Event reports
Karl-Heinz van Lier
Die Europäische Union
Goethe mahnte, „die Gegenwart mit Glück zu nutzen“, unnützes Erinnern und vergeblichen Streit zu vermeiden. Bei Adenauer klang das mit Blick auf Europa so: „Handeln, Anfangen – das ist die Hauptsache“. Aber auch: „Man muss tatsächlich in der Politik manchmal Visionen haben.“ Heutigen Zeitgenossen scheint es fast rührend, in Bezug auf Europa vom „Glück“ eines historischen Moments zu sprechen oder für visionäre Politik zu plädieren. Dabei wäre das etwas, was man von den Gründervätern des geeinten Europa lernen könnte: nicht so sehr ihre inhaltlichen Rezepte, als ihren Denkhabitus mit seiner
eigentümlichen Mischung aus Traditionsbewusstsein und revolutionärer politischer Furchtlosigkeit.
Diese spezielle Mischung scheint der heutigen EU völlig abhanden gekommen zu sein. Sie besitzt eine sehr dünne, eher deklamatorische als gefühlte „shared memory“ ihrer Völker; ihr politisches Führungspersonal kommuniziert nicht mit den europäischen Bürgern (gibt es diese?), sondern unterwirft sich den Seismographen der nationalen Demoskopien. Welche könnte demgegenüber die Lektion der Gründungspersönlichkeiten wie Konrad Adenauer oder Alcide De Gasperi sein? Anders gefragt: Was fehlt uns heute, wenn wir das gegenwärtige Europa mit den europäischen Anfangsjahren vergleichen? Ist es die Fähigkeit zur Kommunikation mit der „breiten Masse“, ohne populistisch zu sein? Ist es der Sinn für die Grenzen des politisch Machbaren und für die Grenzen des Menschen, wie ihn das Christentum lehrt? Darüber wollen wir diskutieren! Vielleicht kann das Vorbild der Gründer weiterhelfen in der
Debatte, um die die Europäer wohl nicht herumkommen: Eine gemeinsame Antwort auf die beiden Kernfragen zu finden „Aus welchen vernünftigen Gründen wollen wir Europa als eine wirtschaftliche, politische und kulturelle Gemeinschaft?“ und „Welches Europa wollen wir?“
Prof. Dr. Michael Stürmer
Was ist vom Traum Europas geblieben?
Prof. Dr. Michael Stürmer über die Sicherheit Europas in einer Zeit der Krisen und die Bedeutung und Rolle der NATO für die Europäische Union.
Die Sicherheit Europas ist heute so instabil und gefährdet wie schon lange nicht mehr. Nun besinnt die Europäische Union sich darauf, dass mehr Geld in die Verteidigung fließen müsse. Der Schlüssel zur Sicherheit Europas ist aber in erster Linie die NATO. Die NATO ist das Dach, das Europa einen Rahmen in Sachen Sicherheit gibt. Die Gründung einer Europaarmee hingegen gehört in den Sandkasten Putins.
Die NATO wird aber vom Weißen Haus in Frage gestellt, während die Einigkeit innerhalb des Bundes zerfällt, der BREXIT klingt ebenfalls nach Zerfall. Ganz klar wird er Europa in schwierige Zeiten bringen und wir werden überdenken müssen, was die Determinanten der Europäischen Union sind.
Die Sozialdemokratie pflegte in der Ära Adenauer den stillen Vorwurf, die Deutschen hätten die erste Republik im Stich gelassen und predigten das kollektive Schuldgefühl. Sie wollten ein verbessertes Weimar, trafen damit aber nicht die Wünsche der Mehrheit, die die schmerzhafte Vergangenheit hinter sich lassen wollten und eine Demokratie nach Beispiel der Nachbarn ersehnte. Ewiges Vergeben und Vergessen ist das Leitmotiv – nicht das Vergessen der eigenen Schandtaten, wohl aber die der anderen.
