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Es ging um 75 Jahre Grundgesetz und wurde eine Meditation über Deutschland. Norbert Lammert, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und Präsident des Deutschen Bundestages a.D., erinnerte zunächst an die Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes: Es ist die erste Verfassung der Deutschen, die Nationalstaatlichkeit und Demokratie in eine politisch nachhaltige und belastbare Form zusammengebracht hat. Bundesrepublik und Grundgesetz währen nun länger als alle drei vereinigten Deutschlands seit 1871, aber! Das „Aber“ folgte unweigerlich danach: Denn, so Lammert, alle politischen Systeme sind sterblich, nicht nur die schlechten, die falschen. Auch gut angelegte Demokratien können zugrunde gehen, auf ihre Weise, nämlich durch Wahlen. In der Wahlkabine, nicht auf den Barrikaden, entscheide sich das Schicksal der Demokratie, und durch die Fähigkeit der Politiker, Lösungen für bestehende Problemlagen zu finden.
Was folgte, war eine Novität: Keine Abfolge von Ansprachen, sondern eine Collage aus Texten, Musik und Klängen. Die Texte kamen aus Reden und Romanen von Navid Kermani, gelesen von ihm selbst und von Eva Mattes. Die Musik von Schubert, Beethoven und Schönberg wurde von der Pianistin Pi-hsien Chen vorgetragen, ihr Ehemann Manos Tsangaris überraschte das harmonieverwöhnte Publikum mit neuartigen, anspruchsvollen Perkussionsklängen. Musik und Klänge unterstrichen dabei die Art und Weise, wie Navid Kermani Deutschland empfindet.
Machen wir uns nichts vor, das Reden über Deutschland ist keine hohe Kunst in diesem Land. Entweder wird es feindselig oder verschämt verweigert oder in einer unerträglichen Weise übersteigert. Kermani – in Siegen geboren, von iranischer Abstimmung - ist von diesen Verstiegenheiten und Verklemmungen unbelastet. Er kann eine Liebeserklärung an Deutschland abgeben, und sie kommt weder peinlich noch übertrieben daher. Er verwies darauf, dass Deutschland schon weit vor der politischen Einigung als Kulturnation bestanden habe. Sprache, Musik und Bild bildeten den Existenzgrund der späteren Nation, die aus der Vielfalt der Länder und Territorien entstanden ist. Musik, Sprache und Vielfalt – das ist für ihn Deutschland, und einen Nachklang hat das noch in der von ihm empfundenen Schönheit der Sprache des ursprünglichen Grundgesetztextes, die inzwischen unter einer Sedimentschicht von Nachbesserungen verschüttet ist.
Und Kermani holte weit aus. Er erinnerte an Marcel Reich-Ranicki und seine Schilderungen aus dem Warschauer Ghetto, in dem deutsche Musik und deutsche Gedichte die einzige Zuflucht für die von deutschen Schergen verfolgten Juden gewesen sind. Er lenkte den Blick zurück auf Willy Brandts Demutsgeste am Warschauer Ghettomahnmal und äußerte seine Wertschätzung der „zurückgenommenen“ Nation, die Deutschland immer noch darstelle. Zuletzt habe sich dies in der Zuwanderung der letzten Jahrzehnte gezeigt. Kermani ist stolz auf dieses Deutschland, das mit seinem eigenen Bild hadert, das lieber – so formulierte er angesichts der gegenwärtigen aufgeheizten Debatte provokativ – den Migranten „eine Spur zu arglos begegne“ und sie nicht von vorneherein abweise.
Wie überhaupt im Verlauf des Nachmittags die Migrationsfrage in den Mittelpunkt rückte. Dieses Deutschland, das auf Vielfalt und reflektierten Nationalstolz aufgebaut ist, hat sich im Holocaust mit der Vernichtung und Vertreibung der Juden seiner kulturellen Vielfalt und Intellektualität beraubt, beginnt aber nun, die Arme gegenüber der Welt zu öffnen und lädt neue Intellektualität und kulturelle Dynamik ins Land ein. Kermani ist von der Hoffnung geleitet, dass eines Tages der kulturelle Kahlschlag des Holocausts von Migranten ausgeglichen werden könnte, so wie es auf dem Podium mit Migrationsgeschichten aus Iran, Taiwan, Griechenland und Ungarn schon zu sehen war.
Kermani schloss den Nachmittag mit einem emphatischen „Danke, Deutschland!“ Danach konnte nur noch das Kaiserquartett von Haydn, die musikalische Grundlage der deutschen Nationalhymne, gemeinsam vom Saal gesungen, folgen.
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