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Die Vorgeschichte
Wenn am 7. September die Abgeordneten des britischen House of Commons das nächste Mal zu den Prime Minister’s Questions zusammenkommen, wird Keir Starmer, dem Anführer der oppositionellen Labour-Partei, entweder Rishi Sunak oder Liz Truss gegenüberstehen. Das Endergebnis des aktuellen Wahlkampfes um die Führung der Konservativen Partei wird aller Voraussicht nach weitreichende Folgen für den Regierungsstil und die Substanz der von London ausgehenden Politik haben. Die konservative Parteibasis steht seit Anfang August vor einer Entscheidung zwischen zwei Kandidaten, die sich im Politikstil, aber auch zum Teil in der Programmatik voneinander unterscheiden.
Die Entscheidung wiegt umso schwerer, da sich das Land mit einer Reihe fundamentaler Krisen konfrontiert sieht. Ausgerechnet im Jahr des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, spricht der Gouverneur der Bank of England davon, dass dem Land der größte Einbruch des Lebensstandards seit sechzig Jahren bevorsteht. Darüber hinaus wachsen die Gefahren für die Union mit Schottland und das mit dem Brexit verbundene Risiko einer Destabilisierung in Nordirland. Hinzu kommt der anhaltend mangelhafte Zustand des öffentlichen Gesundheitsdienstes NHS sowie die massiven regionalen Disparitäten innerhalb des Landes. In diese Konstellation von Krisen fielen im letzten Winter die Vorgänge, die den Anfang vom Ende der Amtszeit Boris Johnsons werden sollten. Die Partys in seinem Amtssitz, während sich der Rest des Landes im Corona-Lockdown befand, haben nicht nur dem Ansehen des Premiers schweren Schaden zugefügt, sondern auch die Umfragewerte der von ihn geführten Conservatives hinter die von Labour fallen lassen. Unter den Abgeordneten aus umkämpften Wahlkreisen machte sich die Sorge breit, mit dem angeschlagenen Johnson die kommenden Parlamentswahlen in 2024 zu verlieren. Johnsons Position wurde endgültig unhaltbar, als die zeitgleichen Rücktritte von Gesundheitsminister Sajid Javid und Schatzkanzler Rishi Sunak eine Lawine weiterer Rücktritte ins Rollen brachte.
Der Startschuss für den zweiten parteiinternen Wahlkampf der Konservativen nach nur drei Jahren erfolgte umgehend. Die Regularien der Partei sehen ein zweiteiliges Verfahren vor, bei welchem zunächst nach mehreren Wahlgängen zwei Kandidaten von den konservativen Abgeordneten nominiert werden, bevor die Parteibasis in einer Mitgliederbefragung über den endgültigen Sieger entscheidet. In einem zeitlich straffen fraktionsinternen Ausscheidungswettbewerb gingen letztendlich der zu Beginn als Favorit gehandelte Schatzkanzler Rishi Sunak und Johnsons treue Außenministerin Liz Truss als Kandidaten für die basisdemokratische Phase hervor. Man musste weder Meteorologe noch Politikwissenschaftler sein, um vorherzusagen, dass dem Königreich heiße Wochen bevorstanden.
Der Wettbewerb um die Führung der Tories wurde von Beginn an mit harten Bandagen geführt. Handels-Staatsministerin Penny Mordaunt stellte in der ersten Phase des Wahlkampfes noch die größte Bedrohung für die Kandidatur von Liz Truss dar. Sie sah sich einer unerbittlichen Kampagne des Truss-Lagers ausgesetzt, welches ihr Inkompetenz und Unzuverlässigkeit vorwarf. Mordaunt hat sich in der ersten Augustwoche trotz allem für eine Unterstützung von Truss ausgesprochen. Dass dieser innerparteiliche Wahlkampf insgesamt dem Ansehen der Partei zu Gute kommt, ist eher fraglich. Fakt ist, dass über die gesamten Sommerwochen eine einzigartige Nabelschau der Conservative Party stattfindet. In ingesamt zwölf sogenannten „hustings“, einer Art parteiinternen Regionalkonferenzen im Townhall-Format, stellen sich die beiden Kandidaten und buhlen um die Gunst der rund 160.000 Parteimitglieder. In den letzten Wochen war es aber die Labour-Partei, die zulegte: Im jüngsten Stimmungsbarometer von YouGov liegt Labour mit 43% deutlich vor den Tories mit 28% - seit fast 10 Jahren war der Abstand nie so groß wie jetzt.
