Country reports
Die britische Regierung hatte sich den Verlauf dieser Entscheidung wahrlich anders vorgestellt und war sich wohl auch ihrer Sache (zu) sicher. Umso empfindlicher sind die erlittene Abstimmungsniederlage und die sich daraus ergebenden Konsequenzen.
Vorgeschichte
Noch vor Ende der offiziellen Parlamentsferien hatte David Cameron das Parlament zu einer Sondersitzung einberufen, um sich dort eine sicher geglaubte Zustimmung für einen Militäreinsatz in Syrien geben zu lassen. Nach einigen turbulenten Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Fraktion in diesem Frühjahr zu europapolitischen Fragen, der gleichgeschlechtlichen Ehe und der Beziehung zu UKIP war in den Sommermonaten Ruhe eingekehrt und Cameron hatte seine Partei offenbar wieder auf Kurs für die Wahlen 2015 gebracht. Die positiven Wirtschaftsdaten hatten zudem für einigen Optimismus hinsichtlich der Wahlaussichten gesorgt.
Er selbst hatte seinen Urlaub abgebrochen, mit Barack Obama und Regierungschefs in Europa telefoniert sowie einen Resolutionsentwurf beim UN-Sicherheitsrat eingebracht. Die zentrale Argumentationslinie war auf den Punkt fokussiert, dass ein massiver Giftgaseinsatz wie in Syrien nicht ungesühnt bleiben dürfe. Noch am Dienstag weihte er Oppositionsführer Ed Milliband in sein Vorhaben ein und habe von ihm, so die Meldungen aus der Regierungszentrale, signalisiert bekommen, dass Labour dem Vorhaben zustimmen werde, wenn der Einsatz „verhältnismäßig“ sei und im „Rahmen des Rechts“ stattfinde. Man ging zu diesem Zeitpunkt auch noch davon aus, dass die UN-Ermittler in Syrien schnell erste Ergebnisse vorlegen würden und dass somit die „Beweislage“ gesichert sei. Doch bereits am Mittwoch (28.8.) begann die Zuversicht über einen Erfolg dieser Strategie in der Downing Street zu schwinden. Eine YouGov Umfrage vom 27.8. offenbarte ein eindeutiges Stimmungsbild in der britischen Bevölkerung: selbst bei einem gezielten Raketeneinsatz in Syrien (also ohne den Einsatz britischer Bodentruppen) sprachen sich 50% der Befragten dagegen aus, nur 25% dafür. Aus der Sicht der Regierungsparteien besonders bedenklich: Selbst bei Tory-Wählern war die Ablehnung mit 45:33 eindeutig, ähnlich bei LibDem Wählern mit 47:27. Als dann im Verlauf dieses Tages auch noch Kirchenmänner wie der Erzbischof von Canterbury Justin Welby oder führende Militärexperten vor den Folgen eines solchen Einsatz warnten bzw. die Effektivität in Frage stellten, hätten auch in No. 10 die Alarmglocken schrillen müssen. Gerade auch in Militärkreisen war die Stimmung angespannt, da man durch die Austeritätspolitik der Regierung in den letzten Jahren empfindliche Etatkürzungen erlitten hatte. „The Primeminister want’s to use the military, but he does not want to pay for it“ fasste ein führender Armeeoffiizier die Stimmung lt. FT vom 31.8. zusammen.
Vor diesem Hintergrund rückte dann auch Labour von seiner anfangs signalisierten Zustimmung ab und ging auf harten Oppositionskurs mit der Forderung erst den Bericht der UN-Mission in Syrien abzuwarten. Um sich weiterhin eine umfassende Mehrheit zu sichern, milderte die Regierung ihren ursprünglichen Parlamentsantrag deutlich ab. Weiterhin hieß es zunächst, „dass eine starke humanitäre Antwort der Internationalen Staatengemeinschaft erforderlich ist, die, wenn nötig, auch militärische Aktionen erfordert, die wiederum legal, verhältnismäßig und auf das Verhindern von Giftgaseinsätzen sowie das Retten von Menschenleben konzentriert sein sollen“. Hinzugefügt wurde aber der entscheidende Satz, dass „vor jeglicher direkter Beteiligung Großbritanniens an derartigen Aktionen eine weitere Abstimmung im Unterhais stattfinden wird“.
Selbst als Cameron in letzter Minute noch Auszüge aus Geheimdienstberichten veröffentlichen ließ, in denen es wörtlich hieß, dass es „sehr wahrscheinlich sei, dass die syrische Regierung für den Giftgaseinsatz verantwortlich sei“ war kein Einlenken der Opposition mehr erkennbar, im Gegenteil, auch die kritischen Stimmen aus der eigenen Fraktion ließen nichts Gutes erahnen.
