Hintergrund und Inhalt des Abkommens
Das Escazú-Abkommen zielt darauf ab, in Lateinamerika und der Karibik die vollständige und wirksame Umsetzung der Rechte auf Zugang zu Umweltinformationen, auf Beteiligung der Öffentlichkeit an umweltbezogenen Entscheidungsprozessen und auf Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten zu gewährleisten. Darüber hinaus soll es Kapazitäten in diesen Bereichen stärken und Kooperationen ermöglichen. So soll das Abkommen das Recht jeder Person, insbesondere auch künftiger Generationen, umsetzen, in einer gesunden Umwelt zu leben und zu ihrer nachhaltigen Entwicklung beitragen.
Das Abkommen ist teilweise als Fortschreibung der Erklärung von Rio über Umwelt und Entwicklung aus dem Jahre 1992 und seiner Zusatzerklärungen zu sehen. Schon vor dem Inkrafttreten des Escazú-Abkommens gab es in einzelnen lateinamerikanischen Ländern teilweise zukunftsweisende Regelungen zum Recht auf Zugang zur Information in Umweltsachen. Diese beruhen auf den in der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK) normierten und vom Interamerikanischen Gerichtshof und der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte in zahlreichen Entscheidungen konkretisierten Standards. Bisher gab es jedoch kein kohärentes und klares regionales Regelwerk, das diese Standards zusammenfasst und deren Umfang definiert. Außerdem mangelte es bisher an einer effektiven Umsetzung entsprechender Rechte und Standards.
Ein genauerer Blick in das Abkommen zeigt, mit welcher erstaunlichen Ambition die Region den bisherigen Problemen entgegenwirken möchte – das Regelwerk gibt unter anderem vor, welche Daten genau vom Recht auf Zugang zu Umweltinformationen umfasst sind und welche Informationen von den einzelnen Staaten öffentlich dargelegt werden müssen. Das im Regelwerk enthaltene Partizipationsrecht hat insbesondere für indigene Völker im Rahmen des Rechts auf freie und informierte Vorabkonsultation große Bedeutung. Weltweit bisher einzigartig ist vor allem die staatliche Verpflichtung, Mechanismen zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern in Umweltsachen gegen Bedrohungen, Beschränkungen und Unsicherheit einzuführen. Diese Vorschrift ist in Lateinamerika als derjenigen Region, in der weltweit die meisten Umweltaktivisten ermordet werden, besonders wichtig.
Um die im Vertrag aufgeführten Ziele zu verwirklichen, müssen die im Abkommen festgelegten regionalen Standards auf nationaler Ebene umgesetzt werden. So bietet das Regelwerk eine rechtliche Grundlage zur Schaffung institutioneller Strukturen und Verwaltungsmechanismen, welche der Verbesserung des politischen Entscheidungsprozesses dienen. Basierend auf Offenheit, Transparenz und Partizipation soll das Abkommen den Übergang zu einem nachhaltigen Entwicklungsmodell für die Region ermöglichen.
Ein langer Abstimmungsprozess mit durchwachsenem Ende
Dem Inkrafttreten des Abkommens am 22. April 2021, geht ein langer Prozess gefüllt von euphorischen Deklarationen, multilateralen Abstimmungen und unerwarteten Ablehnungen voraus. Ausgangspunkt für die Entstehung des Abkommens war die Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung im Jahr 2012, sowie der hierauf basierende Santiago-Beschluss aus dem Jahr 2014 . Zwischen 2014 und 2018 verhandelten die Staaten Lateinamerikas und der Karibik unter dem Vorsitz der Delegationen aus Chile und Costa Rica und unter Einbeziehung von Stimmen aus der Zivilbevölkerung, Forschung und Lehre über den konkreten Inhalt eines regionalen Umweltschutzabkommens. Das Abkommen wurde schließlich am 4. März 2018 in Escazú, Costa Rica unterzeichnet. Unterstützt wurde die „Mesa Directiva“ hierbei von der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL-ECLAC).
Gleichzeitig waren es dann genau jene Sektoren aus der Politik und Wirtschaft einzelner Länder, welche den Ratifizierungsprozess seit Beendigung der Verhandlungen im Jahr 2018 zum Stocken gebracht haben. Als prominentestes Beispiel kann Chile genannt werden, welches sich während der Verhandlungsphase als starker Befürworter und Hauptantreiber des Abkommens gezeigt hatte. Zum Erstaunen vieler lehnte Chile 2020 seine Ratifizierung dann aber ab. Dies begründete der chilenische Außenminister Allamand damit, dass das Abkommen sowohl chilenische Gesetzgebung als auch private Interessen verletze. Es sorge für Rechtsunsicherheit bei der Planung und Durchführung großer Industrieprojekte und stelle deren Wirtschaftlichkeit in Frage. Außerdem vermische es Menschenrechte mit Umweltthemen.
Obwohl in vielen Verfassungen Lateinamerikas ein Recht auf eine saubere Umwelt bereits vorgesehen ist, scheint nun einigen Ländern die im Escazú-Abkommen vorgenommene Verbriefung von subjektiven Rechten im Umweltbereich zu weit zu gehen. Denn auch Peru, Brasilien und Venezuela haben Bedenken gegenüber der Reichweite des Abkommens vor allem in Bezug auf die Nutzung ihrer Gebiete und natürlichen Ressourcen geäußert. Sie fürchten einen Verlust von Souveränität und eine Verlagerung der Entscheidungsgewalt über Umweltkonflikte auf die regionale und internationale Ebene. Auch Costa Rica, welches sonst als Klima-Beispielland der Region gesehen wird, hat das Abkommen bisher nicht unterzeichnet. Die zeitweise von Polemik charakterisierten Debatten in diesen Ländern zeigen, dass die gegenwärtigen Regierungen wirtschaftlichen Erwägungen, Rohstoffinteressen und Fragen der territorialen Governance in ihren Ländern weiterhin Vorrang vor klima- und umweltpolitischen Absichtsbemühungen einräumen.
