermann. „Ich habe am eigenen Leibe erlebt“, schreibt er in seinen Lebenserinnerungen, „wie die Nazis mit ihren abstrusen Ideen von der arischen Rasse Familien bis ins Mark getroffen und persönliche Schicksale aus der normalen Bahn geworfen haben.“ Im Oktober 1934 beginnt Müller eine kaufmännische Lehre in einer Königsberger Speditions- und Schifffahrtsfirma, die er – unterbrochen durch die Ableistung des Wehrdienstes – 1938 erfolgreich abschließen kann. Da sich keine Möglichkeit zur Weiterbeschäftigung ergibt, verlässt er seine Heimatstadt und wird in der Hansestadt Bremen ebenfalls in einer Speditions- und Schifffahrtsfirma als Kaufmännischer Angestellter tätig.
Das antisemitische Klima in Deutschland bekommt auch Ernst Müller zu spüren, der bisweilen als „Halbjude“ beschimpft wird. „Durchzustehen und zu überleben, meine Mutter, soweit wie möglich, zu schützen und das Regime zusammenbrechen zu sehen“ – so beschreibt Müller seine Motivation, als am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbricht und er vier Monate später in Oldenburg bei einer bespannten Artillerie-Abteilung seinen Wehrdienst anzutreten hat. Er gerät in einen inneren Zwiespalt. Ihm ist bewusst, dass „die Beseitigung des Nazi-Regimes (…) nur noch über die totale Niederlage Deutschlands möglich“ ist, und er sie „auch als Soldat, der das Vaterland zu verteidigen (sucht), herbeisehnen“ muss. Müller nimmt am Krieg gegen die Sowjetunion teil, wird mehrmals verwundet und mit dem Eisernen Kreuz II. und I. Klasse ausgezeichnet.
Gründung einer eigenen Familie
Das Ende der Kampfhandlungen erlebt er Anfang 1945 in Ostpreußen, als er in der Kesselschlacht von Heiligenbeil nochmals verwundet wird. Über das Lazarett in Pillau am Frischen Haff gelangt er nach Kopenhagen und schließlich nach Norddeutschland. Bei einer Cousine in Hamburg erfährt er, dass sich seine Braut Ruth Fien in Stade befindet. Während seiner Ausbildung in Königsberg hat er sie kennengelernt. Die Umstände verhindern eine Eheschließung in der Kriegszeit. Am 12. Mai 1945 sehen sie sich in Stade wieder. Bereits vier Tage später heiraten Ernst Müller und Ruth Fien. Anfang Juni 1945 kommt das junge Ehepaar in das völlig zerstörte Bremen, wo für Ernst Müller privat wie beruflich ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Aus der Ehe gehen drei Kinder hervor: Barbara, Sabine und Andreas. Seine Eltern müssen noch bis 1947 in Königsberg, das nun Kaliningrad heißt, ausharren, bis sie nach Bremen übersiedeln können. In Erinnerung an die Familie seiner Mutter, die in Deutschland während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ausgelöscht worden ist, führt Ernst Müller fortan den Doppelnamen Müller-Hermann.
Politische Anfänge in Bremen
Er arbeitet zunächst als Dolmetscher für die amerikanische Militärregierung und beteiligt sich gleichzeitig am politischen Wiederaufbau in der Hansestadt. Müller-Hermann tritt der Bremer Demokratischen Volkspartei (BDV) bei, die „ein antimarxistisches Gegenwicht“ darstellen soll. In der BDV zählt er zu den maßgeblichen Kräften, die zur Stärkung des bürgerlichen Lagers eine Fusion mit der CDU anstreben, welche für das Land Bremen am 16. Juni 1946 gegründet wird. Nachdem eine Fusion Anfang Juli 1946 am Widerstand der BDV gescheitert ist, schließen sich die Fusionsbefürworter der CDU an. Die Idee einer christlichen, interkonfessionellen, für alle sozialen Schichten offenen Volkspartei spricht Müller-Hermann an, der den Eintritt in die CDU „nie bereut“ hat. Er gründet die Junge Union, deren Vorsitz er übernimmt, erringt bei den ersten Wahlen zur Bremischen Bürgerschaft am 13. Oktober 1946 ein Mandat für die CDU und wird 1947 zum Landesgeschäftsführer der Partei ernannt. Weil er in seiner beruflichen Existenz nicht allein von Partei und Politik abhängig sein möchte, gibt er im November 1949 sein Amt als hauptamtlicher Landesgeschäftsführer der CDU ab, um Mitarbeiter in der Redaktion des Bremer „Weser Kurier“ werden zu können. Unabhängig von dieser Entscheidung wachsen seine Macht und sein Einfluss in der Bremer CDU. Müller-Hermann wird 1949 Vorsitzender des Landesausschusses, dem Entscheidungsgremium zwischen den Landesparteitagen, und tritt 1950 als Nachfolger von Johannes Degener, der nach den ersten Wahlen zum Deutschen Bundestag Mitglied im Bonner Parlament wird, an die Spitze der CDU-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft.