Wie auch heute, war vieles in den 50er und 60er Jahren nicht so einfach, wie es den Anschein hat, sondern ist tiefer verwurzelt. So diente die Besetzung des Westens nicht nur der Machtdemonstration der Roten Armee gegenüber, wie es offiziell hieß, sondern auch dem Zweck, die Deutschen unter Kontrolle zu halten.
Die Europäische Union – nicht die NATO - ist der Rahmen für den Alltag. Schade, dass wir Adenauer nicht fragen können, was er von ihr hält. Wahrscheinlich hätte er die Augen abgewandt und den Segen entzogen, aber was wäre die Alternative? To damn who do it and to damn who don’t? Er würde vielleicht sagen, wir seien zu eifrig. Adenauer hatte sich ein Europa vorgestellt, dass leichter zu handhaben wäre.
Hans-Jürgen Maurus
Muss und kann Europa mehr Verantwortung in der Welt übernehmen?
Hans-Jürgen Maurus erstellt eine ökonomische Bestandsaufnahme der Europäischen Union.
Die Recherchen für diesen Vortrag erforderte, so Maurus, weniger die Suche nach Zahlen und Daten, als eine Selektion, denn die Europäische Union lässt sich in fast jeder Dimension mit Zahlen bemessen und so ist die Datenlage zu diesem hochbürokratischem Konstrukt schier unendlich.
1946 sagte Adenauer „Ich bin Deutscher und bleibe Deutscher, aber ich war auch immer Europäer und habe als solcher gefühlt“ – und so fühle ich auch. Lassen Sie uns Bilanz ziehen – was hat Europa von den Anfängen in den 50er Jahren bis heute wirtschaftlich geleistet?
Von den Römischen Verträgen über Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und EURATOM, über Maastricht zum Europäischen Binnenmarkt und dem Euro. Die Europäische Union hat im Vergleich zu anderen Global Players die niedrigsten Militärausgaben, kaum zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, da liegen USA, Russland, Saudi-Arabien und Oman weit vorne.
Der BREXIT bringt die Notwendigkeit von etwa 20.000 verschiedenen neu zu verhandelnden Verträgen und Leitlinien, um den Wegfall der Mitgliedschaft in der EU aufzufangen, hinzu kommt die Verhandlung um Zölle.
Der Euro ist trotz aller Fehlkonstruktionen eine sichere und stabile Währung mit vielen Vorteilen, auch Nachteile – wie wir in der Griechenland-Krise erfahren durften. Die Schuldenberge gefährden nun nicht nur einzelne Länder, sondern den gesamten Euro-Raum. Die Krise in Griechenland hat Tabubrüche erzwungen: massive Geldspritzen, Quersubventionierung und Vergemeinschaftlichung von Schulden zeigen die Grenzen der EU auf. Die horrenden Rettungspakete für Griechenland waren niedriger, als die Summen mit denen Deutschland im Falle des GREXITs haften würde.
Problematisch vor allen Dingen ist, dass Europa keine gemeinsame Finanzpolitik, Sicherheitspolitik und keine gemeinsame Einwanderungspolitik hat. Vor diesem Hintergrund stellt die Flüchtlingskrise tatsächlich eine Zerreisprobe für die Europäische Union dar.
Durch die Globalisierung rückt die Welt zusammen. Die Probleme der Welt können wir nicht lösen, aber Menschen in verzweifelter Lage ist sowohl die Pflicht eines Christenmenschen als auch politisch Sinnvoll: wo wir nicht genug geholfen haben, haben sich Krisen entwickelt, die zur Flüchtlingskrise geführt haben. Aber Willkommenskultur löst die Probleme im Herkunftsland nicht.
Quo Vadis, Europa? Erdogans Verfassungsänderung hat uns alle etwas aufgerüttelt. Plötzlich fragen wir uns, was mit der Integration ist, und ob und inwiefern sie überhaupt möglich ist.
