Country reports
Wahlkampfauftakt in Großbritannien
Die offizielle Auflösung des britischen Unterhauses markiert zwar traditionell den Beginn des rund 6-wöchigen „heißen“ Wahlkampfes. Allerdings hat dieser auf Grund des 2011 verabschiedeten „fixed term parliament act“ und damit der langfristigen Vorhersehbarkeit des Wahltermins faktisch schon im Januar 2015 begonnen. Die Ausgangslage war und ist so, dass die Conservativs mit David Cameron an der Spitze idealerweise den ungeliebten Koalitionspartner Liberal Democrats loswerden und mit eigener Mehrheit weiter regieren wollen, Labour mit Ed Milliband genau dies verhindern und selbst mit eigener Mehrheit die Regierung stellen will. Für die Liberal Democrats geht es darum, nach dem Wahldesaster bei der EU-Wahl weiter ein relevanter „Königsmacher“ im Parlament zu bleiben. UKIP will seinen Wahlsieg bei der EU-Wahl nun auch in Sitze im Unterhaus ummünzen und die schottische SNP versucht nach dem zwar verlorenen Referendum in Schottland aber enorm steigender Zustimmungsraten nun auch ihre Machtposition im britischen Unterhaus auszubauen und ggf. selbst zum Mehrheitsbeschaffer in einer Koalition aufzusteigen. Andere Parteien wie die Greens oder die walisische Plaid Cymru dürften auch weiterhin auf Grund des britischen Wahlrechts (first past the post) nicht damit rechnen, nennenswerte Zugewinne im Parlament erzielen zu können.
- Auf seiner neuen Seite "Großbritannien wählt" stellt Ihnen das KAS-Auslandsbüro Großbritannien bis zum Wahltag am 7. Mai regelmäßige Updates zur Verfügung, zu denen eigene Berichte und Veröffentlichungen zum Wahlkampf, Umfrageergebnisse und Vorhersagen, Informationen zu den unterschiedlichen Parteien und deren Wahlprogrammen (sobald diese veröffentlicht werden), interessante Zitate, sowie Links zu den TV-Debatten zählen.
Umfragen
Alle relevanten Umfrageinstitute (YouGov, ICM, Lord Ashcroft, ComRes, Ipsos Mori) können bis dato keinen klaren und nachhaltigen Trend für einen Wahlsieger ausmachen. Die Werte schwanken ständig und sehen mal Labour, mal die Conservatives leicht vorne. Beide hängen jedoch in der Bandbreite zwischen 30 und 36% fest. Auch der von UKIP erhoffte Aufschwung zeichnet sich in den Umfragen nicht ab, vielmehr ist da seit der EU-Wahl eher ein stetiger Rückgang festzustellen. Sie liegen in den Umfragen bei 10 bis 15%. LibDems und Greens schwanken jeweils zwischen 6 und 8%.
Diese Werte sagen jedoch nur wenig über das tatsächliche zu erwartende Wahlergebnis im Sinne der Sitzverteilung im zukünftigen Parlament aus. Das britische nicht repräsentative Mehrheitswahlrecht macht komplexe Analysen in allen Wahlkreisen erforderlich, um tatsächlich verlässliche Hochrechnungen über die Sitzverteilung zu bekommen, die auf Grund zahlreicher sehr knapper Wahlkreise (marginal seats) von hoher Ungewissheit geprägt sind. Am besten sind diese Verzerrungen bei den kleineren Parteien sichtbar: Auch wenn Greens und LibDems prozentual nahezu gleichauf liegen, geht man davon aus, dass die LibDems zwar die Hälfte ihrer Sitze (derzeit 56) verlieren könnten (auf 25-30), die Greens aber im besten Fall den einzigen Sitz, den sie derzeit haben, halten könnten. UKIP käme selbst nach optimistischen Schätzungen nicht über 6-8 Sitze und die schottische SNP (die in den nationalen Umfragen in landesweiten Prozenten gemessen gar nicht signifikant auftaucht) könnte in Schottland einen Erdrutschsieg erzielen und von den 59 schottischen Parlamentssitzen zwischen 40 und 50 (derzeit 6) gewinnen. Eines verdeutlichen diese Umfragen aber bisher relativ deutlich: beide großen Parteien sind signifikant von einer absoluten Mehrheit entfernt, das erklärt die weiter unten beschriebenen Diskussionen und Spekulationen um mögliche Bündnisse und Koalitionen.
