Alfred Müller-Armack gilt nicht nur als Vordenker, sondern auch als Namensgeber der Sozialen Marktwirtschaft. Dazu existiert eine Anekdote, die durch Canisianer-Brüder des Herz-Jesu-Klosters in Vreden überliefert worden ist. In dieses Kloster war im Sommer 1943, nach wiederholten Bombardierungen Münsters, die an der dortigen Universität angesiedelte „Forschungsstelle für Allgemeine und Textile Marktwirtschaft“ unter Leitung von Professor Müller-Armack ausgelagert worden. Irgendwann im Hungerwinter 1946/47, so berichteten es Ordensbrüder später, sei ihr etwas verschrobener Mitbewohner ins Treppenhaus gerannt und habe ausgerufen: „Nun weiß ich, wie es heißen muss. ‚Soziale Marktwirtschaft‘ muss es heißen! ‚Sozial‘ mit einem großen ‚S‘!“
Müller-Armack stellte zu diesem Zeitpunkt das Manuskript zu seinem Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ fertig, das 1947 erschien und in dem er den Terminus „Soziale Marktwirtschaft“ erstmals öffentlich verwendete.
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Frühe Jahre
Müller-Armack wurde am 28. Juni 1901 als Alfred August Arnold Müller geboren. Seine Eltern waren Hermann Justus Müller, Betriebsleiter des Gaswerks bei Krupp in Essen, und dessen Frau Elise Dorothee. Armack war der Geburtsname seiner Mutter, den er Ende der 1920er Jahre seinem eigenen Nachnamen hinzufügte – vielleicht, um bei seinen wissenschaftlichen Publikationen eine Verwechslungsgefahr mit anderen „Müllers“ zu vermeiden. Seine Herkunft bescherte ihm eine materiell sorgenfreie Kindheit und Jugend, und sie ermöglichte ihm nach dem Abitur 1919 das Studium der Nationalökonomie in Gießen, Freiburg, München und Köln. Neben Wirtschaftstheorie und -geschichte interessierte ihn vor allem die Soziologie. Als Doktorvater wählte er denn auch mit Leopold von Wiese eine der prägenden Gestalten der frühen deutschen Soziologie. 1923 wurde er mit der Arbeit „Das Krisenproblem in der theoretischen Sozialökonomik“ zum Doktor der Staatswissenschaften promoviert. Am Kölner Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften lernte er zudem Max Scheler kennen, der gemeinsam mit Wiese die Abteilung für Soziologie leitete. Genau wie Wieses Soziologie, hatte auch Schelers Philosophie einen nachhaltigen Einfluss auf Müller-Armacks eigenes Denken. Der erste Arbeitsschwerpunkt des jungen Wissenschaftlers blieb aber zunächst einmal die Konjunkturtheorie. Seine 1926 vorgelegte Habilitationsschrift untersuchte die „Ökonomische Theorie der Konjunkturpolitik“. Schon in dieser frühen Phase zeigte sich also sein wirtschaftspolitisches Interesse.
Die Weltwirtschaftskrise führte bei Müller-Armack, wie auch bei anderen zeitgenössischen Ökonomen, zu großer Verunsicherung. Die überkommenen Modelle und Theorien schienen der Krise nicht gewachsen zu sein. Nicht wenige sahen das System der freien Marktwirtschaft überhaupt in Frage gestellt. Ein solcher Bruch ist auch in Müller-Armacks Schriften deutlich erkennbar. Er wendete sich grundsätzlichen Fragestellungen zu und veröffentlichte 1932 mit „Entwicklungsgesetze des Kapitalismus“ eine Arbeit, in der er versuchte, in Auseinandersetzung mit Geschichtsphilosophie und Marxismus, Wesen und Strukturprinzip der freien Marktwirtschaft zu erfassen. Dabei wies er sowohl den Materialismus als auch den Idealismus als zu einseitig zurück und hob die Bedeutung der menschlichen Gestaltungskraft hervor, die aber gebunden bleibe an die geschichtlich gewachsene Situation.