Wechsel in die Bundespolitik
Zwei Jahre später nimmt die politische Laufbahn von Müller-Hermann eine entscheidende Wendung. Degener legt sein Bundestagsmandat zum 31. Dezember 1951 nieder, da er nach der Regierungsbeteiligung der CDU in Bremen das Amt des Senators für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen übernimmt. Für Degener rückt Müller-Hermann in den Deutschen Bundestag nach, der wiederum auf sein Mandat in der Bürgerschaft verzichtet. Als er im Januar 1952 von der Weser an den Rhein wechselt, steht die Entscheidung über den Vertrag zur Gründung der Montanunion auf der Tagesordnung des Hohen Hauses in Bonn. In den ersten Monaten seines Bonner Daseins drehen sich die politischen Debatten um die Integration der Bundesrepublik in die westliche Staaten- und Verteidigungsgemeinschaft.
Plädoyer für eine ernsthafte Prüfung der Stalin-Note
Mitten in diese Diskussion platzt am 10. März 1952 die Stalin-Note, in der die Sowjetunion den Westmächten Verhandlungen über die Wiedervereinigung und Neutralisierung Deutschlands vorschlägt. Der Parlamentsneuling Müller-Hermann schweigt nicht, im Gegenteil, während der parlamentarischen Sommerpause macht er sich „Gedanken zur internationalen Lage im Hinblick auf das Problem einer Wiedervereinigung Deutschlands“, die er am 1. September 1952 Bundeskanzler Konrad Adenauer übersendet. Es sind die Gedanken eines jungen Abgeordneten, „den das Gefühl der Mitverantwortung für das Schicksal unserer Landsleute in der Ostzone im Zusammenhang mit den vor uns liegenden außenpolitischen Entscheidungen Tag und Nacht mit Sorgen und Zweifeln erfüllt“.
Mit seiner Forderung nach einer ernsthaften Prüfung der deutschlandpolitischen Vorschläge der Sowjetunion begibt sich Müller-Hermann in Gegensatz zur offiziellen Linie der Bundesregierung und der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, die die Stalin-Note – wie wir heute aus sowjetischen Dokumenten in Moskauer Archiven unzweifelhaft wissen – zurecht als Störmanöver ablehnen, mit dem Stalin die Westintegration der Bundesrepublik Deutschland habe behindern wollen. Politisch gefährlich wird diese Ausarbeitung für ihn, als sie publik wird. Seine Bonner Karriere scheint bereits beendet zu sein, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Dass er für die Bundestagswahl 1953 als Direktkandidat in Bremen aufgestellt und auf der Landesliste abgesichert wird, verdankt er dem CDU-Landesvorsitzenden Heinrich Barth, der schützend seine Hand über ihn hält. In Bonn erhält er Rückendeckung von Bundestagspräsident Hermann Ehlers, dem Fraktionsvorsitzenden Heinrich von Brentano und dem Fraktionsgeschäftsführer Heinrich Krone, die sein politisches Talent erkennen.