Schlüsselthema Wirtschaft und Finanzen
Angesichts der anhaltenden Lebenshaltungskostenkrise und des düsteren wirtschaftlichen Ausblicks ist es wenig überraschend, dass die wirtschafts- und finanzpolitischen Programme der beiden Kandidaten im Mittelpunkt des Wahlkampfes stehen. Laut einer Prognose des Internationalen Währungsfonds steht dem Land im kommenden Jahr das schwächste Wirtschaftswachstum aller G7-Staaten bevor. Grundsätzlich gelten sowohl Sunak als auch Truss als Vertreter einer traditionell konservativ-liberalen Wirtschaftspolitik. Sunak gleichwohl, der sein Programm als „Thatcherismus des gesunden Menschenverstands“ beschrieb, plädierte von Beginn an für eine strikte Priorisierung des Kampfes gegen die Inflation. Bevor Steuern gesenkt werden könnten, müsse die hohe Inflationsrate unter Kontrolle gebracht werden. Aktuell liegt sie bei 10,1%. Andrew Bailey, der Gouverneur der Bank of England, geht davon aus, dass sie bereits dieses Jahr auf 13% steigen könnte. Sunak verfolgte damit die Strategie, sein in Zeiten der Pandemie aufgebautes Image als wirtschaftlich kompetenter und umsichtiger Krisenmanager zu verstetigen. Während Sunak sofortige Steuersenkungen als unverantwortlich, weil inflationsfördernd ablehnte, machten sofortige und weitreichende Steuersenkungen den Kern des Programms seiner Rivalin aus.
Truss warf Sunak vor, als Schatzkanzler den Briten die höchste Steuerlast seit sieben Jahrzehnten aufgebürdet zu haben. Seine Wirtschaftspolitik habe das Wirtschaftswachstum des Landes behindert und den Staatsapparat aufgebläht. Truss versuchte damit, ihren Konkurrenten als Befürworter eines paternalistischen Staates darzustellen, der den Bürgern in schweren Zeiten am liebsten noch zusätzliches Geld aus den Taschen nehmen würde. Im Falle ihrer Wahl werde sie über einen Nothaushalt im September Steuererleichterungen in Höhe von 30 Milliarden Pfund durchsetzen. Die Corona-Schulden des Staates sollten „wie Kriegsschulden“ behandelt und langfristig zurückgezahlt werden. Obwohl Sunak auch von Parteimitgliedern als wirtschaftlich kompetenter angesehen wird, geriet er zunehmend unter Druck, da die unmissverständliche Verheißung von Steuersenkungen und Entlastungen bei der konservativen Basis besser ankam. Sunak sah sich daher gezwungen, seinen programmatischen Ansatz mit einer Reihe von Vorschlägen zu ergänzen bzw. zu relativieren: Die Mehrwertsteuer auf Stromrechnungen solle für ein Jahr suspendiert und die Erbschaftssteuer möglicherweise verringert werden. Langfristig plane er die Steuerlast um 20% zu verringern. Während Sunak mit diesen Ankündigungen Zweifel an seiner Unterstützung für das traditionell konservative Ziel eines schlanken Staates zu zerstreuen versuchte, begründen Umfrageergebnisse die Vermutung, dass an der Basis dieser Schwenk nicht viele überzeugt hat. Vielmehr herrscht der Eindruck, dass er sich im Lichte der anhaltend negativen Umfrageergebnisse gezwungen sah, sein Programm anzupassen.