Und in Großbritannien lohnt sich traditionell auch bei den politischen Prognosen ein Blick auf die Wettbüros: Schon beim Schottland-Referendum im vergangenen September hatten diesen den Ausgang korrekt vorhergesagt. Die Buchmacher sehen derzeit Cameron leicht vorne aber eben auch ohne absolute Mehrheit.
TV-Duelle
Die erste wirklich nennenswerte und auch medial breit kommentierte Auseinandersetzung fand im Rahmen des ersten TV-Duells statt.
Vorangegangene mediale Inszenierungen wie die „Küchenauftritte“ von Ed Miliband und David Cameron können wohl getrost als Wahlkampfeigentore gewertet werden, da an Stelle eines bemühten „down to earth“ Images im Falle Milibands die Erkenntnis übrig blieb, dass er in seinem Wohnhaus zwei Küchen hat (!) und Camerons Aussage, dass er nicht für eine dritte (!) Wahlperiode zur Verfügung stehen würde (und sich Teresa May, George Osborne oder Boris Johnson - in dieser Reihenfolge - als Nachfolger vorstellen könne), für allgemeines Stirnrunzeln sorgte und bei seinem Wahlkampfteam mittleres Entsetzen hervorrief.
In der letzten Parlamentsdebatte „Prime Ministers questions time“ vor der Parlamentsauflösung gelang hingegen Cameron ein Überraschungsangriff. Labour war nach ausweichenden Antworten des Schatzkanzlers Osborne davon ausgegangen, dass die Conservatives nach der Wahl die Mehrwertsteuer (VAT, derzeit bei 20%) anheben würden, um die Haushaltseinnahmen zu erhöhen. Entsprechende Wahlplakate wurden bereits vorgestellt und Ed Miliband drängte Cameron in der „Question Time“ zur Mehrwertsteuererhöhung Position zu beziehen (wohl damit rechnend, dass auch er versuchen würde sich herauszuwinden).
Stattdessen erfolgte der Gegenangriff. Cameron schloss die Erhöhung kategorisch aus und drängte Labour seinerseits sich zur Frage möglicher Erhöhungen der Sozialversicherungsabgaben und Einkommenssteuer zu bekennen, worauf Miliband keine Antwort hatte: Eine politische Fehlkalkulation von Labour, ein Punktgewinn für Cameron.
Hinsichtlich der eigentlichen TV-Duelle einigte man sich schließlich nach wochenlangen Diskussion und gegenseitigen Vorwürfen zwischen Wahlkampfteams, Spitzenkandidaten und TV-Sendern auf ein relativ komplexes und vielschichtiges Konzept. Lange hatte sich David Cameron geweigert ein direktes TV-Duell mit Ed Miliband zu führen. Aus seiner Position wahlkampftaktisch durchaus verständlich, lag und liegt er doch in allen Umfragen hinsichtlich Führungsstärke und persönlicher Autorität weit vor Miliband und hatte von daher wenig Anlass seinem direkten Kontrahenten eine Plattform anzubieten um diesen Abstand ggf. zu verkürzen. Sein Vorschlag war auf eine Debatte mit allen sieben Spitzenkanditen fokussiert (ein denkbar schwerfälliges Format, was aber letztlich auch akzeptiert wurde), um so das direkte Duell zu umgehen. Von Miliband aber auch Farage (UKIP) wurde ihm deshalb erwartungsgemäß „Feigheit“ und „doppelter Standard“ vorgeworfen (er selbst hatte im Wahlkampf 2010 als Herausforderer dem damaligen Labour Prime Minister Gordon Brown noch vorgehalten, dass er einem solchen direkten Duelle nicht ausweichen dürfe, da die Wähler ein Recht auf eine solche Gegenüberstellung hätten).
