Am 16. April 1922, einem Ostersonntag, wurde im italienischen Rapallo ein Vertrag zwischen Sowjetrussland und dem Deutschen Reich unterzeichnet. Mit diesem nahmen beide Staaten ihre 1918 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen wieder auf; Ende 1922 wurde der Vertrag auch auf die übrigen Sowjetrepubliken ausgedehnt, darunter die Ukraine. Die Basis war, dass die deutsche Seite, Reichskanzler Joseph Wirth von der Zentrumspartei und der Industrielle und Außenminister Walther Rathenau (DDP), auf Entschädigungen für von den Sowjets enteignetes deutsches Eigentum verzichteten, während der sowjetische Außenminister Georgi Tschitscherin dies für deutsche Reparationen aus dem Weltkrieg tat, welche die Alliierten im Versailler Vertrag ausdrücklich für Russland vorbehalten hatten. Ferner vereinbarte man in Handelsfragen eine Klausel der wechselseitigen Meistbegünstigung. Der Vertrag wurde von beiden Staaten ratifiziert und war auf einer ersten Ebene der Bedeutung nur eine Vereinbarung, mit dem das Deutsche Reich die letzte Lücke zur formalen Anerkennung in der Staatenwelt nach dem Weltkrieg schloss, während das revolutionäre Russland zum ersten Mal diplomatisch voll von einer Großmacht anerkannt wurde.
Geheimverhandlungen am Rande der Konferenz von Genua
Diplomacy as usual also? Das internationale Aufsehen war sogleich groß. Zur Beurteilung muss man zwei Stränge auseinanderhalten, den internationalen und die geheimen bilateralen Hintergrundgespräche. Der Vertrag von Rapallo wurde am Rande einer internationalen Konferenz in Genua (10. April bis 19. Mai 1922) unterzeichnet. Sowohl Deutschland als auch Russland nahmen hier erstmals seit dem Weltkrieg gleichberechtigt teil. Es ging vor allem Großbritannien darum, den wirtschaftlichen Aufbau Europas nach dem Krieg, insbesondere die hierzu erforderliche Finanzierung gemeinsam zu verhandeln und ein entsprechendes Wirtschaftskonsortium zusammenzubringen.
Vorausgegangen waren seit dem Versailler Vertrag mit Deutschland vom Juni 1919 sehr schwierige und konfliktbeladene Verhandlungen der Siegerstaaten mit den Verlierern. Dies betraf vor allem das Deutsche Reich, mit dem die Siegerstaaten über die Höhe der zu welchem Termin jeweils zu leistenden Reparationen verhandelten, aber auch Russland, wobei die Frage des Wiederaufbaus des noch vom Bürgerkrieg gekennzeichneten revolutionären Landes beraten wurde. Es ging dabei unter anderem um konfisziertes Vermögen und die Schulden des russischen Zarenreichs im Westen, vor allem in Frankreich. Da nach dem Versailler Vertrag dem damals nicht beteiligten Russland spätere Reparationsansprüche an Deutschland vorbehalten waren, konnte Frankreich möglicherweise an deutschen Zahlungen an Russland indirekt teilhaben. Gerade die deutsch-französischen Gegensätze hatten bisher wiederholt an den Rand des Zusammenbruchs der Verhandlungen geführt. Diese kulminierten im Jahr nach Rapallo im Januar 1923 in der militärischen Besetzung des Ruhrgebiets. Erst Ende 1924 vermittelten amerikanische Unterhändler mittelfristig tragbare Regelungen, den Dawes-Plan.
Reaktionen
Die öffentliche, aber auch die interne Reaktion auf Rapallo war heftig. Von Vertrauensbruch und Verrat war die Rede. In einer Protestnote beschwerten sich zehn Staaten, die deutsche Delegation habe auf ein „Angebot des guten Willens“ zur Zusammenarbeit in Europa „mit einer Haltung geantwortet, welche den Geist gegenseitigen Vertrauens“ zerstöre. Der Coup bedeutete letztlich, dass vor allem die von Großbritannien und seinem Premierminister David Lloyd George ausgehenden Anstrengungen zu einer gesamteuropäischen Lösung hinfällig wurden, die auf gutem Wege gewesen zu sein schienen. In Frankreich hatte man schon vor Genua die Sorge, eine Verständigung Deutschlands mit Russland werde seine mit dem Friedensvertrag von 1919 errungene Vormachtstellung in Europa schwächen. Nun war die französische Empörung, zumal bei Ministerpräsident Raymond Poincaré, groß; der Vertrag, so meinte er, „ist nur die Manifestation der natürlichen Neigung, die die Deutschen und die Russen dazu treibt, sich in gemeinsamer Feindschaft gegen die Signaturmächte von Versailles […] zu verständigen.“ Er forderte vergeblich eine Annullierung von Rapallo, konnte sich damit jedoch bei den anderen Staaten in Genua nicht durchsetzen.