Unter dem Strich versprechen beide Kandidaten, die von den steigenden Lebenshaltungskosten leidgeprüften Menschen schnellstmöglich durch Steuer- und Abgabensenkungen zu entlasten. Truss setzt dabei völlig auf den erhofften Wachstumseffekt durch umfassende Entlastungen, während Sunak dies in einen Masterplan einbettet, bei dem die Inflationsbekämpfung zunächst Priorität habe. Beiden Konzepten mangelt es aber an plausiblen Modellen zur Gegenfinanzierung. Das unabhängige Institute for Fiscal Studies (IFS) stellte daher in der vergangenen Woche die Glaubwürdigkeit beider Konzepte in Frage. Dessen stellvertretendem Direktor Carl Emmerson zufolge, sei „das Vereinigte Königreich im letzten Jahr ärmer geworden“. Die Versprechungen von Truss und Sunak, mittelfristig die Steuern zu senken, ließen sich daher ohne konkrete Maßnahmen zur Senkung der öffentlichen Ausgaben mit dem vermeintlichen Wunsch, die Finanzen des Landes verantwortungsvoll zu verwalten, nur schwer vereinbaren.
Das außenpolitische Programm der konservativen Kandidaten
Nicht nur auf die wirtschaftlichen, sondern auch auf die außenpolitischen Herausforderungen des Landes wird der nächste britische Regierungschef Antworten finden müssen. Im aktuellen Wettbewerb spielte die Außenpolitik bisher eine wesentlich geringere Rolle als die wirtschaftliche Zukunft des Landes. Nicht zuletzt auch deswegen, weil die Positionen der beiden Kandidaten sich nicht viel unterscheiden. Beide stehen für die außenpolitische Linie der konservativen Tories gemäß des von der Regierung propagierten Leitmotivs eines „Global Britain“: Als Pfeiler einer weltweiten liberalen Ordnung, als ein europäisches Land mit globalen Interessen, das sich gemeinsam mit gleichgesinnten Partnern für Freihandel, Menschenrechte und Demokratie einsetzt und autoritären Regimen wie Russland und China unmissverständlich die Stirn bietet.
Doch auch hier setzen die Kandidaten unterschiedliche Akzente. Der Unterschied liegt vor allem darin, dass der junge ehemalige Schatzkanzler nahezu ausschließlich das Thema Wirtschaft und Finanzen in den Vordergrund seiner Kampagne stellt. Liz Truss hat sich hingegen insgesamt breiter thematisch aufgestellt. Insbesondere als Außenministerin hatte Truss ausreichend Gelegenheit ihr außenpolitisches Profil zu schärfen. Schon vor Beginn des russischen Überfalls war sie gegenüber dem Kreml durch die Härte ihrer Äußerungen aufgefallen. Während sie manchmal über das Ziel hinausschoss (z.B. ihre anfängliche Unterstützung von einigen tausend britischen Staatsbürger, in die Ukraine zu reisen und sich dort dem Kampf gegen Russland anzuschließen), kommunizierte sie von Anbeginn des Krieges ein klares Ziel: „Putin must fail, and must be seen to fail“. Gemeinsam mit Premierminister Johnson und Verteidigungsminister Wallace ließ Truss sich zu keinem Zeitpunkt durch abstrakte Debatten über die grundsätzliche Legitimität von Kriegszielen ablenken. Die britischen Ziele im Ukrainekrieg wurden klar und deutlich kommuniziert. Was die britische Haltung gegenüber Russland angeht, gibt es zwar einen nahezu vollkommenen Konsens unter den maßgeblichen Parteien. Doch auch hier macht der Ton die Musik. Im Februar machte der russische Außenminister Lawrow die Rhetorik seiner britischen Amtskollegin sogar für die Erhöhung der Alarmbereitschaft der russischen Atomstreitkräfte verantwortlich.