Die Parlamentsdebatte
In der gut 7-stündigen Debatte im britischen Unterhaus am Donnerstag (29.8.) legte zunächst David Cameron seine Argumentation mit emotionalem Engagement dar. Er stellte klar, dass es keine eindeutigen Beweise gäbe, dass die syrische Regierung für die Giftgaseinsätze verantwortlich sei, dass man aber auf der Grundlage der Bilder, Informationen vor Ort und der Geheimdienstinformationen ein Urteil fällen müsse. Das Wort „judgement“ kam mehrfach in seiner Rede vor. Großbritannien habe sich immer dem dezidierten Einsatz gegen Giftgas verschrieben und könne sich deshalb auch diesmal aus humanitären Gründen der Verantwortung nicht entziehen. Auch wenn nicht gewährleistet werden könne, dass nach einem solchen gezielten Militärschlag das Problem gelöst sei, wäre es im Umkehrschluss klar, dass sich das Assad-Regime ohne eine Intervention bestätigt fühlen werde und weiter zu diesen Mitteln greifen werde. Er betonte mehrfach, auch auf Nachfrage, dass keine Bodentruppeneinsätze geplant seien und dass ein Sturz des Regimes nicht das Ziel der Intervention sei. Sein Antrag beschränke sich auf diese gezielten und punktuellen Einsätze.
In seiner Entgegnung fokussierte sich der Labour Oppositionsführer Ed Milliband auf die unklare Beweislage: „Evidence should precede decicion, not decicion evidence“ und spielte damit, wie zahlreiche weitere Wortmeldungen auf den Irak Einsatz von vor zehn Jahren an, bei dem seinerzeit Tony Blair mit Hinweis auf Massenvernichtungswaffen um Zustimmung zum Militäreinsatz geworben hatte. Es war spürbar wie sehr die Irak-Erfahrung auf der gesamten Diskussion lastete, ohne immer spezifisch genannt zu werden. Die Sorge erneut auf der Basis vermeintlich klarer Geheimdienstinformationen eine weitreichende politische und militärische Entscheidung zu treffen, schreckte offensichtlich mehr als einen Abgeordneten ab und ließ die Unterstützung für den Regierungsantrag letztlich kippen. Ohne das Endergebnis der UN-Inspektoren (welches nun wohl erst nächste Woche vorliegen wird) und eine Diskussion im UN-Sicherheitsrat ist, so der klare Eindruck, keine politische Mehrheit im britischen Unterhaus für einen Syrieneinsatz (unabhängig von dessen Ausmaß und Dauer) zu bekommen.
Das zeigte letztlich auch das Abstimmungsergebnis: Mit 272:285 fehlten dem Antrag letztlich 13 Stimmen, 30 Tories und 9 LibDem Abgeordnete aus dem Regierungslager stimmten dagegen und verweigerten dem Premierminister ihre Gefolgschaft.
Bei einer Koalitionsmehrheit von 84 Stimmen und einer allein bei den Tories mit 304 Abgeordneten starken Fraktion war dies ein überaus deutliches Ergebnis, welches weit über einen klassischen Dissens Regierung-Opposition hinausging. Neben den o.a. Nein-Stimmen enthielten sich noch 31 Tory MP der Stimmen und rund 10 MP, u.a. Kabinettsmitglieder blieben der Abstimmung fern.
Reaktionen
Stellvertretend für die Skepsis der Abgeordneten kann wohl die Meinung vom Abgeordneten David Davis gelten, der bezüglich der Glaubwürdigkeit der Geheimdienstinformationen meinte: „We must consider, beeing where we have been before in this House, that our intelligence as it stands might just be wrong because it was before and we have got to be very. very hard in testing it“.
Camerons Reaktion nach der Abstimmung war klar und eindeutig: “I strongly believe in the need of a tough response to the use of chemical weapons but I also believe in respecting the will of this House of Commons. It is clear to me that the British parliament, reflecting the views of the British people , does not want British military action. I got that and the Government will act accordingly”. Mit anderen Worten: „Ich habe verstanden: Kein Militäreinsatz in Syrien“.
Damit verweigert zum ersten Mal seit 1782 das britische Unterhaus einer Regierung die Zustimmung zu einem Kriegseinsatz.
In der britischen Presse war die Kommentierung am Tag nach der Abstimmung relativ eindeutig: Von einem „schweren Schlag“ für Cameron schrieb beispielsweise der Sun und der Daily Mail bezeichnete das Ergebnis als „die schwerste Krise seiner Laufbahn“. Der Daily Telegraph betonte, dass „Cameron nicht gesehen habe, dass die Parallelen zu Irak zu offensichtlich gewesen seien. Er habe viel Vertrauen verloren. Aber Miliband sei deswegen nicht besser gewesen“. Guardian und Independent sahen das Parlament gestärkt und neu formiert als Kraft gegen eine mächtige Exekutive. Die BBC kommentierte die Ereignisse „ als einen schweren Schlag für Camerons Autorität im Lande und international“.