Skeptisch reagierte man in Ostmitteleuropa, während die britische Politik ihre verständliche Enttäuschung nicht allzu offen äußerte. Auch in den USA, die sich nach 1920 politisch aus den europäischen Verhältnissen zurückgezogen hatten, wirtschaftlich aber eine zentrale Macht für die Rekonstruktion des alten Kontinents blieben, sah man Rapallo recht kritisch. Die deutsch-sowjetische „Normalisierung“ hatte also gesamteuropäische Auswirkungen. Sie verschaffte der deutschen Seite neuen Handlungsspielraum gegenüber dem Westen, der sowjetischen einen offiziellen Zugang zur europäischen Staatenwelt. Seit 1922 ist immer wieder das Bild der beiden „Parias“ der Weltgeschichte gebraucht wurden; sie errangen beide einen kurzfristigen Vorteil gegen eingefahrene Praktiken des vor allem von französischen Interessen bestimmten Wiederaufbaus in Europa.
Deutsch-russische Kollaboration zulasten Polens
Der zweite Strang ergibt sich aus der innerdeutschen Politik. Erst ein Jahr vor Rapallo wurde der russisch-polnische Krieg, der von 1919 an geführt wurde, mit dem Frieden von Riga am 18. März 1921 beendet. Zunächst hatte der nach dem Weltkrieg wieder begründete polnische Staat versucht, mit Waffengewalt die Grenzen des alten Polen von 1772 wieder zu erlangen, seine Truppen standen kurz vor Minsk und eroberten Kiew; sodann gingen die sowjetischen Truppen zum Gegenangriff über und kamen dabei bis kurz vor Warschau. Ein erneuter polnischer Vorstoß nach Osten war erfolgreich und führte zu einer weitgehenden Kapitulation Russlands. Der Frieden sicherte Polen große Teile im Westen der heutigen Staaten Belarus bzw. der Ukraine. In dieser andauernden Kampfsituation wurden bereits seit 1920 erste Bande zwischen dem deutschen Militär und russischen Revolutionären geknüpft.
Es war vor allem der neue starke Mann der Reichswehr, General Hans von Seeckt, der sich eigenmächtig daranmachte, deutsche Rüstungsfirmen wie Junkers (für Flugzeuge) oder Krupp (für Geschütze) für eine Produktion in Russland zu gewinnen. Russische Unterhändler erbaten von Berlin auch technisches Know-how und Reichswehroffiziere sondierten ihrerseits in Russland Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Die durch den Versailler Vertrag zahlen- und ausrüstungsmäßig stark limitierte Reichswehr sah hier Chancen, durch eine gesetzwidrige geheime Zusammenarbeit mit Russland ihre Entwicklungsmöglichkeiten voranzutreiben. Geboren war dies aus einem Geist der Revanchismus, der sich am deutlichsten in einer Denkschrift Seeckts vom August 1922 niederschlug. „Polens Existenz ist unerträglich, unvereinbar mit den Lebensbedingungen Deutschlands. Es muß verschwinden und wird verschwinden durch eigene, innere Schwäche und durch Rußland – mit unserer Hülfe. Polen ist für Rußland noch unerträglicher als für uns; kein Rußland findet sich mit Polen ab.“
Lag darin nicht das eigentliche Ziel von Rapallo, die verborgene Agenda: ein russisch-deutsches Bündnis durch dick und dünn – zur militärischen und/oder sozialrevolutionären Umgestaltung der in den Pariser Vorortverträgen geschaffenen internationalen Ordnung? Hatten die Franzosen vielleicht doch recht, die befürchteten, Frankreichs Verbindungen mit Ostmitteleuropa würde durch eine deutsche Revanche bedroht und damit auch der übrige Westen? Es ist seit den Ereignissen von 1922 ungeheuer viel geschrieben und geforscht worden – vor allem über die Strukturen deutscher Politik, über die Details der diplomatischen Verhandlungen, die lange vor und während der Konferenz von Genua zwischen allen Seiten stattfanden. Gewiss, es gab Reichskanzler Joseph Wirth, der sich zuvor mit seiner „Erfüllungspolitik“ in Sachen Reparationen in Richtung Westen einen Namen gemacht hatte. Er arbeitete hier in engem Kontakt mit dem Diplomaten Ago von Maltzan, dem eigentlichen Antreiber für den Vertrag. Der Industrielle Walther Rathenau, zuvor Wiederaufbauminister und gerade erst ins Auswärtige Amt gelangt, war eher nach Westen hin orientiert, stimmte nur in letzter Minute dem Vertrag zu. Reichspräsident Friedrich Ebert, aber auch die SPD waren wenig angetan. Es wird berichtet, dass Rathenau zeitweilig an eine Annullierung des Vertrages dachte. All dies brachte nur scheinbar Klarheit in die unterschiedlichen und im Zeitablauf wechselnden Motive der deutschen Seite.