Escazú als Hoffnungsträger?
Die Idee, einen für die gesamte Region Lateinamerika und die Karibik gültigen Vertrag zu verabschieden und damit auch international als regionaler Block und Vorreiter in Umweltschutzfragen aufzutreten, wurde damit durch die Ablehnungshaltung wichtiger Länder geschmälert. Letztendlich wird das Abkommen nur in den zwölf Ländern umgesetzt, die das Abkommen tatsächlich ratifiziert haben.
Gleichzeitig kann das Abkommen in Zeiten schwacher klimapolitischer Verpflichtungen und stockender Mercosur-Verhandlungen als Hoffnungsträger für eine verbesserte regionale Zusammenarbeit nicht nur in Umweltsachen gesehen werden. Auch die Narrative zahlreicher Länder, eine nachhaltige Entwicklung vor allem im Post-Corona-Kontext zu fördern, wird durch das Inkrafttreten konkretisiert.
Hoffnung herrscht nicht zuletzt bei den indigenen Völkern der Region, die durch zentral geplante Industrieprojekte in ihren ländlichen Gebieten besonders betroffen sind. Gegenwärtig ist die indigene Interessenvertretung in Umweltangelegenheiten in vielen Teilen Lateinamerikas und der Karibik massiv gestört. Grund hierfür sind vor allem ein Mangel an verlässlichen Informationen und an effektiven Partizipationsmöglichkeiten. Das Escazú-Abkommen befördert daher die Möglichkeit, diese Probleme zumindest mittelfristig zu mildern.
Schließlich bietet das Abkommen den Ländern der Region auch neue Möglichkeiten, sich in globalen Handelsfragen als glaubwürdiger, umweltbewusster Akteur zu platzieren. Das Vorhaben, regionale Umweltstandards nachhaltig und kohärent auf der nationalen Ebene umzusetzen ist auch für die aktuelle deutsche und europäische Diskussion um nachhaltige Lieferketten interessant.
Ausblick
Das Abkommen von Escazú wird zweifelsohne in die Geschichte als das erste verbindliche Umweltabkommen für Lateinamerika und die Karibik eingehen. Die Verbindung von Umweltschutz- und Menschenrechtsbestimmungen bietet auch das Potenzial, vergleichbare Prozesse in anderen Weltregionen anzustoßen. Das Abkommen geht damit über die am 25. Juni 1998 unterzeichnete Aarhus-Konvention hinaus, dem ersten Übereinkommen der Wirtschaftskommission für Europa (UNECE) über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten. Dieses haben 47 europäische und asiatische Staaten sowie alle EU-Mitglieder ratifiziert. Die Aarhus-Konvention war seinerseits der erste völkerrechtliche Vertrag, der jeder Person Rechte im Umweltschutz zuschrieb. Es dient dem Escazú-Abkommen als Inspirationsquelle.
Für Umweltschützer, Menschenrechtsverteidiger und die indigenen Völker bedeutet der 22. April vor allem, dass sie nun konkrete, einklagbare Bestimmungen für den Zugang zu Umweltinformationen erhalten und ihnen eine Grundlage zur Schaffung eines sicheren und rechtlichen Umfelds im Umweltbereich gegeben wird. Gerade in einer Zeit, in der sich eben diese Gruppen einem großen Maß von Verfolgung und Gewalt ausgesetzt sehen, stellt das Inkrafttreten des Abkommens von Escazú einen Lichtblick dar. Es stärkt die Rechtssicherheit insgesamt und kann so auch einen Beitrag zu Wachstum und nachhaltiger Entwicklung leisten – immer unter dem Vorbehalt, dass die unterzeichnenden Staaten das Recht auch in abgelegenen Regionen durchsetzen können und wollen.
Auf der anderen Seite darf das Escazú-Abkommen nicht zum Hindernis für die Planung und Durchführung zukunftsweisender, rentabler Industrieprojekte in der Region werden, die für das wirtschaftliche Vorankommen Lateinamerikas so dringend erforderlich sind. Die effektive Durchsetzung von subjektiven Umweltrechten und berechtigten wirtschaftlichen Interessen müssen bei der Durchsetzung von Escazú miteinander ausgewogen in Einklang gebracht werden.
Es bleibt abzuwarten, wie Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft die ihr nun zur Verfügung stehenden Instrumente tatsächlich nutzt. Gerade für Personen in Ländern, in denen eine zunehmend rückwärtsgewandte Klima- und Energiepolitik auf nationaler Ebene zu beobachten ist, bietet das Abkommen die Möglichkeit, ein Mitspracherecht bei der Nutzung natürlicher Ressourcen einzufordern. Allerdings ist das Abkommen nicht als einfacher Freifahrtschein zu bewerten. Bürokratische und politische Hürden werden auch weiterhin das Risiko mit sich bringen, die durch das Abkommen entstandenen Hoffnungen schnell zu enttäuschen. Ein erster, symbolischer Schritt ist mit dem Inkrafttreten am „Tag der Erde“ allemal getan. Bis Umweltverbindlichkeiten effektiv rechtlich durchgesetzt und flächendeckend politisch angewandt werden, ist es jedoch noch ein weiter Weg.
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