Auch in Bezug auf China hat Truss rhetorisch die Samthandschuhe ausgezogen. Sollte sie gewählt werden, plane sie Chinas Unterdrückung der Uiguren offiziell als Völkermord zu deklarieren und den wirtschaftlichen Einfluss Chinas auf wenige strategisch wichtige Sektoren zu verringern. Sie forderte zudem eine stärkere Institutionalisierung der G7. Die Staatengruppe solle zu einer Art wirtschaftlicher NATO ausgebaut werden und ihre Mitglieder vor wirtschaftlichen Aggressionen Chinas schützen. In der sogenannten Integrated Review von 2021, dem Weißbuch der britischen Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Brexit, wurde China noch als „strategischer Rivale und wirtschaftlicher Partner“ benannt. Diese Wortwahl wird aller Voraussicht nach in der nächsten Review anders ausfallen. Dennoch wähnte ihr Rivale sie genau auf diesem Gebiet verwundbar: Sunaks Team kritisierte Truss, weil sie als Bildungsministerin die Eröffnung einer Reihe sogenannter „Confucius Institutes“ erlaubt habe. Insbesondere in konservativen Kreisen werden diese mit britischen Universitäten verbundenen kulturellen Einrichtungen der Spionage und schleichenden Unterwanderung im Auftrag der Kommunistischen Partei Chinas verdächtigt. Sunak selbst gab bekannt, er werde als Premierminister anordnen, dass alle diese Institute geschlossen werden.
Im Zusammenhang mit Flüchtlingen und Menschenrechten haben sowohl Truss als auch Sunak einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht ausgeschlossen. Die Konvention ist seit Jahrzehnten ein Lieblingsthema des europaskeptischen Flügels der Partei. Zuletzt kehrte das Thema im Kontext des Ruanda-Plans der Regierung ins Rampenlicht zurück, als ein Richter des Straßburger Tribunals im letzten Moment die Abschiebung einiger Immigranten in das zentralafrikanische Land blockierte. Im Lichte des Ukrainekrieges und der Fragilität der regelbasierten globalen Ordnung würde ein Austritt des Königreichs aus der Jurisdiktion des ältesten Menschenrechtsgerichtshofs ein fatales Signal aussenden. Autokraten weltweit wäre durch einen solchen Schritt geholfen, da er so manches öffentliche Bekenntnis der britischen Regierung als leer und scheinheilig erscheinen ließe. Sowohl im Umgang mit der EMRK als auch bei den Verhandlungen über das Nordirland-Protokoll riskiert das Vereinigte Königreich, sein im Zuge des Ukrainekrieges gestiegenes außenpolitische Prestige wieder zu verspielen.
In Bezug auf die Brexit-Folgen lässt sich zunächst feststellen, dass ironischerweise Truss, eine ehemalige Remainerin, nun die Protagonistin des Johnsonschen Brexiteer-Flügels ist, während Sunak, ein Brexiteer der ersten Stunde, als Favorit der moderaten Tories gilt. Truss eskalierte dieses Jahr, nachdem sie das Mandat vom zurückgetretenen Lord Frost übernommen hatte, die Verhandlungspositionen des Vereinigten Königreichs. Ihr Gesetzesvorschlag soll es der britischen Regierung erlauben, sich unilateral über Teile des Nordirland-Protokolls hinwegzusetzen. Schon Anfang des Jahres wurde daher gemutmaßt, dass sie versuche mit dieser Art Politik von ihrer Remainer-Vergangenheit abzulenken und beim Johnson-Flügel der Partei zu punkten. Darüber hinaus begann Truss den Wahlkampf um die Parteibasis mit dem Versprechen, bis 2023 alle verbleibenden Gesetze, die auf EU-Recht wurzeln, auslaufen zu lassen. Für diejenigen, die sich erhoffen, dass Truss ihre Haltung zur EU nach Amtsübernahme moderieren würde, sind solche Aktionen ernüchternd. Auch Rishi Sunak bekannte sich zu dem Gesetzesvorschlag, gilt jedoch als kompromissbereiter als Truss, deren parlamentarische Unterstützung zur großen Mehrheit von Brexiteer-Abgeordneten ausgeht.