Gegenspieler von Verkehrsminister Seebohm
Nach seiner Wiederwahl in den Deutschen Bundestag 1953 sitzt Müller-Hermann in Bonn fest im Sattel. Die Bundeshauptstadt wird in den folgenden 27 Jahren Mittelpunkt seines politischen Wirkens. Als Verkehrspolitiker macht er sich in den 1950er und 1960er Jahren einen Namen, gilt als Gegenspieler der Verkehrsminister Hans-Christoph Seebohm und Georg Leber. Die Verkehrspolitik Seebohms kritisiert Müller-Hermann als dirigistisch und damit im Widerspruch zur Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. Der Bremer Bundestagsabgeordnete fordert mehr marktwirtschaftliche Elemente in der Verkehrspolitik und plädiert in diesem Zusammenhang unter anderem für eine Leitung der Bundesbahn nach kaufmännischen Gesichtspunkten, den Wettbewerb der Verkehrsarten in einem Ordnungsrahmen mit beweglichen Tarifen und eine vorausschauende Planung und Finanzierung der öffentlichen Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Schließlich ist ihm die Sicherung der freien Wahl des Verkehrsmittels „ein grundsätzlich wichtiges und nicht bestreitbares Postulat“. Er wird parlamentarisch initiativ und legt eine vom Regierungskurs abweichende verkehrspolitische Gesamtkonzeption in Form einzelner Gesetzesvorhaben und Anträge vor, die in der Unionsfraktion eine breite Unterstützung finden.
Selbstverständnis als Parlamentarier
Diese Initiative sagt viel aus über das Selbstverständnis des Parlamentariers Müller-Hermann, der beklagt, dass sich die Mitglieder der Regierungsfraktionen vor allem „als Vollzieher des von der Regierung ausgehenden politischen Willens“ verstehen und sich deshalb bei Regierungsvorlagen mit punktuellen Korrekturen begnügen. Hinter dem Willen der Regierung stehe in der Regel „die festgefahrene Meinung der Ministerialbürokratie“. Das komme einer „Pervertierung der parlamentarischen Demokratie“ gleich, weil der politische Wille weniger von unten als von oben ausgehe. Die Auseinandersetzung mit Seebohm gehe über die inhaltlich-fachpolitische Ebene hinaus und berühre „in der Tiefe“ das Verhältnis von Legislative und Exekutive. Zugleich sieht er das Problem der Verbandsinteressen, die durch Lobbyarbeit auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss auszuüben versuchen. Aus diesem Grund baut Müller-Hermann um sich herum eine Mannschaft qualifizierter Personen aus allen Bereichen der Verkehrswirtschaft auf, die das Allgemeinwohl zur Richtschnur aller Überlegungen und Vorschläge zu machen versucht.
Nicht nur im eigenen Saft zu schmoren, sondern sich auch externen Rat einzuholen, zeichnet den Politiker Müller-Hermann aus. Vor diesem Hintergrund ist auch sein Engagement in der Gesellschaft zum Studium strukturpolitischer Fragen zu sehen, deren Präsident er von 1964 bis 1985 ist. Diese Einrichtung versteht sich als Bindeglied zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft und sieht ihre Aufgabe in der Beratung der Politik bei strukturellen Frage- und Problemstellungen.
Mitglied im Europäischen Parlament und Promotion zum Dr. rer. pol.
Auf europäischer Ebene widmet er sich ebenfalls der Verkehrspolitik. Von 1958 bis 1965 gehört er dem Europäischen Parlament an und übt im Verkehrsausschuss das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden aus. Mit Fragen der europäischen Verkehrspolitik setzt er sich auch in seiner Dissertation auseinander, in der er die Anwendung des Wettbewerbsprinzips im gemeinsamen Verkehrsmarkt untersucht. 1963 wird er zum Dr. rer. pol. promoviert und holt damit nach, was ihm während des Nationalsozialismus verwehrt worden ist. Zu diesem Zeitpunkt gilt Müller-Hermann als etabliertes Mitglied der CDU/CSU-Fraktion, hat Sitz und Stimme im Fraktionsvorstand und ist aktiv im Diskussionskreis Mittelstand. Schließlich gehört er zur so genannten „Brigade Erhard“, jenem Kreis in der CDU/CSU-Fraktion, der sich tatkräftig für die Wahl von Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard zum Bundeskanzler einsetzt.
Politischer Aufstieg in Bonn
Als Erhard im Herbst 1963 zum Bundeskanzler gewählt wird und ein neues Kabinett zusammenstellt, bleibt die Besetzung des Verkehrsressorts unverändert. Seebohm übt dieses Amt bis zur Bildung der Großen Koalition im Spätherbst 1966 weiterhin aus.