Die EU ist wirtschaftlich ein Riese, militärisch eher zweitklassig, obwohl ihr zwei Atommächte (demnächst minus eins) angehören. Insgesamt werden Ziele ausgesprochen, aber wenn es zur Umsetzung kommt, flacht es ab. Deutschland schickt ein halbes Dutzende Flugzeuge, um die IS zu bekämpfen, aber die anderen machen die Drecksarbeit. Adenauer hat eins gesagt „Man muss das große Ganze sehen, damit wir mit der Unterzeichnung der Verträge an unser Ziel kommen“. Dieses Ziel ist die Einigung Europas.
Ingo Espenschied
Konrad Adenauer – Staatsmann und Demokrat
DOKULive
Ingo Espenschied
Deutschland Anfang der 1950er Jahre: Noch immer geben 42% aller Deutschen im Westen an, dass es ihnen unter Hitler bis 1939 am besten ging. Nur 7% sehen dies so für die Zeit der Weimarer Republik. Mit viel Geschick gelingt es Bundeskanzler Konrad Adenauer dennoch, die Demokratie in der jungen Bundesrepublik zu verankern.
Konrad Adenauer fehlt bei der Feier, als die letzten Kriegsgefangenen aus Russland zurückkehren. Dabei ist dies sein ganz persönlicher Erfolg. Die Ermöglichung der Rückkehr der letzten Kriegsgefangenen wird als eine seiner Sternstunden in die Geschichte eingehen, ebenso wie die Aussöhnung mit Frankreich und die Begründung der Deutsch-Französischen Freundschaft nach langen Jahren der Konflikte. Dabei ist die Idee der Erbfeindschaft erst in der Kaiserzeit aufgetreten.
In diese Zeit wird Konrad Adenauer hineingeboren, in geordnete, kleinbürgerliche Verhältnisse. Er macht Abitur, studiert Jura, heiratet in das Kölner Klüngel hinein und steigt politisch auf: er wird Oberbürgermeister – das sind die wahren Fürsten des Kaiserreichs. Er bringt Köln Fortschritt und Blüte. Dann verliert Deutschland den Ersten Weltkrieg. Trotzdem geht seine Karriere steil weiter – nunmehr in der Weimarer Republik.
1933 wird Adenauer aus dem Amt entlassen und von den Nationalsozialisten kaltgestellt. Er ist in den Privaten Bereich zurückgedrängt, baut sein Haus in Rhöndorf, versteckt sich zeitweise im Kloster Maria Laach. Seine Karriere scheint abgehakt, doch schon 1945 wird Adenauer in den Vorstand der Partei gewählt, die sich später CDU nennt. Nur nach kurzer Zeit zum Präsidenten des Parlamentarischen Rates gewählt. Man nimmt an, er würde repräsentieren, doch er knüpft Netzwerke und gewinnt dadurch an Einfluss und Macht. Die erste Bundestagswahlen 1949 gewinnt die CDU mit einem knappen Vorsprung, und Adenauer wird – nach einiger Überzeugungsarbeit – zum ersten Bundeskanzler ernannt.
Anfang der 60er Jahre holt ihn der Vorwurf ein, er habe die Deutsche Einheit nicht eifrig genug vorangetrieben zu haben, sie vielleicht gar nicht gewollt. Zu spät kam der Meister der letzten Handlungsmöglichkeiten nach Berlin an die Mauer. Er wird noch einmal Bundeskanzler, unter der Bedingung, nach zwei Jahren an Ludwig Erhardt abzugeben. Damit hängt die Deutsch-Französische Aussöhnung – ein Projekt das ohne die persönliche Freundschaft De Gaulles und Adenauers nicht möglich gewesen wäre – am seidenen Faden, denn De Gaulle und Erhardt sind sich unsympathisch, aber Adenauer gelingt es mit einigen geschickten Schachzügen, Tatsachen zu schaffen und den Elysée- Vertrag unter Dach und Fach zu bringen, bevor er das Ruder an Erhardt abgibt.