Letztlich einigte man sich auf insgesamt 4 unterschiedliche Formate:
- 25.3. Auftritt von Cameron und Milliband, jeweils getrennt in einem 20-minütigen Interview mit Jeremy Paxmann und einem ebenso langen Frage-und-Antwort-Spiel mit Studiogästen.
- 2.4. TV Debatte mit allen sieben Parteiführern: David Cameron, Ed Miliband, Nick Clegg (LibDem), Nigel Farage (UKIP), Nicolas Sturgeon (SNP), Leanne Wood (Plaid Cymru) und Natalie Bennet (Greens).
- 16.4. TV Debatte der „Herausforderer“ (Vertreter der Oppositionsparteien SNP, Labour, UKIP, Greens, Plaid Cymru).
- 30.4. Jeweils 30-minütige, getrennte Interviews in der BBC-Question Time mit David Cameron, Ed Miliband und Nick Clegg.
Das erste „Duell“ vom 25.3. hatte einen eindeutigen Sieger: Moderator Jeremy Paxmann, ein Veteran in der britischen TV-Landschaft (25 Jahre lang moderierte er die BBC Newsnight). Er „grillte“ beide Kandidaten mit direkten, unbequemen und persönlichen Fragen und ließ beide wie nachfolgend süffisant kommentiert wurde, wie „zwei Schuljungen erscheinen, die beim Rauchen auf der Schultoilette erwischt wurden“.
Unmittelbare Umfragen sahen zwar Cameron am Ende leicht vorne, Milliband hatte jedoch sein Ziel erreicht: er verkürzte zweifelsohne den „Imageabstand“ zu Cameron durch einen souveränen Part vor den Studiogästen und einem durchaus couragierten wenn auch letztlich nicht wirklich überzeugenden Auftritt Paxmann gegenüber. Er übertraf somit die Erwartungen (bzw. Befürchtungen), wobei hingegen Cameron nervöser als erwartet und weniger souverän war als sich dies seine Anhänger sicher gewünscht hätten. Paxmann aber setzte seine Nadelstiche dort, wo es am meisten schmerzte: Leadership-Qualitäten von Miliband, soziale Abgehobenheit von Cameron. Wer hingegen inhaltliche Positionierungen oder Klärungen erwartet hatte, wurde enttäuscht, da gab es nur allgemeine (und mittlerweile bekannte) Phrasen. „Auf die Wirtschaft kommt es an“ (Cameron) bzw. „Nur wir retten den NHS (das nationale Gesundheitssystem)“ (Miliband).
Die Freude bei Labour über eine YouGov Umfrage am Wochenende nach dem Duell mit einem 4% Vorsprung vor den Conservatives währte hingegen nur kurz. Lord Ashcroft Polls vom 31.3. relativierten dies wieder mit Conservatives bei 36% und Labour bei 34%.
Themen und Positionen
Die politische Auseinandersetzung im Wahlkampf wird auf zwei Ebenen ausgetragen: Persönlichkeit und Inhalte.
Hinsichtlich der Persönlichkeiten ist die Ausganglage klar: Der Amtsinhaber David Cameron hat 5 Jahre „Berufserfahrung“ in der Downing Street nachzuweisen, seinem Herausforderer Ed Miliband trauen dies selbst zahlreiche Labour Anhänger nicht zu. Zudem trauern einige noch dem älteren Bruder David Miliband nach, den viele für den geeigneteren Prime Minister halten. Diese Wahrnehmung zu ändern ist die größte Herausforderung für Labour im Wahl-kampf. Das erste TV-Duell kann da durchaus als kleiner Erfolg gewertet werden.
Thematisch gibt es einige zentrale Themen, die im Wahlkampf eine herausragende Rolle spielen werden.