Bewertung
Sicher ist David Cameron durch das Ergebnis parteiintern, national und auch international angeschlagen, ob er allerdings als Parteiführer und Premierminister tatsächlich so nachhaltig geschwächt ist, dass nun (schon wieder) eine Nachfolgediskussion einsetzt ist noch offen. Auch wenn die Financial Times am 30.8. diese Abstimmung als „Camerons spektakulärste Niederlage seiner politischen Laufbahn“ bezeichnete sollte nicht zu schnell ge- und verurteilt werden. Zu unsicher die aktuelle Situation und die weitere Entwicklung in Syrien sowie die offene Frage wie weitreichend die USA in den Konflikt eingreifen werden.
Dass Cameron und seine engsten Mitarbeiter die Stimmung an der Parteibasis und insbesondere die Sorgen und Zweifel der Tory Abgeordneten in den Wahlkreisen unterschätzt haben ist offensichtlich und von daher wird nun die Frage nach der Autorität des Premierministers, der parteiinternen Loyalität und Kohäsion sowie der politischen Managementfähigkeiten hinsichtlich der Zusammenarbeit zwischen Regierung und Fraktion intensiv diskutiert. Die Times bewertete die Ereignisse als Demütigung (humiliation) des Premierministers, demgegenüber beeilten sich einige der „abtrünnigen“ Abgeordneten die Loyalität zum Premierminister nicht in Frage zu stellen. Spätestens der Tory-Parteitag Ende September in Manchester wird zeigen, wie es um die Beziehung Premierminister-Fraktion tatsächlich bestellt ist und ob Cameron nicht nur als Premierminister sondern vor allem als Parteiführer die zentrale Führungsfigur der Konservativen zumindest bis 2015 bleibt.
Neben diesen parteiinternen Aspekten spielt aber auch die Frage eine wichtige Rolle inwieweit die Glaubwürdigkeit bzw. internationale Reputation des Landes beschädigt wurde. Das Irak-Trauma wirkt - wie schon erwähnt - in erheblichem Ausmaß nach. So beklagte die Times, dass das Unterhaus mit seiner Entscheidung „das syrische Volk verlassen“ habe, während der Guardian betonte, dass es „mehr Mut bedarf einzugestehen, dass wir nichts gegen das menschliche Elend tun können.“ Hinsichtlich der internationalen Stellung Großbritanniens urteilt die Financial Times am 30.8. für das bisher geltende britische Selbstverständnis relativ vernichtend: „Das Spiel ist vorbei. Britannien hat das Ende eines langen Bogens der Desillusionierung erreicht. Ein halbes Jahrhundert lang und länger hat es sich an die Wahrnehmung geklammert, dass es Teil der führenden Wächter einer globalen Ordnung ist. Nicht mehr.” In seinem Kommentar vom 31.8. titulierte Gideon Rachman ebenfalls in der FT: „A nation cut down to size“. Crispin Blunt, ehemaliger Army-Offizier und ein Tory-MP, der gegen den Antrag stimmte betonte, dass er „erfreut sei, dass wir uns von dieser imperialen Anmaßung befreit haben“.
Diese Reaktionen und Kommentare mögen im Moment noch aus dem für alle überraschenden Ergebnis gespeist sein, sie beschreiben jedoch womöglich eine signifikante Zäsur im Weltwild und internationalen Rollenverständnis Großbritanniens.
Sollte nun auch noch ausgerechnet der historische Rivale Frankreich als einzige Nation den USA bei einem Militäreinsatz zur Seite stehen, wäre das aus der Sicht derjenigen, die Großbritannien immer noch in der Rolle des „Weltordnungshüters“ sehen, ein besonders empfindlicher Schlag.
Im Hinblick auf das Verhältnis zu den USA leidet die bisher von beiden Seiten immer wieder betonte „besondere Beziehung“ durch diese Verweigerung ohne Zweifel. Viele Beobachter gehen sogar davon aus, dass diese ohnehin schwächer geworden war und mit der jüngsten Parlamentsentscheidung sogar beendet sei. Die trockene Reaktion aus Washington legt diese Vermutung zumindest nahe, trotz aller gegenteiliger Beteuerungen Camerons am Tag nach der Abstimmung.
Die Ansprache des amerikanischen Außenministers John Kerry am 30.8., bei der er Frankreich als den ältesten Verbündeten der USA lobte und Großbritannien mit keinem Satz erwähnte, versetzte dieser dämmernden Erkenntnis jedenfalls einen zusätzlichen Hieb.
Daraus allerdings den Schluss zu ziehen, dass sich Großbritannien, befreit aus einer „blinden Gefolgschaft“ zu den USA, nun stärker Europa zuwendet, hieße die hiesige Europa-skeptische Stimmung völlig zu verkennen.
Mit allzu weitreichenden Interpretation sollte man sich zudem auf Grund der unklaren Sachlage und des völlig offenen Ausgangs der Syrienkrise zurückhalten. Auch Prognosen, ob und wie sich diese Episode auf die Wahlaussichten und die politische Zukunft Camerons bis 2015 auswirken könnte, stellen zurzeit reine – wenn auch heftige – Spekulationen dar.