Der Elysée Vertrag zur Deutsch-Französischen Freundschaft wird am 23. Januar 1963 geschlossen, vorangetrieben von Adenauer, um Erhardt an das Projekt Europa zu binden, improvisiert von den Diplomaten Adenauers auf französischem Vertragspapier, in einer Ledermappe, die keine offizielle Vertragsmappe ist, mit Geschenkband in schwarz-rot-gold statt der üblichen Vertragskordel. Im Oktober 1963 tritt Adenauer zurück und stirbt am 19. April 1967.
Prof. Dr. Paul Kirchhof
60 Jahre Römische Verträge – Europäische Union, Macht ohne Maß und Kontrolle?
Prof. Dr. Paul Kirchhof über Adenauers Vision von Europa und Europa heute, Freiheit, das Asylrecht und Fragen der Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft.
„Wenn Ihr demnächst mit dem Fahrrad von Kehl nach Straßburg fahrt, wird Euch kein Grenzbeamter mehr in den Rucksack schauen“, erklärte seinerzeit Konrad Adenauer. Politik lebt und lebte schon immer von großen Perspektiven, aber dass das eines Tages tatsächlich Realität sein sollte, war damals völlig undenkbar. Für Adenauer bedeutet Europa drei Dinge: erstens nie wieder Krieg, zweitens Herrschaft des Rechts, drittens offene Grenzen.
Angesichts der Krisen den wir heute ausgesetzt sind, müssen wir uns klarwerden, dass wir mit unseren Erwartungen den Staat überfordern. Der Staat gewährleistet den Rahmen, glaubt, dass der Mensch nach bestem Wissen und Gewissen handelt. Je mehr aber das Freiheitsvertrauen verloren geht, desto mehr sehen wir uns konfrontiert mit normativen Regelungen.
1.Der Staat gewährleistet keine Freiheit, er gewährleistet Freiheitsrechte, und Rechte sind klar definiert: meine Freiheit hört auf, wo die Freiheit des anderen beginnt. Freiheit ist das Recht, sich vom anderen zu unterscheiden. Wenn das nicht gewährleistet ist, stimmt mit der Freiheit etwas nicht.
2.Auch die soziale Marktwirtschaft ist eine gewisse Beschränkung der Freiheit des Marktes. Das Steuersystem gewährleistet aber die Freiheitsrechte für alle.
Wir werden sehr intensiv sprechen müssen über das Verhältnis von Arm und Reich. Wir sind eines der reichsten Länder dieser Erde. Wenn wir aber fragen nach dem Kinderreichtum, sind wir eines der ärmsten Länder der Erde. Bitterarm, ein Entwicklungsland. Wie konnte das passieren, mit dieser Kultur, dieser Geschichte, dieser Lage in Mitteleuropa? Das hängt mit der Bildungsbiographie und Erwerbsbiografien zusammen. Junge Menschen kommen in den 30ern ihren Beruf sichern, eine Familie gründen, und wenn es zu viel ist, macht er entweder oder. Wären Menschen bevorzugt, wenn es um Berufliches Vorankommen geht, wenn sie ein oder zwei Kinder haben, wäre die Situation eine andere. Das könnte der Staat leisten. Es ist aber umgekehrt. Gerade Mütter fallen da hinten runter und tragen hohe Einbußen bei der Rente, obwohl sie einen unabdingbaren Beitrag zum Generationenvertrag leisten.
Veränderungen in Europa vorzunehmen, ist einfacher als man denkt. Lässt man im kleinsten Land in Europa ein Medikament zu, ist es in ganz Europa zugelassen und wir können unsere Standards vergessen. Es findet eine Nivellierung nach unten statt. Wenn Sie hören, dass Europa, der Moloch sich nicht bewegt, stimmt das nicht, es geht nur auf anderen Wegen als man ahnt. Europa geht nicht den Weg zur Villa hoch, es schleicht um die Büsche nach oben. In den 50er Jahren haben wir applaudiert, egal was Europa gemacht hat, und das war nötig. Aber heute brauchen wir Kritik, lautstarke.