Es kann auf Dauer nicht im Interesse auch des Vereinigten Königreichs sein, einen lösbaren Streit weiter zu befeuern. Auch die regierende Konservative Partei kann sich in Zeiten von Krieg und Wirtschaftskrise kaum derartige kostspielige Konflikte mit ihrem größten Handelspartner, der Europäischen Union, erlauben. Nachdem Boris Johnson mit dem Versprechen gewählt worden war, den Brexit zu vollenden („Get Brexit Done!“), sollte es nun die Aufgabe seines Nachfolgers bzw. seiner Nachfolgerin sein, die Beziehungen zur EU in konstruktive, freundschaftliche und zukunftsgewandte Bahnen zu lenken. Das Potenzial für eine Annäherung besteht auf vielen Gebieten. Die Frage ist, ob die internen Spannungen in der Konservativen Partei eine Annäherung zulassen. Im innerparteilichen Wahlkampf blieb Truss bei ihrer harten Linie: Das einzige, was die EU verstehe, sei „strength“, so die Außenministerin auf einer der Tory-Regionalkonferenzen.
Die politische Dynamik des Wettbewerbs
Angesichts der Favoritenrolle, die Rishi Sunak während der ersten Phase des Wahlkampfes zugesprochen wurde, mag es überraschend wirken, dass mittlerweile Liz Truss den Wettbewerb dominiert. Bei genauerer Betrachtung der Ausgangsposition und der Wettbewerbsdynamik ist es gar nicht so überraschend. Truss ist eine Instinkt-Politikerin, der es in den letzten Wochen gelungen ist, in der öffentlichen Debatte auf Themen zu setzen, die vor allem bei der Parteibasis gut ankommen. Sie hat es vermocht, ihren Rivalen Sunak in eine defensive, reaktive Haltung zu drängen. Während sich die Stimmung in der konservativen Parteibasis nicht mit absoluter Sicherheit feststellen lässt, so deuten alle aktuellen Umfragen darauf hin, dass die amtierende Außenministerin das Rennen machen wird. In einer jüngsten Umfrage des konservativen Portals ConservativeHome würden sich 60% der Parteimitglieder für Truss aussprechen, nur 28% für Sunak. Hinzu kommt, dass Truss mittlerweile mehr Parlamentsabgeordnete aus der konservativen Unterhaus-Fraktion hinter sich geschart hat als ihr Rivale. Sunaks Stärke lag anfangs darin, dass er unter den Abgeordneten deutlich mehr Unterstützer hatte. In den verbleibenden knapp zwei Wochen wird es demnach nicht einfach für ihn, das Blatt noch zu wenden. Angeblich haben bereits mehr als die Hälfte der Parteimitglieder bereits ihr Votum abgeben.