Militärische und wirtschaftliche Interessen
Wichtiger als die Motive sind jedoch die realen Auswirkungen von Rapallo. In der Tat hatten große Teile der deutschen Wirtschaft Interesse am russischen Markt. Er bildete 1913 das drittwichtigste Exportland, war im Import sogar nach den USA der zweitwichtigste Staat, wie auch umgekehrt deutsche Produkte fast die Hälfte an den russischen Einfuhren ausmachten. Gerade mit dem Export konnte man jetzt Devisen verdienen, die in die Lösung der Reparationsfrage einflossen. Die Einfuhren aus dem Deutschen Reich nach Russland hatten bereits vor dem Vertrag wieder fast ein Viertel des Vorkriegsniveaus erreicht; sie stiegen nun auf ein Drittel, sanken aber schon 1924 wieder auf 21,1 % ab. Für die Russen wurden die anderen europäischen Märkte, allen voran der britische, bedeutender. Erst ab 1930 wurde Russland zum wichtigsten Absatzmarkt des Deutschen Reiches; doch das lag nicht an Rapallo, sondern an der Weltwirtschaftskrise und dem Zusammenbruch des Weltmarktes.
Anders sah es mit der Kooperation von Reichswehr und Roter Armee aus. Diese entwickelte sich im Geheimen gut, führte zur deutsch unterstützten Produktion von Waffen für die militärische Luftfahrt, von Panzern und Giftgas. Dieses Know-how wurde so auf deutscher Seite weiterentwickelt, gab den Sowjets aber auch Hilfe für eigene Entwicklungen. Auch in der Ausbildung und Schulung von Reichswehroffizieren kooperierte die deutsche Seite mit der der Roten Armee.
Auf politischer Ebene konnte von Sonderbeziehungen nicht die Rede sein. Alle Berliner Regierungen waren sich ihrer Abhängigkeit vom Westen bewusst, denn gerade das US-amerikanische Kapitel war entscheidend für den Wiederaufbau wie für die Reparationsregelungen. Äußeres Zeichen einer relativen Aussöhnung zwischen den europäischen Siegermächten des Ersten Weltkriegs und Deutschland war im Oktober 1925 das Vertragswerk von Locarno, in dem Frankreichs Sicherheitsbedürfnis gegenüber Deutschland im breiteren westeuropäischen Rahmen Rückhalt bekam. Hier war die Sowjetunion nicht beteiligt, schloss jedoch im folgenden Jahr mit dem Deutschen Reich in Bekräftigung von Rapallo einen Berliner Vertrag über wechselseitige Neutralität. Das übte indirekt Druck auf Polen aus und bekräftigte damit gerade hier deutsche Revisionsansprüche gegenüber Polen, zu dem ja ein Landkorridor zwischen Ostpreußen und dem Reich gehörte. Von einem gemeinsamen militärischen Vorgehen Deutschlands und der Sowjetunion war jedoch nicht mehr die Rede.