Zeit des Nationalsozialismus
Bertram Schefold weist darauf hin, dass die ethischen Maßstäbe, die dem menschlichen Gestaltungswillen Orientierung geben können und die ein zentrales Thema in Müller-Armacks späteren Publikationen darstellten, in dem Buch von 1932 weitgehend fehlten. Diese Leerstelle füllte Müller-Armack 1933 in seiner Schrift „Staatsidee und Wirtschaftsordnung im Neuen Reich“ leider mit einem nationalistischen Voluntarismus. Er begrüßte in emphatischer Weise die „Nationale Regierung“ unter Adolf Hitler und reihte sich in die „Märzgefallenen“ ein, die nach dem 30. Januar 1933 und besonders nach den Reichstagswahlen vom 5. März in die NSDAP eintraten. Er scheint zu diesem Zeitpunkt tatsächlich die Hoffnung gehegt zu haben, dass die neue Regierung Deutschland aus der wirtschaftlichen und sozialen Krise herausführen würde. Mit Blick auf die Wirtschaftsordnung pries er – als „dritten Weg“ gegenüber Sozialismus und Liberalismus – das Modell des faschistischen Korporatismus nach dem Vorbild von Mussolinis Italien.
Müller-Armacks Verhalten in der Zeit des Nationalsozialismus wird bis heute kontrovers diskutiert. Der Historiker Thomas Großbölting ordnet ihn in die „große Gruppe der universitären Mitläufer und Mittäter ein“ (Großbölting 2023, 12). Aber nicht nur das: Er unterstellt zudem eine weitgehende Kontinuität zwischen Müller-Armacks Vorstellungen von 1933 und seinem nach dem Krieg vorgestellten Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Die erste These einer intellektuellen „Mittäterschaft“ erweist sich bei genauerem Hinsehen allerdings als sehr gewagt. Die Unterstellung einer vordemokratisch-autoritären Grundierung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft ist unhaltbar.
Müller-Armacks Schrift von 1933 blieb ein einmaliger „Ausrutscher“. Man muss ihm zugutehalten, dass er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht absehen konnte, in welche Abgründe das neue Regime Deutschland führen würde. Trotzdem handelt es sich um ein schlimmes Pamphlet, das ein dezisionistisches Politikverständnis sowie autoritäre, anti-parlamentarische und anti-pluralistische Verirrungen des jungen Wissenschaftlers offenbart. Rassistische oder antisemitische Inhalte finden sich allerdings nicht, vielmehr positioniert Müller-Armack sich sogar kritisch gegen den Vulgärdarwinismus der völkischen Bewegung und damit gegen einen integralen Bestandteil der NS-Ideologie. Auch sein Plädoyer für den Korporatismus zeigt, dass er sich von der Zukunft andere Vorstellungen machte als die nationalsozialistischen Machthaber. Letztere waren denn auch nicht sonderlich erfreut und verboten 1935 einen Nachdruck von „Staatsidee und Wirtschaftsordnung“.
Müller-Armack publizierte nach 1933 kaum noch und engagierte sich weder in der NSDAP noch in deren Vorfeldorganisationen. Stattdessen war er kirchlich aktiv und unterstützte die „Bekennende Kirche“, also den Zusammenschluss von evangelischen Pfarrern, Theologen und Christen, die sich für die Selbstbehauptung und Freiheit der Kirche unter der NS-Diktatur einsetzten. Opportunistischen Karrierismus kann man ihm nicht vorwerfen, und so musste er denn auch jahrelang warten, bis er einen Lehrstuhl bekam. Seine Berufung an die Universität Frankfurt wurde 1936 staatlicherseits gestoppt, und auch der 1940 erfolgte Ruf auf den Lehrstuhl für Nationalökonomie und Kultursoziologie an der Universität Münster wäre wegen seiner „mangelnden nationalsozialistischen Gesinnung“, seiner liberalen Überzeugungen und seiner engen Bindung an die Kirche vom Reichserziehungsministerium beinahe unterbunden worden. In Münster kooperierte er zwar mit der Textilwirtschaft und regionalen NS-Stellen, um Unterstützer für die von ihm gegründete Forschungsstelle für allgemeine und textile Marktwirtschaft zu finden. Als Mitarbeiter – 1943 zählte das Institut immerhin 30 Angestellte – stellte er allerdings bevorzugt kirchlich engagierte Nachwuchswissenschaftler ein. In der der Wirtschaftsforschung gewidmeten Klasse IV der Akademie für Deutsches Recht unter dem Vorsitz von Jens Jessen und in der dort von Erwin von Beckerath geleiteten „Arbeitsgemeinschaft für Volkswirtschaftslehre“ pflegte er den Austausch mit anderen liberalen Ökonomen. Jessen und von Beckerath machten aus diesem Kreis eine Art konspiratives Netzwerk, in dem marktwirtschaftliche Alternativen zur nationalsozialistischen Lenkungswirtschaft diskutiert wurden.