In den Jahren der ersten Großen Koalition erreicht Müller-Hermann den Höhepunkt seiner politischen Karriere. Der Platz am Kabinettstisch bleibt ihm auch in dem schwarz-roten Regierungsbündnis, in dem die SPD mit Georg Leber den Bundesverkehrsminister stellt, verwehrt. Dafür steigt er aber mit der Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden im Juni 1967 in der Hierarchie der CDU/CSU-Fraktion auf. Er trägt maßgeblich dazu bei, dass die Unionsfraktion ihre Kontrollfunktion gegenüber der Bundesregierung wahrnimmt, die die zahlenmäßig schwache FDP nicht leisten kann.
Wettbewerb um das beste verkehrspolitische Konzept in der Großen Koalition
Die Arbeit der Bundesregierung zu kontrollieren und zugleich als CDU/CSU-Fraktion ein eigenständiges Profil zu zeigen, diese Möglichkeit bietet die Verkehrspolitik. Am 22. September 1967 stellt Verkehrsminister Leber das von der Bundesregierung beschlossene „Verkehrspolitische Programm für die Jahre 1968 bis 1972“ vor, das in der Öffentlichkeit große Beachtung findet und als „Leber-Plan“ in die Geschichte eingeht. Die wirtschaftliche Gesundung der Deutschen Bundesbahn und die Entlastung des Straßenverkehrs sind die wesentlichen Ziele dieses verkehrspolitischen Programms, die sich miteinander verbinden lassen. Die Verlagerung des Güterfernverkehrs von der Straße auf die Schiene ist hier das Stichwort.
Für die CDU/CSU-Fraktion erarbeitet Müller-Hermann einen Gegenentwurf, der dirigistische Eingriffe des Staates in den Verkehrsmarkt ablehnt, stattdessen auf marktwirtschaftliche Konkurrenz der verschiedenen Verkehrsträger setzt und die Gesundung der Deutschen Bundesbahn vor allem durch Kostensenkungen zu erreichen sucht. Die Fraktion fühlt sich nicht an den „Leber-Plan“ als eine Koalitionsabsprache gebunden, da er im Herbst 1966 nicht Gegenstand der Koalitionsverhandlungen zur Bildung der neuen Bundesregierung gewesen ist. Die Vorlage eines Gegenentwurfs zum „Leber-Plan“ wird als Möglichkeit zur parteipolitischen Profilierung innerhalb der Großen Koalition verstanden.
Diese unterschiedlichen Positionen werden Ende Juni 1968 in einer Koalitionsvereinbarung zusammengeführt. Dabei bewegt sich die SPD in wesentlichen Fragen auf die Unionsparteien zu – der Preis, den die SPD „für die weitgehenden Zugeständnisse der CDU/CSU in der Notstandsgesetzgebung zahlen“ (Heribert Knorr) muss. Der Verkehrsminister kann sich mit seinem Vorhaben eines verkehrspolitischen Dirigismus nicht durchsetzen. „Die gröbsten Mängel, die dem Leber-Plan innewohnten, sind eliminiert“, triumphiert Müller-Hermann. Insbesondere sei es gelungen, die von Leber und der SPD angestrebten Transportverbote zu verhindern und die freie Konsumwahl auch im Bereich des Verkehrs aufrechtzuerhalten. Als Zugeständnis gegenüber dem Koalitionspartner akzeptiert die CDU/CSU-Fraktion die Einführung einer zeitlich befristeten Straßengüterverkehrssteuer. Die von Leber gewünschte Verlagerung des Güterfernverkehrs von der Straße auf die Schiene ist mit dieser steuerpolitischen Maßnahme nicht zu erreichen.