Für die Conservatives wird die Wirtschaftspolitik das zentrale Tema sein. Sie streben eine Fortsetzung des bisherigen Sparkurses an, um mittelfristig das Haushaltsdefizit ausgleichen. Der Tory-Wahlkampfmanager Lynton Crosby verfolgt die Strategie, den wirtschaftlichen Erfolg der Partei zum Herzstück des Wahlkampfs zu machen. So sind heute 1,85 Mio. Briten mehr beschäftig als noch zu Camerons Amtsantritt, was einer Arbeitslosenquote von 6%, und somit den niedrigsten Stand seit 2008, entspricht.
Finanzminister Osborne nutzte die letzte Vorstellung des Staatshaushalts für die kommende Legislaturperiode, um die positive wirtschaftliche Entwicklung hervorzuheben und für die Fortführung dieser Politik zu werben. Er betonte, dass es aufgrund der guten Wirtschaftslage sogar bereits früher als geplant möglich sein werde, den oft kritisierten Sparkurs der Regierung abzuschwächen. Laut Umfragen unterstützen aktuell 42,3% der Bevölkerung die Wirtschaftspolitik der Regierung.
Im Gegensatz dazu stehen Labour, sowie die Liberal Democrats, die Greens und die Scottish National Party (SNP) für ein Abrücken vom Sparkurs und einen großzügigeren Sozialstaat. Labour fordert Steuererhöhungen vor allem für Großverdiener, höhere Abgaben auf Boni-Zahlungen, schärfere Sanktionen gegenüber Steuersündern und eine Teilverstaatlichung des Schienennetzes. Die SNP fordert bis 2020 sogar Mehrausgaben von 180 Milliarden Pfund um die Wirtschaft anzukurbeln. Die Liberal Democrats wollen zwar, wie ihr aktueller Koalitionspartner die Staatsverschuldung verringern, planen jedoch anstatt der Kürzung von So-zialleistungen, die Bankenindustrie und Großverdiener stärker zu besteuern.
Für die Labour-Partei steht das staatliche Gesundheitssystem NHS im Mittelpunkt. Sie werfen den Conservatives vor, dieses „kaputtsparen“ zu wollen. Laut Labour ist die in den Medien häufig diskutierte Misere des NHS auf die Kürzungen des Gesundheitsetats durch die Regierung zurückzuführen, weshalb die Partei höhere Ausgaben fordert. Die Greens planen sogar eine Wiederverstaatlichung des NHS, um den Problemen beizukommen.
Auch die Liberal Democrats setzen sich für eine Aufstockung des Gesundheitsetats ab 2020 um 8 Milliarden Pfund jährlich ein.
Neben dem Thema Gesundheit ist die Erhöhung des Bildungsetats das Kernthema der Liberal Democrats. Die Greens vertreten einen ähnlichen Standpunkt und fordern sogar die komplette Abschaffung der Studiengebühren. Labour sieht auch eine Veränderung der Bildungspolitik vor, plant jedoch lediglich eine Obergrenze der Gebühren von 6.000 Pfund. Die dafür benötigten 2 Milliarden Pfund sollen durch Kürzungen von Steuererleichterungen für Rentenfonds finanziert werden. Die Tories hingegen wollen den Bildungsetat auf dem jetzigen Niveau einfrieren und planen stattdessen, rund 500 neue „free schools“ zu bauen.
Einig sind sich alle Parteien darin, dass das Problem der hohen Mietpreise dringend gelöst werden muss. Die Lösungsansätze gestalten sich jedoch sehr unterschiedlich: So setzen die Conservatives darauf, neue Wohnungen zu bauen, damit die Mietpreise fallen. Außerdem sollen rund 200.000 junge Briten einen staatlichen Zuschuss von 20% des Kaufpreises ihres ersten Eigenheims erhalten. Labour hingegen will das Mietpreisproblem lösen, indem Maklergebühren abgeschafft, 200.000 Eigenheime neu gebaut und Mieten für drei Jahre eingefroren werden. UKIP sieht die ungebremste Einwanderung als Ursache für die Wohnungsnot, die zu steigenden Mietpreisen führt. Zusätzlich zur Einwanderungsbeschränkung plant die Partei auf brachen Industrieflächen neuen Wohnraum zu schaffen.