Ausschlaggebend für die politische Dynamik im parteiinternen Wettbewerb scheint das grundsätzliche Kräfteverhältnis zwischen dem rechten und dem moderaten Flügel der Partei zu sein. Wenn die Einschätzung von Paul Goodman auf ConservativeHome stimmt, und tatsächlich doppelt so viele Mitglieder dem rechten Flügel zugerechnet werden können, so ist dies eine Erklärung für Sunaks Schwierigkeiten. Obwohl er persönlich von Anfang an den Brexit befürwortet hatte, galt er seit Beginn seiner Amtszeit als Schatzkanzler als Vertreter des moderaten Flügels der Partei. Dieser Eindruck wurde nicht zuletzt dadurch bestärkt, dass seine Machtbasis in der Parlamentsfraktion unter moderaten Remainer-MPs liegt. Von Kommentatoren wurde er oftmals mit Tony Blair, dem ehemaligen Labour-Premierminister verglichen. Im Gegensatz zu Sunak konzentrierte sich Truss seit dem Brexit-Referendum und insbesondere seit dem Amtsantritt Johnsons darauf, Themen zu besetzen, die in der Basis gut ankommen. Sie verwandelte sich in eine Befürworterin des harten Brexit-Kurses der Regierung Johnson und trieb diesen letztlich selbst an. Sie gab sich als Außenministerin gegenüber autoritären Regimen kämpferisch und machte im Dezember 2021 klar, dass es „unanfechtbare“ Daten geben müsse, bevor erneute Corona-Restriktionen gerechtfertigt werden könnten. Ihre Kritiker aus dem moderaten Flügel der Partei belächelten oftmals ihren wenig geschliffenen Stil und ihre durchschaubaren Versuche, sich als Erbin Thatchers zu inszenieren. Mit der Zeit scheint es Truss jedoch gelungen zu sein, den rechten Flügel der Parteibasis hinter sich zu konsolidieren und sich in eine Position zu bringen, von der sie den Kampf um die Gunst der Parteibasis aus einer Position der Stärke führen kann.
Ein weiterer ausschlaggebender Punkt ist, dass Truss im Gegensatz zu Sunak nicht der Vorwurf des Verrats am Parteiführer und Premierminister Johnson anhängt. Truss stand stets loyal zu Boris Johnson. Sunak gilt für viele Parteimitglieder als „Königsmörder“. Obwohl er bei weitem nicht der einzige unter den Kabinettsmitgliedern war, die den Bruch mit Johnson vollzogen haben, steht er nun im Fokus. Hier wiegt auch die Tatsache, dass Boris Johnson unter den konservativen Parteimitgliedern weiterhin beliebt ist. Sunak ist es wohlmöglich nicht gelungen, in den vergangenen Wochen des innerparteilichen Wahlkampfs gegen diese Hypothek anzugehen. Seine Kommunikation ist professionell, sein Auftritt modern. Experten sprechen ihm eine größere Kompetenz vor allem in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen zu. Dennoch zündet es nicht. Auch seine persönliche Erfolgsstory als Kind einer indischen Einwandererfamilie aus Ostafrika, die er wie ein Mantra vortrug, wirkt offensichtlich zu glattgeschliffen. Geschadet haben ihm hierbei auch die Vorgänge um seine Frau, Tochter eines milliardenscheren indischen Unternehmens, die ihre ausländischen Einkünfte nicht in Großbritannien versteuert hat - legal, aber politisch anfechtbar.
Sunak ist es in der entscheidenden Phase des Wettbewerbs auch nicht gelungen, ausreichend namhafte Unterstützer hinter sich zu versammeln. Nicht einmal seinen politischen Weggefährten und ehemaligen Gesundheitsminister Sajid Javid konnte er für seine Kandidatur gewinnen. Das unterstützende Plädoyer des politischen konservativen Schwergewichts Michael Gove in der „Times“ am vergangenen Wochenende kam vielleicht zu spät. Der endgültige „Todesstoß“ für Sunaks Kampagne mag im Nachhinein gesehen schon gekommen sein, als Verteidigungsminister Ben Wallace, der aktuell beliebteste Tory-Politiker, Ende Juli seine Unterstützung für Liz Truss publik machte. Vor 17 Jahren stand die Konservative Partei vor einer ähnlich bedeutenden Wahl. 2005 hätten sich die Konservativen für David Davis entscheiden können, er war den Instinkten der Parteibasis wesentlich verbundener als der sozial-liberale David Cameron. Sie entschieden sich nichtsdestotrotz am Ende für Cameron, da dieser als der gefährlichere Gegner für Labour galt. Die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung von 2005 ist dieses Jahr jedoch wie bereits beschrieben eher gering. Auch den direkten Vergleich zu Oppositionsführer Keir Starmer muss Truss mittlerweile nicht scheuen.