Landesvorsitzender der CDU in Bremen
Mit dem Gewicht seines Bonner Amtes und der Unterstützung der Jungen Union mit ihrem Landesvorsitzenden Bernd Neumann bewirbt sich Müller-Hermann im Oktober 1968 um den Landesvorsitz der CDU Bremen. Mit der knappen Mehrheit von 59 zu 53 Stimmen setzt er sich in einer Kampfabstimmung gegen den bisherigen Parteivorsitzenden Jules Eberhard Noltenius durch. Unter seiner Führung wird die Landesgeschäftsstelle ausgebaut und damit die Schlagkraft der Partei in der Hansestadt erhöht. Zur Erhöhung der politischen Schlagkraft tragen auch die Gründung neuer Ortsunionen und eine Verdreifachung der Mitgliederzahl bei. Trotz dieser Erfolge bleiben die Einflussmöglichkeiten der Bremer CDU innerhalb der Bundespartei begrenzt, weil „unser Landesverband im Bundesmaßstab einen besseren Kreisverband darstellt“, wie Müller-Hermann weiß, der auch nach der verlorenen Bundestagswahl von 1969 als Leiter des Arbeitskreises für Wirtschaft und Ernährung der engeren Fraktionsführung in Bonn angehört.
Werben für eine aktive Ostpolitik
In der sechsten Wahlperiode von 1969 bis 1972 stehen die Deutschland- und Ostpolitik im Zentrum der politischen Auseinandersetzung und damit Fragen, die den Ostpreußen Müller-Hermann in besonderer Weise berühren. Die Deutschland- und Ostpolitik der Unionsparteien zu Beginn der 1970er Jahre sieht er kritisch, spricht gar davon, dass sie sich in der Öffnung nach Osten nicht auf der Höhe der Zeit befänden. Müller-Hermann bemängelt das Festhalten an Rechtspositionen, die „keinen international bindenden Charakter“ haben. Auch erinnert er an die Zusammenhänge, die zur millionenfachen Flucht und Vertreibung der Deutschen nach 1945 geführt haben. „Hitlers Theorie von der deutschen Herrenrasse rächt sich an Kindern und Kindeskindern“, lautet an dieser Stelle seine bittere Erkenntnis. In den Unionsparteien macht er sich für eine aktive Ostpolitik stark und reist im Sommer 1970 zusammen mit seinem Fraktionskollegen Philipp von Bismarck, dem Sprecher der Pommerschen Landsmannschaft, nach Polen. Nach der Rückkehr von diesem Informationsbesuch wirbt er für eine Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen, die vergleichbar sei der deutschen Aussöhnung mit Frankreich und von einer breiten parlamentarischen Mehrheit getragen werden müsse. Vor diesem Hintergrund handelt Müller-Hermann nicht konsequent, als er im Mai 1972 im Deutschen Bundestag bei der Abstimmung über den Warschauer Vertrag, der die Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland auf eine neue Grundlage stellt, der Fraktionslinie folgt und sich der Stimme enthält. Selbstkritisch bezeichnet er in der Rückschau dieses Abstimmungsverhalten als „einen Schwachpunkt in meiner politischen Laufbahn“, die sich nach der Bundestagswahl 1972, bei der die CDU in Bremen unter die 30-Prozent-Marke rutscht, im Abwärtstrend befindet.
Machtverlust in der Landes- und Bundespolitik
Als Landesvorsitzender muss er die politische Verantwortung für dieses schlechte Ergebnis übernehmen. Die Junge Union, die ihn 1968 mit ins Amt gehoben hat, geht zusehends auf Distanz zu ihm und spricht sich im Frühjahr 1974 offen für eine Beendigung der „Ära Müller-Hermann“ in der Bremer CDU aus. Müller-Hermann ist allerdings nicht bereit, das Feld freiwillig zu räumen und stellt sich einer Kampfabstimmung um den Landesvorsitz, in der er dem 36-jährigen Kaufmann Uwe Hollweg mit 89 zu 107 Stimmen unterlegen ist. Auch in Bonn verliert er an Macht und Einfluss. Ein Grund hierfür ist sein unterkühltes Verhältnis zu Helmut Kohl, dem neuen starken Mann der CDU. Müller-Hermann scheitert 1973 mit seiner Kandidatur zur Wiederwahl in den Bundesvorstand der CDU und muss 1976 den Vorsitz des Arbeitskreises für Wirtschaft und Ernährung an den CSU-Politiker Werner Dollinger abtreten. Sein Bundestagsmandat übt er noch bis zum Ende der 8. Wahlperiode im Herbst 1980 aus, nimmt in der CDU/CSU-Fraktion aber keine gestaltende Rolle mehr wahr.