Auch in Bezug auf die Ausgaben zur Verteidigung des Landes verfolgen Labour und Tories eine ähnliche Politik, welche eine Fortsetzung der Etatkürzungen vorsieht. Laut Aussagen des ehemaligen britischen Armeechefs seien die Verteidigungsausgaben seit Antritt der aktuellen Regierung bereits um 10% gesunken und Cameron zeige sich nicht bereit, sein damaliges Versprechen einzulösen, den Etat ab 2015 wieder zu erhöhen. Der SNP gehen die Kosteneinsparungen nicht weit genug, sie möchte die Ausgaben noch weiter kürzen und setzt sich vehement für den Abzug der mit Atomraketen ausgerüsteten britischen U-Boot-Flotte „Trident“ aus Schottland ein. Dieses Thema zählt auch zu einer der Hauptforderungen, welche die Partei an einen po tentiellen Koalitionspartner stellen würde.
Ein zentrales Thema wird ferner der Umgang mit der in den letzten Jahren stark gestiegenen Immigration sein. In den Augen der Wähler ist dieses Thema laut Umfragen sogar eines der wichtigsten Wahlkampfthemen. Die Pläne der britischen Regierung sahen zu Beginn der Legislaturperiode noch vor, lediglich 100.000 neue Einwanderer aufzunehmen. Laut Berechnungen wanderten im vergangenen Jahr jedoch netto über 292.000 Menschen nach Großbritannien ein. Hintergrund ist die sich rapide erholende britische Wirtschaft und die damit verbundenen Jobangebote, die eine enorme Sogwirkung entfalten, insbesondere vor dem Hintergrund der schwachen Konjunktur in Südeuropa.
Die meisten Parteien tun sich mehr oder minder schwer mit dem Thema und versuchen den Spagat zwischen dem Stolz auf die Attraktivität Großbritanniens und seiner traditionellen Offenheit einerseits und der steigenden Fremdenfeindlichkeit andererseits zu bewältigen.
Labour plant, anstatt Einwanderungskontingente zu schaffen, gezielt spezifische Einwanderergruppen in das Land zu holen und will sicherstellen, dass es durch die neue Einwanderung nicht zu Lohndumping kommt. Die Conservatives setzen mehrheitlich auf strengere Regelungen bei den Sozi-alleistungen, um so die sog. welfare migration einzudämmen. Lediglich UKIP (und Teile der Conservatives) wollen hier eine klare Quotierung (etwa nach australischem Muster) zur quantitativen Beschränkung einführen. Cameron selbst hat dies in seiner Novemberrede zum Thema Migration mit Blick auf die kaum zu verändernde EU-Freizügigkeit vorerst nicht mehr weiter verfolgt.
Europa doch ein Thema?
Auch wenn in den Präferenzen und Prioritäten der britischen Bevölkerung Europa bzw. die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens keine herausragende Rolle spielt, wird dies im Wahlkampf aus unterschiedlichen Gründen thematisiert:
UKIP hat es verstanden das (aus der Sicht der Bevölkerung) drängende Problem der Immigration kausal mit der EU-Mitgliedschaft zu verbinden und macht von daher mit einem dezidierten EU-Austrittsversprechen Wahlkampf (da nur so die Hoheit über die eigenen Grenzen wiederzuerlangen sei).
Die Conservatives fokussieren die EU-Diskussion auf das von ihnen versprochene Referendum im Jahr 2017 in dem Sinne, dass nur eine Conservative-Regierung Garant dafür sei, dass die britische Bevölkerung sich diesbezüglich äußern dürfe.