Ein Drittes: einige Bemerkungen zu unseren Grenzen. Die Grenzen sind ein Prinzip der Zuweisung von Verantwortung. Der Grundstücksbesitzer ist für seinen Garten Verantwortung. Das sehen Sie daran, wie Menschen ihre eigene Bibliothek pflegen, und wie sie öffentliches Eigentum behandeln. Dieses Prinzip der Zuweisung von Verantwortung ist sehr sinnvoll. So ist das auch mit den Landesgrenzen. Wir haben kein Problem mit dem Recht auf Zugang nach Deutschland. Wirtschaftsflüchtlinge haben kein Recht und Asylsuchende, die über Land kommen, waren vorher in einem EU-Land und haben damit wieder kein Recht auf Asyl in Deutschland. Flugzeuge dürfen nur landen, wenn sie die Verantwortung dafür übernehmen, diejenigen wieder mitzunehmen, die kein Recht haben, nach Deutschland einzureisen. Ein Problem haben wir nur mit einer Sache: die Rückführung von Menschen, die kein Recht haben, hier zu bleiben. Denn Menschen kommen an und vernichten ihre Pässe und wir wissen nicht, wo sie herkommen. Herkunftsländer wiederum weigern sich oft, Ausgewanderte wiederaufzunehmen. Tunesien zum Bespiel sagt, ein Tunesier könne kein Terrorist sein und ein Terrorist kein Tunesier, und Terroristen werden nicht aufgenommen. Wen auch immer wir in ein Flugzeug setzen, ist in zwölf Wochen wieder da. Wir können das Problem nicht lösen mit dem populistischen Leitspruch „Alle raus!“. Das geht nur, indem wir Anreize schaffen, wieder in die Heimat zurückzukehren und dort zu bleiben. Das kann auch nicht das Auffanglager in Nordafrika sein. Mit Sicherheit werden diese Menschen nicht im Stillen sterben, damit wir in Überfluss und Luxus leben können.
Adenauer hat 1957 bei der Gründung der Römischen Verträge gesagt, dass man sich bewusst ist, dass diese Gemeinschaft der sechs Staaten eingegangen wird mit völlig unterschiedlichen Zielen. Frankreich und die BeNeLux Staaten wollten Kontrolle über Kohle und Stahl in Deutschland.
Deutschland wollte als ein gleichrangiger europäischer Staat anerkannt werden, die BeNeLux Staaten wollten Anteil am Reichtum von Deutschlands und Frankreichs. Andere wollten die Einfachheit des Zahlungsverkehrs. Der BREXIT ist kein Problem an sich. Der Vertrag von Maastricht ist es. Ein Vertrag darf nicht festlegen, dass ein Staat der einmal beigetreten ist, nicht wieder austreten darf. Wenn ein Land das Demokratisch beschließt, ist es in Ordnung. Der Irrtum ist aber, dass Großbrittanien die Flüchtlingskrise alleine klären könnte, die Gefährdung durch Terrorismus, oder die Umweltverschmutzung. Das kann man nur in der Gemeinschaft.
Dr. Carsten Linnemann
Wirtschaftsmacht Europa. Haben wir unsere besten Tage schon hinter uns?
Dr. Carsten Linnemann über die Wirtschaft Europas, strukturelle Krisen, BREXIT, Spaltung und möglichen Zerfall der Europäischen Union.
„Hat Europa als Wirtschaftsmacht die besten Tage hinter sich? Um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: ich hoffe es nicht! Ganz klar ist Europa aber in einer tiefen strukturellen Krise – einer Staatsschuldenkrise. Und die schlechte Nachricht des Tages ist, dass wir den Tiefpunkt noch nicht erreicht haben.“ Die Europäische Union ist aber dennoch ein Konstrukt mit vielen Vorteilen, die die ältere Generation noch zu schätzen weiß, so Linnemann. Die nächste ist mit Europa aufgewachsen und kann das weniger.