Sorge um die Einheit der Union
In der Auseinandersetzung über den Kanzlerkandidaten der Unionsparteien für die Bundestagswahl 1980 meldet sich Müller-Hermann noch einmal zu Wort. Dabei spart er nicht mit Kritik an der „mehr als ungeschickte(n) Verhandlungsführung“ seiner Partei, die dazu geführt habe, dass „die CDU nun mit dem Rücken zur Wand steht und die Alternative fast nur noch ‚Kanzlerkandidat Strauß oder Bruch der Union‛ heißt“. Entgegen dem Votum der norddeutschen CDU-Landesverbände für den niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht stimmt er bei der Entscheidung über den Kanzlerkandidaten in der Sitzung der CDU/CSU-Fraktion am 2. Juli 1979 für den bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß. Die Sorge um die Einheit der Union veranlasst ihn zu dieser Stimmabgabe.
Ausklang der politischen Karriere auf europäischer Ebene
In der Schlussphase seiner politischen Laufbahn wendet er sich der Europapolitik zu. Seit 1977 gehört er erneut dem Europäischen Parlament an. Hier befasst er sich vornehmlich mit Fragen der Wirtschafts- und Währungspolitik. Er legt eine umfangreiche Denkschrift über die „europäische Strukturpolitik im weltwirtschaftlichen Rahmen“ vor und begrüßt von Anfang an die von Bundeskanzler Helmut Schmidt und dem französischen Staatspräsidenten Valéry d’Estaing initiierte währungspolitische Zusammenarbeit im Rahmen des Europäischen Währungssystems (EWS). Die Befürwortung des EWS bringt ihm die Kritik der Unionsfraktion in Bonn ein, die zu diesem Zeitpunkt dem EWS noch mit großer Skepsis begegnet, da sie um den Stabilitätskurs der Bundesrepublik und die Wächterrolle der unabhängigen Bundesbank fürchtet.
Berater des bremischen Senats in EG-Angelegenheiten
Als Müller-Hermann 1984 nach 38 Jahren ununterbrochener parlamentarischer Tätigkeit auf verschiedenen Ebenen auf eine erneute Kandidatur für das Europäische Parlament verzichtet, setzt er sich politisch nicht zur Ruhe. Er nimmt das Angebot des Bremer Bürgermeisters Hans Koschnick an, den Senat in EG-Angelegenheiten zu beraten. Diese Beratertätigkeit entspricht seinen „Vorstellungen von überparteilicher Kooperation im bremischen Interesse“. Nach nur einem Jahr beendet Müller-Hermann diese Tätigkeit zum 30. September 1985. Grund hierfür ist der Wechsel im Amt des Bürgermeisters von Hans Koschnick zu Klaus Wedemeier. Die Beziehungen zu Koschnick, zu dem er in seiner Funktion als Berater des Senats jederzeit Zugang hat, sind eng und vertrauensvoll. Ähnliche Kontakte bestehen zu dem neuen Bürgermeister nicht, weshalb Müller-Hermann eine ebenso vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Wedemeier nicht möglich erscheint.
In einem Schreiben an Koschnick vom 9. September 1985 zieht er eine positive Bilanz seiner Beratertätigkeit, die „unserem bremischen Gemeinwesen Nutzen gebracht (habe), ohne die Staatskasse neben der Erstattung der Auslagen finanziell zu belasten“.
Im politischen (Un-)Ruhestand
Auch nach seinem Abschied von der aktiven Politik meldet er sich wiederholt zu Wort. Anfang 1990 nimmt er in der Diskussion über die Grenzen eines wiedervereinigten Deutschlands eindeutig Stellung. Jeder deutsche Politiker, der einigermaßen Sinn für Realitäten habe, wisse, dass eine deutsche Staatengemeinschaft, wie immer sie beschaffen sein möge, sich auf die Bundesrepublik und die DDR beschränken werde und dass eine der ersten Voraussetzungen dafür sei, „dass wir Deutschen uns im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens in Europa im wahrsten Sinne des Wortes der Grenzen unserer Wünsche bewusst sind“. Auch mit der Wiedervereinigungspolitik Helmut Kohls setzt er sich kritisch auseinander. Im September 1992 wirft er dem Bundeskanzler vor, dass es ihm nicht gelungen sei, „eine Vision von den Möglichkeiten und Aufgaben und Verantwortlichkeiten eines vereinigten Deutschlands zustande zu bringen und einen breiten politischen Konsens herbeizuführen“.