Labour hingehen hat das EU Thema insofern für sich „entdeckt“, als über diesen Weg die britische Wirtschaft und der Finanzsektor angesprochen werden sollen. Sie gehen dabei auf Signale aus diesen Kreisen ein, die sich immer deutlicher für einen Verbleib Großbritanniens in der EU äußern bzw. auf die nachhaltigen Probleme verweisen, falls Großbritannien die EU verlässt. Labour argumentiert dahingehend, dass das Referendum der Tories zwei Jahre (bis 2017) Ungewissheit bedeutet, während Labour für einen Verbleib in einem „reformed Europe“ sei (womit sie durchaus die Diktion Camerons aufnehmen, ohne aber auch zu definieren, woraus genau die Reformen bestehen sollen). Diese Linie wurde im zum Wahlkampfbeginn veröffentlichten „Business Manifesto“ vorgestellt, welcher mit einer ganzseitigen Annonce in der Financial Times vom 30.3. begleitet wurde, in der diverse Business-Leader mit pro EU-Aussagen zitiert (u.a Siemens UK Chief Executive Juergen Maier) werden und Labour proklamiert: „The biggest risk to British business is the threat of an EU exit. We will deliver reform, not exit.“
So explizit hatte sich Labour bis dato nicht zur EU-Mitgliedschaft geäußert, implizit ist damit auch klar, dass ein Referendum bei Labour nicht auf der Agenda steht. Allerdings war dieser Schulterschluss mit der Wirtschaft den zitierten Unternehmern nun auch wieder zu viel des Guten. So zeigten sich diese stellenweise verärgert über die parteipolitische Vereinnahmung.
Scotland rules
Auch wenn ein erster Blick auf die landesweiten Umfragen dies nicht nahelegt, werden am 7.5. fast alle Augen nach Schottland gerichtet sein, da sich dort der wohl bedeutendste politische Wandel vollziehen wird. Die Scottish National Party, SNP, hat trotz der Niederlage im Referendum einen enor-men Zulauf an Mitgliedern und Sympathi-santen zu verzeichnen und schickt sich an die politische Landkarte Schottlands erd-rutschartig zu verändern. Allen Umfragen zur Folge, wird die bisher dominante Labour Party in Schottland ein politisches Waterloo erleben. Die SNP hingegen wird zwischen 40 und 50 der 59 schottischen Parlamentssitze für sich gewinnen und damit voraussichtlich zur dritt stärksten britischen Partei auf nationaler Ebene aufrücken. Damit könnte der SNP bei der Regierungsbildung eine Schlüsselrolle zukommen.
Koalition oder Opposition
Bedingt durch die mit hoher Wahrschein-lichkeit eintretende Situation, dass keine der beiden großen Parteien allein eine Mehrheit erzielen kann, stehen beide vor der Herausforderung entweder Kompromisse zu machen und eine (ungeliebte) Koalition oder zumindest ein Duldungsbündnis einzugehen, oder in der Opposition zu landen. Zwar ist eine parlamentarische Mehrheit keine Bedingung zur Regierungsbildung (Minderheitsregierungen sind im britischen System durchaus möglich), allerdings ist dann mit unruhigen und ungewissen politischen Zeiten zu rechnen.
Sowohl Labour wie auch Conservatives versichern zwar öffentlich die Mehrheit anzustreben und keine Koalition zu wollen, die Realität sieht aber wohl anders aus.
Aus der Sicht von Labour erscheint das Szenario eines Prime Ministers Ed Miliband mit einer Duldung und konditionierten Unterstützung durch die SNP als ein denkbares wenn auch riskantes Szenario. Es könnte zu einer parlamentarischen Mehrheit reichen, selbst wenn die Conservatives stärkste Partei werden. Alex Salmond, der ehemalige schottische First Minister und voraussichtliche Fraktionsführer der SNP im Unterhaus hat bereits lautstark angekündigt, dass im neuen Parlament nichts mehr ohne die SNP gehen werde. Eine Drohung in beide Richtungen: er hat angekündigt eine Minderheitsregierung der Tories gemeinsam mit Labour innerhalb kürzester Zeit mit einem Misstrauensvotum zu Fall zu bringen und andererseits Labour klar gemacht, dass die Unterstützung einer Labour Regierung nur mit weiteren (auch finanziellen) Sonderkonditionen für Schottland zu bekommen sei.