Die dritte britische Premierministerin nach Thatcher und May?
Das Lager um Rishi Sunak traut den Umfragen nicht und gibt sich weiter zuversichtlich. Große Teile der Medien sowie die Experten in Westminster scheinen sich aber auf Liz Truss festzulegen. Sie wäre die dritte Frau im Amt des britischen Premierministers, nach Margarate Thatcher und Theresa May. Es kursieren bereits Berichte über ihr mögliches Kabinett und ihr Sofortprogramm für die ersten 100 Tage. Der starke Mann an ihrer Seite wäre wohl der bisherige Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng als neuer Schatzkanzler. Beide sind enge politische Verbündete und Verfasser der konservativ-liberalen Schrift „Britannia unchained“. Es ist davon auszugehen, dass einige Politikerinnen, die anfangs auch Ambitionen auf das Spitzenamt hatten wie Penny Mordaunt, Suella Braverman und Kemi Badenoch, ebenfalls in ein Kabinett Truss berufen werden könnten. Insgesamt würde die britische Spitzenpolitik ein ausgeprägt weibliches Gesicht bekommen. Wer auch immer an der Spitze der britischen Konservativen stehen wird, wäre ohnehin gut beraten, nicht nur den nahestehenden Flügel mit einflussreichen Posten zu bedienen. Denn in der Westminster-Demokratie ist das Parlament und somit vor allem die Regierungsfraktion und nicht das wählende Volk das zentrale, souveräne Element des britischen Systems. Der Premierminister mag zwar in der Parteibasis beliebt sein, was letztendlich zählt, ist das Vertrauen der Fraktion. Genau daran ist auch Boris Johnson gescheitert.
Mit Blick auf die Zukunft der britisch–europäischen Beziehungen bleibt daher zu hoffen, dass auch eine Premierministerin Truss auf diese Balance setzt und ihren Einfluss im rechten Flügel der Partei dafür einsetzt, die aktuellen, lösbaren Konflikte mit der EU über Nordirland zu beenden. In Zeiten des Ukrainekrieges, des chinesischen Säbelrasselns im Südchinesischen Meer und rapide steigender Lebenshaltungskosten gibt es genügend Herausforderungen, die in Europa von gleichgesinnten Partnern auf Basis vertrauensvoller Beziehungen und koordinierter Aktionen bewältigt werden müssen. Die Chance, das Verhältnis zwischen London, Paris und Berlin zu verbessern, besteht. Truss, der ehemaligen Liberaldemokratin, müsste es aber gelingen, die Konservative Partei in ihrer Haltung zur EU zu einen. Sollte es ihr als ehemalige Remainerin tatsächlich gelingen, die unendliche Brexit–Debatte zu beenden und sich stärker gemeinsam mit den EU-Ländern auf Zukunftsthemen zu konzentrieren, würde dies nicht einer gewissen Ironie entbehren. Im Lichte ihrer Äußerungen bis dato könnte man dieses Szenario zwar als optimistisch bezeichnen. Doch die Zukunft von Johnsons Nachfolger bzw. Nachfolgerin wird ab dem ersten Tag im Amt nicht mehr von der Parteibasis, sondern wieder in der Parlamentsfraktion entschieden. Und dort haben moderate Abgeordnete noch immer beträchtlichen Einfluss.
Eine zukünftige Mäßigung ihrer Positionen zur Europäischen Union könnte Truss daher ab September genauso zugutekommen wie ihre bisherigen Manöver am rechten Flügel der Basis. Sollte der Wahlkampf um die Führung so ausgehen wie aktuelle Umfragen nahelegen, würde Keir Starmer bei der nächsten parlamentarischen Fragestunde im Palace of Westminster am 7. September gut daran tun, sich nicht in die lange Reihe derer einzureihen, die Truss unterschätzten.
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