In seiner Forschung zog sich Müller-Armack auf das ideologisch unverfängliche Gebiet der Wirtschaftsgeschichte zurück und legte 1940 das Buch „Genealogie der Wirtschaftsstile“ vor. Sein Ziel war es, in Anknüpfung an Max Webers Protestantismusthese die Bedeutung der großen weltanschaulichen Systeme, insbesondere der Religionen, für die wirtschaftliche Entwicklung darzustellen. Diese Arbeit dokumentiert, wie gründlich er sich noch während der NS-Zeit von seiner voluntaristischen und dezisionistischen Verirrung aus dem Jahr 1933 verabschiedet hatte.
Aus all dem ergibt sich das Bild eines Mannes, der nach kurzzeitigem Enthusiasmus für die „Nationale Regierung“ schon bald ernüchtert war, als er den wahren Charakter des NS-Regimes erkannte. Er hat sich nach 1933 den Machthabern nicht angedient, aber doch mit den gegebenen Verhältnissen arrangiert, um seinen akademischen Beruf ausüben zu können. Es wäre sicherlich falsch, ihn zum Dissidenten zu stilisieren, aber ihn als „Mittäter“ darzustellen, ist genauso wenig gerechtfertigt.
Völlig unverständlich ist es allerdings, Müller-Armack auch für die Zeit nach dem Untergang des NS-Regimes eine vordemokratisch-autoritäre Denkweise attestieren zu wollen. Diese Behauptung ist überhaupt nur erklärbar durch eine in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts aufgekommene These, den Ordoliberalismus insgesamt als „autoritären Liberalismus“ zu interpretieren. Dieses Verdikt traf selbst jene Ordoliberale, die aktiv im Widerstand gegen das NS-Regime waren wie Walter Eucken. Es knüpft an die ordoliberale Forderung nach einem „starken Staat“ an, von der aus vermeintliche Parallelen zur Staatsphilosophie Carl Schmitts behauptet werden. Obwohl seitdem vielfach gezeigt worden ist, dass diese Parallelen nicht bestehen und auf einer oberflächlichen, im Ergebnis völlig missverständlichen Lektüre der einschlägigen Texte beruhen, taucht das Wort vom „autoritären Liberalismus“ als Wiedergänger in der Literatur ärgerlicherweise bis heute immer wieder auf. Zutreffend ist es vielmehr, den Ordoliberalismus als eine Variante des „konservativen Liberalismus“ in der Tradition eines Alexis der Tocqueville oder Lord Acton zu verstehen, wie es Kenneth Dyson in seinem 2021 erschienenen Buch Conservative Liberalism, Ordo-Liberalism and The State kenntnisreich und überzeugend darstellt.