Innerhalb der Labour Partei besteht jedoch weiterhin großer Widerstand gegenüber dieser Koalition. 51% der befragten Unterstützer der Partei sehen eine solche Koalition negativ und fordern von Miliband, diese kategorisch auszuschließen. Ihr Hauptkritikpunkt ist, dass eine Zusammenarbeit mit der SNP unverantwortlich sei, da die SNP das Vereinigte Königreich aufspalten wolle.
Da die SNP eine Koalition mit den Conservatives ausgeschlossen hat (die Abneigung beruht im Übrigen auf Gegenseitigkeit), besteht für die Conservatives nur noch die Möglichkeit eine erneute Koalition mit den Liberal Democrats und/oder der nordirischen Democratic Unionist Party einzugehen. Ob dies mathematisch überhaupt zur Mehr-heit reicht, darf derzeit auf Grund der Umfragen bezweifelt werden. Zumindest hat man sich aber diese Tür offen gehalten und bei aller Wahlkampfrhetorik nicht alle vorhandenen Tischtücher zerschnitten. Der in der Regel in Tory-Kreisen gut informierte Spectator spricht sogar in seiner jüngsten Ausgabe von einem „return to the rose garden“ und spekuliert offen über eine Fortsetzung der Koalition – auch gegen heftige parteiinterne Widerstände auf beiden Seiten.
Möglichkeiten einer Großen Koalition nach deutschen Vorbild sind im britischen politischen Denken (noch) unvorstellbar und eine formale Koalition mit UKIP (wie sie Nigel Farange offensiv mit der Forderung eines EU-Referendums noch im Jahr 2015 ins Spiel gebracht hat), sollte auf Grund der absehbar geringen Zahl von UKIP Abgeordneten für die Tories irrelevant sein.
Großbritannien steht beileibe nicht nur vor einer spannenden und in hohem Masse ungewissen Unterhauswahl. Die jetzige Situation macht deutlich, dass im britischen Parlamentarismus nicht nur das Parlamentsgebäude in Westminster dringend einer Renovierung bedarf, wie Oxford Professor Timothy Garton Ash richtigerweise anmerkte. Die Tatsache, dass es aller Voraussicht nach zum ersten Mal in der Geschichte Großbritanniens zu zwei aufeinanderfolgenden Koalitionsregierungen kommen wird, macht deutlich, wie komplex die politische Landschaft des Landes geworden ist und dass es sich dabei keinesfalls nur um eine Momentaufnahme handelt: Das aktuelle Wahlsystem korrespondiert nicht mehr mit der Parteienlandschaft, und die tiefe Spaltung des Vereinigten Königreichs wird durch den Auftrieb der nationalistischen Bewegung in Schottland und UKIPs Erfolg, englische Identitätspolitik zu betreiben, verstärkt.
Außenpolitisch muss sich Großbritannien ebenfalls neu orientieren. Immer deutlicher wird angemerkt, dass das Vereinigte Königreich sich selbst ins Abseits zu manövrieren droht. Das Kokettieren und Drohen mit dem EU-Austritt aber auch die Nebenrolle, die Großbritannien in der politischen Auseinandersetzung mit Russland und der Ukraine spielt sowie die nachlassenden Bindungskräfte zu den USA, sind deutliche Zeichen für diese schwindende Bedeutung. Ein Großbritannien im Herzen Europas, wie zuletzt wieder von John Major gefordert, wäre jedoch sowohl für Europa wie auch für Großbritannien essentiell.
In einem Artikel in der Financial Times erklärte Professor Vernon Bogdanor vom King’s College, dass diese Entwicklung zu „einer wachsenden Differenz zwischen den konstitutionellen und politischen Strukturen früherer Zeiten und der sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit der heutigen Zeit“ führe. Wolle man ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs verhindern, müsse man eine neue konstitutionelle Lösung finden, welche die Macht zwischen den vier Nationen des Landes besser verteile. Zu Bogdanors Studenten in Oxford zählte einst auch der junge David Cameron. Sollte er nach den Wahlen im Mai seine zweite Amtszeit antreten, wird auf ihn die schwierige Aufgabe zukommen, die großen nationalen Herausforderungen zu meistern und eine neue Rolle Großbritanniens in Europa und dem Rest der Welt zu finden