Die geniale Idee des Europas ist, durch wirtschaftliche Verflechtung, durch die Verflechtung unserer Währung, Wirtschaft, der Bürger Frieden und Freiheit zu sichern. Und man muss sagen, das hat die Europäische Union geschafft – eine atemberaubende Erfolgsgeschichte. Doch dann kam der Fehler: die Währungsunion vor der Politischen Union. Die Währungsunion ist an zwei Bedingungen geknüpft: eine Grenze der Verschuldung und den Grundsatz, dass kein Land für ein anderes haften soll. Der erste Punkt ist radikal missachtet worden: geradezu eine Verschuldungskrise ist zu verzeichnen. Wo Entscheidungen aber nicht mehr bewirken, dass der Entscheidende auch haftet, kann man nicht von Gerechtigkeit sprechen – und hier verliert der Bürger das Vertrauen in die Politik.
Wie ist die Lage in Europa? Die ist zu beschreiben als Deindustrialisierung. England, Frankreich, die Industrie baut ab, und auch der Wettbewerb bricht weg. Gravierende Handelsdefizite sind auf Dauer nicht gesund.
Wir brauchen in Europa eine Wachstumsdebatte, eine starke Insolvenz, - bzw. Resolvenzordnung Energiepolitik und Digitalisierung gehört in die Hände Europas. Da brauchen wir mehr Europa. Weniger Europa brauchen wir beim Thema Bildung, die muss Sache der Nationen bleiben. Halten wir uns ausreichend an Adenauer, die von ihm eingeführte Soziale Marktwirtschaft? Überall wo es nicht gerecht zugeht, ist mit der sozialen Marktwirtschaft irgendetwas nicht in Ordnung. Und trotz aller Debatten darum, wo wir mehr oder weniger Europa brauchen: Europa ist und bleibt alternativlos.
Dr. Günter Krings
Braucht Europa eine gemeinsame Innenpolitik?
Dr. Günter Krings über Terrorismus, Wirtschaft und Konflikte im Nahen Osten, ihre Auswirkungen auf die Stabilität der Europäischen Union und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Innenpolitik.
Blickt man nur wenige Jahre zurück auf den letzten Bundestagswahlkampf, so zeigt sich eine auffällige Verschiebung: wir interessieren uns heute viel mehr für Themen der Weltpolitik, als vor vier Jahren. Der Krieg in Syrien war damals gar kein Thema, heute betrifft er uns alle. Auch dass wir im Herzen Europas von Terrorismus betroffen sein können, war damals noch nicht denkbar. Auch hätte ich vor vier, fünf Jahren nicht damit gerechnet, dass etwas, das man nur aus Geschichtsbüchern kennt, traurige Realität wird: dass ein Land sein Nachbarland überfällt, um ein Stück Land zu annektieren, hielt ich für ein Verfahren des 18. Jahrhunderts. Undenkbar war auch, dass ein Mann ohne jede Erfahrung ein Land leitet, ohne auch nur einen Kindergartenbeirat geleitet zu haben. Jetzt führt er Amerika wie sein Privatunternehmen, und wie steil die Lernkurve sein wird, ist noch nicht abzusehen. Enorm gestiegen ist neben der Bandenkriminalität auch die terroristische Bedrohung. Globale politische Probleme reichen praktisch in die Kommunen, wie die Flüchtlingskrise.
Europa steckt in einer Krise, einer Führungskrise, einer politischen Krise. In Frankreich haben wir einen Präsidentschaftskandidaten, dessen Beliebtheit unter der von Sigmar Gabriel liegt, Italien, Polen sind in schweren Krisen. Da ist die Bundesregierung noch ein Stabilitätsanker. Dabei ist die Europäische Union gedacht als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Recht.
Bei gerade 1,2 % der Weltbevölkerung entfallen auf Europa 25% der Weltwirtschaftsleistung, 10% des Weltwirtschaftswachstumes. Das ist der Grund, weshalb Europa und gerade Deutschland als eines der reichsten Länder der Europäischen Union das erklärte Ziel der Flüchtlingswelle ist.