Was Müller-Armack angeht, kann man ihm nur die ganz entschiedene „öffentliche Hinwendung zum Liberalismus nach der Befreiung, sowohl in der Sache wie in der wissenschaftlichen Begründung“ (Schefold, 68) attestieren. Bereits unmittelbar nach dem Krieg, als in dem kriegszerstörten Deutschland noch weithin Mangel und Not herrschten, hat er sich für einen freiheitlich-marktwirtschaftlichen Neuanfang eingesetzt. Damit trat er einer in der Bevölkerung vorherrschenden antikapitalistischen Grundstimmung entgegen. Sein Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ war eine Abrechnung mit der nationalsozialistischen Lenkungswirtschaft und zeigte generell die Aporien jeder Zentralverwaltungswirtschaft auf. Die dezentrale Marktwirtschaft werde den notorischen Knappheitsverhältnissen demgegenüber besser gerecht und könne als einzige Wirtschaftsform dauerhaften Wohlstand hervorbringen. Zugleich kritisierte er den klassischen Wirtschaftsliberalismus dafür, dass er sich über die Voraussetzungen und Bedingungen einer Marktwirtschaft, kurz: über die Wirtschaftsordnung, zu wenig Gedanken gemacht hatte. Demgegenüber sei „in einer ausgestalteten Marktwirtschaft eine organisatorische Kunstform zu sehen [...], deren Daseinsbedingungen sorgfältig zu beachten sind“ (Müller-Armack, Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, 105). Mit diesem Grundsatz und auch damit, dass er der Wettbewerbs- und Preispolitik eine zentrale Bedeutung für sein Konzept zumaß, lag er ganz auf der Linie der Freiburger Ordoliberalen um Walter Eucken. Mehr als diese war er aber überzeugt, dass eine funktionierende Wettbewerbsordnung zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung sei, um gesellschaftlichen Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit zu erreichen. „So sehr es notwendig ist, die marktwirtschaftliche Ordnung als ein zusammenhängendes Ganzes zu begreifen und zu sichern, so sehr ist es ebenfalls notwendig, sich des technischen und partiellen Charakters der Marktordnung bewußtbewusst zu werden“ (ebd., 106). Deswegen war er mehr als andere Neoliberale bereit, der Sozialpolitik eine gegenüber der Wirtschaftspolitik eigenständige Rolle einzuräumen. Wichtig war ihm allerdings, dass Wirtschafts- und Sozialpolitik einander nicht konterkarieren, sondern aufeinander abgestimmt werden.
Müller-Armack hat sein Konzept der Sozialen Marktwirtschaft von Anfang an in seiner gesamtgesellschaftlichen Bedeutung gesehen und reflektiert. Sie war für ihn nicht nur ein Wirtschaftskonzept, sondern ein integrales „Teilprojekt“ für den freiheitlich-demokratischen Neuanfang Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Ganz im Sinne seiner Stilforschung hat er die Soziale Marktwirtschaft als spezifischen Wirtschaftsstil begriffen, der diesen Neuanfang fördern sollte, denn er war überzeugt: „Die Geschichte der Kulturstile zeigt uns, wie sehr geschichtliche Form nur in der Einheit eines alle Lebensgebiete durchwaltenden Stiles Dauer hat. Es ist unmöglich, sich wirtschaftspolitisch für eine Lösung zu entscheiden, die den zentralen geistigen Werten, für die man sich einsetzt, widerspricht“ (ebd. 89).
Soziale Irenik
Die von Müller-Armack verfochtenen geistigen Werte waren diejenigen des Christentums. Sein 1948 erschienenes Buch „Das Jahrhundert ohne Gott“ fand in kirchlichen Kreisen große Resonanz. In Fortführung seiner kultursoziologischen Überlegungen aus der „Genealogie der Wirtschaftsstile“ entfaltete er die These von dem Transzendenzbezug des Menschen als anthropologischer Grundkonstante: Das vorherrschende Glaubenssystem bilde den „metaphysischen Untergrund“ des Kulturstils jeder Epoche. Säkularisation und Glaubensabfall seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert hätten an diesem Transzendenzbezug des Menschen nichts geändert, sondern dafür gesorgt, dass sich „der religiöse Akt in eine ihm nicht adäquate Sphäre“ (Müller-Armack, Das Jahrhundert ohne Gott, 406) verlagert habe. Die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts mit ihren „Idolen“ der Klasse oder Rasse waren für ihn eine „geistesgeschichtliche Konsequenz des Glaubensabfalls“ (ebd. 409).
Müller-Armack war freilich nicht so naiv, als Lösung eine bloße Rechristianisierung zu propagieren. Ihm war klar, dass die moderne weltanschauliche Pluralität nicht zurück in eine Einheit aufgelöst werden konnte. Sein übergreifendes sozialethisches Konzept war deshalb das der „sozialen Irenik“. Damit knüpfte er an theologische Entwürfe des 16. und 17. Jahrhunderts an. Die Ireniker waren protestantische Theologen, die in der Zeit der verheerenden Konfessionskriege in Europa versuchten, mit einem verständigungsorientierten Ansatz einen Ausweg aus den unversöhnlichen dogmatischen Auseinandersetzungen zu weisen. Für sie war das übergeordnete Ziel christlicher Gemeinschaft nur erreichbar, wenn der Diskurs über die (Glaubens-) Wahrheit in der Verpflichtung zum Frieden und dem Bemühen um Einheit geführt wurde.