NS-Deutschland verlängerte zwar im Frühjahr 1933 noch einmal den Berliner Vertrag, schloss jedoch mit Polen 1934 einen Nichtangriffspakt. Im Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 räumten beide Seiten dann allerdings im Geheimen gründlich mit der internationalen und territorialen Ordnung der Zeit seit dem Ersten Weltkrieg auf, als sie nicht nur Polen, sondern ganz Ostmitteleuropa unter ihren Staaten als Einflusssphären aufteilten und dann auch militärisch eroberten – bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941.
Metapher „Rapallo“
Natürlich war auch 1939 angesichts des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts sofort von Rapallo die Rede. Aber das hatte mit dem ursprünglichen Vertrag nichts zu tun. Der Name des berühmten Seebades hatte mittlerweile ein Eigenleben als historisch-politische Metapher gewonnen und behielt diesen seither bei. Schon 1922 war der Vertrag im Deutschen Reich heftig umstritten. In konservativen Kreisen konstruierte man damals (und seither immer wieder einmal) mit ihm eine weltpolitische Schicksalsgemeinschaft. Sozialdemokraten waren dagegen, Kommunisten priesen ihn. Schon Lenin und mit ihm die kommunistische Internationale bezeichneten den Vertrag als Modell für künftige Verträge mit kapitalistischen Staaten und damit als eines der „friedlichen Koexistenz“. Das wurde in diesem Milieu fortan zum Schlagwort für beliebige andere Ereignisse: die Verständigung zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, nämlich „sozialistischer“, sprich kommunistischer Prägung und „kapitalistisch“-bürgerlicher Prägung, und zwar zum wechselseitigen, vor allem ökonomischen Vorteil.
Es überrascht nicht, dass diese Bedeutung seit der Gründung beider deutscher Staaten in der DDR offiziell verbreitet wurde; die Geschichtswissenschaft lieferte hierzu den quellenmäßigen Unterbau. Und so blieb es weiterhin: Was für die eine Seite das positive Wunschbild einer friedlichen Koexistenz bedeutete, war aus gegenteiliger Sicht das Schreckbild eines Hereinfallens auf kommunistische Unterwanderung durch einen Wolf im Schafspelz. In Polen existierten nicht erst seit den Teilungen im 18. Jahrhundert große Befürchtungen, zwischen Deutschen und Russen aufgerieben zu werden. Dass diese Sorgen nur allzu berechtigt waren, zeigte sich dann während des Zweiten Weltkriegs, als die Polen eine so noch nie dagewesen tödliche Besatzungsherrschaft erlitten.
Auch nach 1945 lag der Vorwurf „Rapallo“ immer wieder auf der Hand. Von Adenauer bis Willy Brandt bemühten sich die Kanzler aus unterschiedlichen Motiven um eine Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion und suchten den Begriff „Rapallo“ abzuwehren. Er tauchte beim Moskaubesuch Adenauers 1955 auf und gegen die Ostpolitik Willy Brandts suchten Unionspolitiker wie Franz-Josef Strauß mit Sorgen vor einen „zweiten Rapallo“ zu mobilisieren: ja sie warnten vor einer „Finnlandisierung“, also einer faktischen, wenn auch nicht rechtlichen Abhängigkeit von der Sowjetunion. Besonders groß waren wegen des Moskauer-Vertrags wie zu erwarten die entsprechenden Vorbehalte in Polen – trotz des deutsch-polnischen Vertrages, der gleichzeitig in Kraft trat. In Frankreich verzichtete man allerdings zu dieser Zeit darauf, mit dem Hinweis auf „Rapallo“ Warnungen auszusprechen.
Eine neue Rapallo-Politik seit 1990?
Nach dem Fall der Mauer schien dann eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung auf gutem Weg zu sein. Und „Rapallo“ historisch fern. In diesem Sinne äußerte etwa Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahr 2000 vor einem Moskaubesuch bei dem neuen Staatspräsidenten Wladimir Putin, Deutschland wolle beim Aufbau der Demokratie helfen und dabei müssten „nicht wieder Rapallo-Ängste über spezielle deutsch-russische Beziehung“ aufkommen. Der russische Präsident schloss sich dem zwei Jahre später anlässlich des Petersburger Dialogs an, als er sich zu neuen Beziehungen zwischen der NATO und Russland bekannte: „Beim Bau eines neuen Europa spielen die russisch-deutschen Beziehungen die Rolle eines Gerüsts, und zwar insofern, als sie sich stets in die europäischen Präferenzen gefügt haben. Denken wir etwa an den Rapallo-Vertrag, dessen 80. Jahrestag wir in einer Woche feiern werden. Der Geist von Rapallo, der Verzicht auf gegenseitige Ansprüche und die friedliche Koexistenz haben in der Geschichte Europas in den 20er Jahren eine positive Rolle gespielt.“ Deutsch-russische Beziehungen als Teil einer gesamteuropäischen Ordnung – das wäre in der Tat wünschenswert gewesen.