Die Flüchtlingskrise ist insofern anders als alle vorherigen, dass zum einen längere Wege in kürzerer Zeit zurückgelegt werden können, und zum anderen auch längere Wege in Kauf genommen werden. Die Flüchtlinge kommen nicht mehr aus unserem Hinterhof, wie es mit Kosovo war. In Brüssel fand seinerzeit eine Konferenz statt zur Frage der Bedrohung durch Syrien-Rückkehrer. Dieses Szenario wurde wenige Wochen später traurige Realität beim Anschlag auf Brüssel.
Das Europäische Parlament hat lange auf der Sonnenseite gelebt: Reisefreiheit, Entfall der Roaming-Gebühren, das war Europa. Angesichts der aktuellen Bedrohungen muss das Europäische Parlament sowohl die Kompetenz als auch das Verantwortungsgefühl für eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik übernehmen. Dublin-Abkommen soll Asylum-Shopping verhindern: Asyl kann nur da gewährt werden, wo ein Flüchtling zum ersten Mal europäischen Boden betritt. In den Asylverfahren einzelner Staaten gibt es aber Defizite, sowohl Italien, Griechenland, als auch bei uns in Deutschland. 2011 musste das Dublin-Abkommen für Griechenland ausgesetzt werden, da Griechenland sich weigerte und auch nicht in der Lage war, durchgereiste Flüchtlinge wiederaufzunehmen. Accident waiting to happen. Gegen Griechenland gab es aber kein Vertragsverletzungsverfahren, weder wegen des Bruchs des Dublin-Abkommens, noch für die unzureichende Sicherung der Außengrenzen. Wenn wir wollen, dass unsere Außengrenzen – die nicht in Berchtesgaden liegen, sondern an der Ägäis – sicher sind, müssen wir aber Grenzkontrollen zumindest Stichprobenartig in Kauf nehmen. Wir haben aber auch das moralische Problem der Seenotrettung. Wir können Menschen nicht vor unserer Haustür im Meer ertrinken lassen. Wir müssen zusehen, dass die Zahl der Ertrinkenden möglichst niedrig bleibt. Mit jedem Flüchtling, den wir aufnehmen werden wir aber zu Kollaborateuren der Schlepper. Seenotrettung muss sein, darf aber keine Eintrittskarte zum Asylverfahren in Europa sein, denn das ist eine tödliche Anreizwirkung.
Wir müssen – und das ist schwierig aber möglich – eine gemeinsame europäische Innenpolitik erarbeiten!
Wolfgang Bosbach
Unser Referent, Wolfgang Bosbach, MdB, sprach von der allgemeinen Lage Deutschlands und Europas aus der Perspektive der Politik. Des Weiteren ging er auf die Banken- und Flüchtlingskrise ein sowie die Souveränität der einzelnen Staaten, die es aktiv zu ergreifen gelte.
Er kritisierte die Debattenkultur in Deutschland, die zu viel auf Konsens ausgerichtet sei, und dass zu wenig inhaltlich gestritten werde. Neben der zu verzeichnenden EU- Müdigkeit und einer allgemeinen Orientierungslosigkeit sei auch bedauerlich, dass die Öffentlichkeit eine Scheu vor Korrekturen eines einmal eingeschlagenen Kurses an den Tag lege. Auch warnte er davor, die Kontrolle über die Einwanderung nach Deutschland zu verlieren wobei Menschen in Not zweifellos geholfen werden müsse.
Auch stellte er fest, dass sich die Europäische Union seit ihrer Gründung stark gewandelt habe; sie sei gewachsen auf „28 minus eins“ Mitgliedsstaaten, sei von einem visionären Projekt zu Fakt und wirtschaftlicher Macht geworden. Dennoch gäbe es auch außerhalb der Europäischen Union ein Europa und dies sollte man nicht übergehen. Innerhalb der Europäischen Union dürfe man die einzelnen Mitgliedsstaaten in ihrer Souveränität nicht unterschätzen. Die EU biete einen Rahmen, in dem innenpolitische Entscheidungen national getroffen werden können, aber diese Souveränität müsse man auch aktiv ergreifen.