Dieses Anliegen, die Gesellschaft zu versöhnen, verfolgte Müller-Armack mit dem Konzept der „sozialen Irenik“ für die eigene Epoche. Nach den materiellen, geistigen und moralischen Verheerungen des Nationalsozialismus und des Krieges strebte er nach einer „irenischen Zusammenführung“ der weltanschaulichen und politischen Lager seiner Zeit (Katholizismus, Protestantismus, Liberalismus, Sozialismus), um eine herausragend wichtige, „praktische Weltaufgabe“ zu erfüllen: den Wiederaufbau einer menschenwürdigen Gesellschaft. Die Soziale Marktwirtschaft – auch sie nannte er eine „irenische Formel“ – war für ihn ein integraler Bestandteil dieses Vorhabens.
Wirtschaftspolitiker
So sehr er sich dem Ordoliberalismus verbunden fühlte und sich selbst als Ordnungspolitiker verstand – für Müller-Armack war die Soziale Marktwirtschaft kein Konzept unverrückbarer Prinzipien, sondern „ein der Ausgestaltung harrender, progressiver Stilgedanke“. Ordnungspolitische Puristen und intransigente Neoliberale auf der Linie eines Friedrich August von Hayek sind mit ihm und seinem Werk deshalb nie ganz einverstanden gewesen.
Keinen Zweifel an Müller-Armacks ordnungspolitischem Kompass hatte Ludwig Erhard, der im Sommer 1947 vom Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, dem Quasi-Parlament der Bizone, zum Leiter der „Sonderstelle Geld und Kredit“ bestellt worden war. Aufgabe der „Sonderstelle“ war es, ein Konzept für die Währungsreform zu erarbeiten. Auf der Suche nach Mitstreitern für seine liberale Wirtschaftspolitik berief er Müller-Armack, den er schon während des Krieges kennengelernt hatte, zu seinem Berater. Ab Januar 1948 war Müller-Armack Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat des Frankfurter Wirtschaftsrates, zu dessen Direktor Verwaltung Erhard am 2. April 1948 aufstieg. Auch dem Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums gehörte er seit dessen Gründung an. Als Professor wechselte er 1950 von Münster auf einen Lehrstuhl für Wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Köln. Dort gründete er das Institut für Wirtschaftspolitik.
Im Oktober 1952 wurde Müller-Armack von Erhard als Ministerialdirektor ins Bundeswirtschaftsministerium geholt, wo er die Leitung der Grundsatzabteilung übernahm. Allein diese Personalie zeigt, wie sehr die Soziale Marktwirtschaft inzwischen zum Leitbild und werbewirksamen Markenzeichen der Wirtschaftspolitik in der jungen Bundesrepublik geworden war. Müller-Armack war einer der engsten Mitarbeiter Erhards. In den Verhandlungen über die Römischen Verträge, namentlich den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag), nahm er für das Bundeswirtschaftsministerium die federführende Rolle ein. Nicht zuletzt seinem Einfluss ist es zu verdanken, dass der faire Wettbewerb und dessen institutionelle Absicherung von Anfang an eine herausragende Stellung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bekamen. Auch aufgrund dieses Verhandlungserfolgs wurde Müller-Armack 1958 zum Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium mit der Zuständigkeit für alle europäische Angelegenheiten ernannt. Auf eigenen Wunsch schied er im Oktober 1963 aus dem Wirtschaftsministerium aus – gemeinsam mit Erhard, der als Nachfolger Adenauers ins Kanzleramt wechselte. Müller-Armack nahm seine Lehrtätigkeit an der Universität Köln wieder auf, wo er 1970 emeritiert wurde.