Es ist bekanntlich anders gekommen. Von russischer Seite ist nicht mehr von Rapallo die Rede; eine andere historische Metapher Putins zieht sich aber über die Jahre: viel Verständnis für die Deutschen, die unter dem Versailler Vertrag gelitten hätten, der letztlich zum Zweiten Weltkrieg geführt habe. Das ist die Sicht des uneinsichtigen Weimarer Revisionismus der Zwischenkriegszeit; die seriöse Forschung sieht das längst differenzierter. Aber der Vergleich des Deutschen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg mit Russland, so wie er es sieht, findet sich bei Putin schon im Jahr 2009. Zum Verständnis, nicht zur Legitimierung der europäischen Situation im Jahr 2022 könnte das ein hilfreicher Hinweis sein.
Dagegen findet im euroatlantischen Westen die Rapallo-Metapher gerade in der Gegenwart eine neue Wendung : es geht dann um die Wirtschaftsbeziehungen, insbesondere die Abhängigkeit von Energie und Rohstoffen, in welche Deutschland in den letzten Jahren geraten ist. Ist das ein neues Rapallo – sind das deutsch-russische Sonderbeziehungen auf Kosten des übrigen Westens geworden oder gar geplant gewesen? Über die sachliche Berechtigung ist hier nicht zu reden, wohl aber zeigt die gegenwärtige Anwendung zum 100. Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrags von Rapallo, dass historische Metaphern historische Sachverhalte in vielfältig gebrochener Weise bündeln und neu konstruieren können: Ängste, Hoffnungen, Verlockungen, Wut äußern sich in unterschiedlichen Lagern zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden an und werden dabei jeweils politisch gezielt emotional eingesetzt. „Teufelspakt“ oder „Rapallo-Romantik“ lauteten kürzlich einige der publizistisch gebrauchten Einbettungen. Der Vertrag von Rapallo 1922 war ein Vertrag zur Normalisierung der bilateralen Beziehungen von zwei Staaten, die bis dahin in der europäischen Nachkriegsordnung nach dem Ersten Weltkrieg nicht voll eingebunden waren, nicht mehr oder nicht weniger. Er hatte kurzfristig starke Wirkungen, in ihm steckte aber tatsächlich keine langfristige Strategie, die danach von der einen oder anderen Seite verfolgt worden wäre. Rapallo ist seit 100 Jahren immer wieder als Metapher deutsch-russischer Sonderbeziehungen (und dies zumeist kritisch: auf Kosten anderer) benutzt worden – seien sie negativ oder auch positiv gedeutet worden.
Besser wäre es, mit „Rapallo“ und „Genua“ (als Ausschnitt des damaligen globalen Geschehens) die Fragen nach einer europäischen Sicherheits- und Friedensordnung zu stellen, die seither, damals wie heute, nicht nur von Westeuropa als einer sich ständig ausweitende Zone der Demokratie, des Fortschritts und der Menschenrechte definiert wird. Dabei sollte es um eine Blickrichtung gehen, die auch die aktiv gestaltend Rolle Osteuropas gleichberechtigt einbezieht. Die maximale Gewalt ging mitten im vergangenen Jahrhundert von der Mitte, dem Deutschen Reich, aus. Das gilt gerade dann, weil nicht alle Staaten im letzten Jahrhundert den gleichen Weg zu einer gemeinsamen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ordnung, die auf gleichen Werten bestand, gegangen sind, sondern wenn unter diesen, damals wie heute, Gewalt und Krieg für Interessen benutzt haben und das gerade in der Gegenwart des Jahres 2022 in neuer Qualität tun.
Jost Dülffer ist emeritierter Professor für Neuere Geschichte an der Universität zu Köln mit dem Forschungsschwerpunkt Internationale Beziehungen.