Schließlich – und das ist der Schwerpunkt seines öffentlichen Engagements in den letzten Lebensjahren – setzt sich Müller-Hermann für eine bessere Zukunft seiner Heimatstadt Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, ein. Dabei plädiert er für einen behutsamen Weg, der möglichen Ängsten der Russen genauso Rechnung trägt wie dem wirtschaftlichen Potential, das das einst deutsche Ostpreußen auch dank seiner geografischen Lage bietet.
Am 19. Juli 1994 stirbt Ernst Müller-Hermann im Alter von 78 Jahren nach einem Herzanfall während eines Urlaubs im oberbayerischen Wallgau.
In Erinnerung bleiben seine Geradlinigkeit, seine Prinzipientreue und sein Mut, innerhalb der eigenen Partei unbequeme Wahrheiten auszusprechen wie in der Ostpolitik. „Treu, aber nie kritiklos“ – mit diesen Worten hat Ernst Müller-Hermann treffend sein Verhältnis zur CDU beschrieben. Zwei Jahrzehnte gibt er der Verkehrspolitik seiner Partei ein Gesicht. Dabei ist es „sein historisches Verdienst, mit einem eigenen Verkehrsplan und eigenen Gesetzentwürfen marktwirtschaftliche Grundsätze in die Verkehrspolitik eingeführt zu haben“ (Hansheinz Hauser).
Curriculum vitae
- 1932 Abitur
- 1932–1934 Studium der Rechte und der Volkswirtschaft, im Dritten Reich zur Aufgabe des Studiums gezwungen, danach kaufmännische Lehre
- 1940–1945 Kriegsdienst
- 1945 Dolmetscher bei der amerikanischen Militärregierung
- 1946–1952 Mitglied der Bremischen Bürgerschaft
- ab 1950 Vorsitzender der CDU-Fraktion
- 1952–1980 Mitglied des Deutschen Bundestages
- 1958–1965 und 1977–1984 Mitglied des Europäischen Parlamentes
- 1963 Promotion zum Dr. rer. pol.
- 1964–1985 Präsident der Gesellschaft zum Studium strukturpolitischer Fragen
- 1968–1974 Landesvorsitzender der CDU Bremen
- 1971–1973 Mitglied des CDU-Bundesvorstands
- 1971–1984 Präsident des Kraftfahrzeughandels und Sprecher des Kraftfahrzeughandwerks
- 1984–1985 Berater des Bremer Senats in Europaangelegenheiten
Veröffentlichungen
- Wettbewerb und Ordnung. Grundlage der Verkehrspolitik, Darmstadt 1954.
- Die Grundlagen der gemeinsamen Verkehrspolitik in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Eine Untersuchung über die Anwendung des Wettbewerbsprinzips im gemeinsamen Verkehrsmarkt, Bad Godesberg 1963.
- Bonn zwischen den Weltmächten. Perspektiven der deutschen Außenpolitik, Düsseldorf – Wien 1969.
- DB-Sanierung – höchste Eisenbahn. Perspektiven für die Bahn der Zukunft, Stuttgart 1976.
- Politik der Bewährung im Wandel, Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1985.
- Eines Menschen Weg und Zeit – ein Politikerleben von 1946 bis 1984, in: Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Aufzeichnungen und Erfahrungen. Band 6, Boppard am Rhein 1989, S. 233–419.
- Königsberg/Kaliningrad unter europäischen Perspektiven, Bremen 1994 (als Herausgeber).
Literatur
- Wolf J. Bell: Kennen Sie eigentlich den? Band 14: Ernst Müller-Hermann, Bonn 1965.
- Walter Henkels: Neue Bonner Köpfe, Düsseldorf – Wien 1975, S. 250–252.
- Christine Blumenberg-Lampe: Müller-Hermann, Ernst, in: Neue Deutsche Biographie. Band 18, Berlin 1997, S. 499f