Trotz seiner ordnungspolitischen Expertise und der persönlichen Nähe zu Erhard, konnte Müller-Armack im Wirtschaftsministerium und in der CDU keine eigene Hausmacht aufbauen. Eine eigenständige politische Karriere machte er nicht. Das einzige politische Wahl-Mandat, das er je ausübte, war das eines Kölner Ratsherren von 1964 bis 1969. Von 1964 bis 1968 war er zudem, gemeinsam mit Franz Thedieck, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Obwohl er die deutsche und europäische Wirtschaftspolitik für einige Jahre entscheidend mitgestaltet hat, ist er im Grunde seines Wesens stets Wissenschaftler geblieben – wohl aber ein nicht nur theoretisch, sondern auch konzeptionell denkender Wissenschaftler.
Müller-Armacks Erbe
Am 16. März 1978 verstarb Alfred Müller-Armack in Köln. Viel gelesen werden seine Bücher heutezutage nicht mehr, und tatsächlich erschließt sich ein großer Teil seiner Texte nur noch demjenigen, der bereit ist, diese aus ihrem historischen Kontext heraus zu lesen und zu interpretieren. Sein bleibendes Erbe allerdings ist ein Verständnis von Wirtschaftspolitik und Wirtschaftswissenschaft, das sich eben nicht nur mit den inneren Logiken des Funktionssystems Wirtschaft beschäftigt, sondern den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext einbezieht. Müller-Armack sprach von den „geistigen Landschaften“, die es zu entdecken gelte, um die Werte und Lebensziele der Menschen zu verstehen, die im Wechselverhältnis mit der Wirtschaft und ihren Institutionen stehen. Zweifellos haben sich seit seiner Zeit erhebliche tektonische Verschiebungen in den geistigen Landschaften ereignet. Aber an deren grundsätzlicher Bedeutung hat sich nichts geändert. Heutzutage wird dieser Ansatz in den Forschungsprogrammen einer „kulturellen Ökonomik“ bzw. „kontextualen Ökonomik“ auf innovative Weise wieder aufgegriffen und fruchtbar gemacht.
Dr. Arnd Küppers ist stellvertretender Direktor der Katholischen Wissenschaftlichen Zentralstelle, Mönchengladbach.
Literatur:
- Becker, Pia/Goldschmidt, Nils/Lenger Alexander: „Politische Ökonomie als kontextuale Ökonomik. Institutionen und Entwicklung zwischen Politik, Wirtschaft und Kultur“, in: Zeitschrift für Politik 62 (2015), S. 84–102.
- Dietzfelbinger, Daniel: Soziale Marktwirtschaft als Wirtschaftsstil. Alfred Müller-Armacks Lebenswerk. Gütersloh 1998.
- Dyson, Kenneth: Conservative Liberalism, Ordo-Liberalism and The State. Disciplining Democracy and the Market. Oxford 2021.
- Großbölting, Thomas: Alfred-Müller Armack – die politische Biografie eines Ökonomen. Münster 2023.
- Kowitz, Rolf: Alfred Müller-Armack: Wirtschaftspolitik als Berufung. Zur Entstehungsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft und dem politischen Wirken des Hochschullehrers. Köln 1995.
- Müller-Armack, Alfred: „Das Jahrhundert ohne Gott (1948)“, in: Ders., Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform. 2. Aufl., Stuttgart u.a.1968, S. 371–512.
- Müller-Armack, Alfred: „Soziale Irenik (1950)“, in: Ders., Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform. 2. Aufl., Stuttgart u.a. 1968, S. 559–578.
- Müller-Armack, Alfred: „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft (1946)“, in: Ders., Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik. Studien und Konzepte zur Sozialen Marktwirtschaft und zur Europäischen Integration. Freiburg i.Br. 1966, S. 19–170.
- Schefold, Bertram: „Vom Interventionsstaat zur Sozialen Marktwirtschaft: Der Weg Alfred Müller-Armacks“, in: Hasse, Rolf H./Quaas, Friedrun (Hg.), Wirtschaftsordnung und Gesellschaftskonzept. Bern u.a. 2002, S. 47–87.
- Watrin, Christian: „Alfred Müller-Armack (1901–1978)“, in Henning, Friedrich-Wilhelm Hg.), Kölner Volkswirte und Sozialwissenschaftler. Über den Beitrag Kölner Volkswirte und Sozialwissenschaftler zur Entwicklung der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Köln 1988, S. 39–68.
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