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Essay

Die Eindimensionalität der Kolonialismusdebatte und ihre Auswirkungen auf die deutsche Afrikapolitik

Ein Plädoyer für Unterstützung bei aktuellen Herausforderungen statt selbstbezogener, postkolonialer Vergangenheitsbewältigung

Die Aufarbeitung deutscher Kolonialverbrechen und die Aussöhnung sind vollkommen berechtigte Anliegen. Doch die deutsche Afrikapolitik unter der Ampelregierung hat gezeigt, welche negativen Auswirkungen eine postkolonial fehlgeleitete Vergangenheitsbewältigung auch für die betroffenen Länder hat. Zudem sollte Deutschland auf die Kritik neokolonialer Akteure wie Russland oder China offensiv reagieren.

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Betrachtet man den aktuellen Diskurs um Postkolonialismus und die koloniale Vergangenheit des heutigen Westens, dann wird sehr viel über die finanzielle Verantwortung westlicher Staaten gesprochen, über zum Teil enorme Summen, die zurück an Länder des sogenannten Globalen Südens fließen sollten, und welche Art der Wiedergutmachung angemessen wäre. Diese Diskussion ist in Ordnung und kann auch geführt werden, letztlich ist ihr aber eine gewisse Eindimensionalität eigen. Dies wäre nicht weiter schlimm, wenn solche Debatten nicht auch praktische Folgen für die deutsche Afrikapolitik hätten.
 

Eine Debatte ohne selbstkritische Stimmen aus Afrika

Um nur ein Beispiel zu nennen, sei hier auf Prof. Joseph Agbakoba hingewiesen, ein nigerianischer Philosoph, der unlängst in einem Meinungsartikel zum Kolonialismus eine für manchen Postkolonialisten sehr überraschend anmutende Aussage machte:

„Afrika muss seine Opfermentalität ablegen, denn die Kolonisierung ist praktisch so alt wie die Menschheitsgeschichte und ebenso universell. Und so moralisch verwerflich sie auch ist, ist sie doch eines der Mittel, mit denen sich Wissen von einer Gesellschaft zur anderen verbreitet.“ Dies ist der eine Aspekt. Und weiter heißt es ebendort: „Ohne sich zu sehr auf die Opferrolle zu konzentrieren, haben viele ehemalige asiatische Kolonien Wege gefunden, hilfreiches westliches Wissen und westliche Werte zu integrieren und trotz lokaler und internationaler Hindernisse blühende moderne Staaten zu schaffen.“[i]

Um möglichen Einwänden gleich entgegenzutreten: Joseph Agbakoba machte diese Aussagen nicht in einem westlichen Medium, um sich an eine westliche Öffentlichkeit zu richten. Nein, er schrieb dies als Meinungsartikel in einer vielgelesenen nigerianischen Tageszeitung und wandte sich damit explizit an seine Landsleute. Mit solchen Vorstößen ist er auch nicht allein. Auch andere Intellektuelle wie Olúfẹ́mi Táíwò stoßen in dasselbe Horn.[ii] Sie wundern sich (oft hinter vorgehaltener Hand und sehr viel prononcierter im privaten Austausch) „über die Naivität“ einiger Europäer und insbesondere von uns Deutschen im Umgang mit unserer kolonialen Vergangenheit. So äußerte sich ein namibischer Intellektueller im privaten Gespräch mit dem Autor dahingehend, dass Deutschland gerade auch im Umgang mit Namibia sehr viel gegeben, aber viel zu wenig von der namibischen Seite eingefordert habe. Dabei sieht er eine wesentliche Verantwortung auch bei seinen Landsleuten, die zunächst selbst die gesellschaftliche Spaltung innerhalb Namibias überwinden müssten. Im Zentrum der bilateralen Beziehungen, so sein Credo, müsse letztlich die Unterstützung seines Landes zur Bewältigung von aktuellen Herausforderungen stehen. Und dabei könne Deutschland durchaus helfen. Auch Parlamentarier aus Westafrika äußerten sich dahingehend, dass wir uns doch bitte von den „Komplexen der Vergangenheit befreien“ und uns vielmehr um die gemeinsame Gestaltung der Zukunft bemühen sollten.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker (Mitte) und Marianne von Weizsäcker werden von Kindern begrüßt. Weizsäcker besuchte als erstes Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland Tansania. Arusha, 25. Juni 1992. Bundesregierung / Arne Schambeck
Bundespräsident Richard von Weizsäcker (Mitte) und Marianne von Weizsäcker werden von Kindern begrüßt. Weizsäcker besuchte als erstes Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland Tansania. Arusha, 25. Juni 1992.

Gerade also, wenn man unsere afrikanischen Partner ernst nehmen will, sollte die deutsche Politik solche Stimmen wie die von Prof. Agbakoba und anderen zumindest wahrnehmen – auch mit Blick auf die Formulierung unserer Afrikapolitik.

 

Gefahr für die deutsche Afrikapolitik

Gab es unter der Regierung Merkel (2005–2021) bereits erhebliche Anstrengungen, zu einer Übereinkunft mit Namibia hinsichtlich der deutschen Kolonialgeschichte zu gelangen (vgl. die Verhandlungen zur Joint Declaration von 2015–2021), haben die Parteien der Ampelkoalition (2021–2025) das koloniale Erbe sogar in einem eigenen Absatz im Koalitionsvertrag behandelt.[i] Dabei ging es vor allem darum, dass die deutsche Kolonialgeschichte in Afrika aufgearbeitet und Provenienzforschung unterstützt werden sollte. In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass dieses Bestreben nach Aufarbeitung unmittelbare Auswirkungen auf das außenpolitische Handeln der Regierung hatte. Der Schwerpunkt wurde dabei allerdings sehr einseitig auf Vergangenheitsbewältigung gelegt; Ansätze für die gemeinsame Gestaltung der Zukunft kamen dabei viel zu kurz. Dies ist gerade auch mit Blick auf innerafrikanische Stimmen problematisch, die die Verantwortung für heutige Entwicklungsdefizite eben nicht ausschließlich im Westen sehen, sondern auch bei den einheimischen Eliten. Davon ist im „traditionellen Diskurs“ der Postkolonialisten kaum die Rede. In der vorherrschenden Diskussion sehe ich deshalb vor allem zwei zentrale Gefahren für eine zukunftsbezogene, gestaltend auftretende deutsche Außenpolitik: Zum einen, dass wir als Bundesrepublik Deutschland mit einem zu engen Fokus auf die koloniale Vergangenheit auf positive Gestaltungsmöglichkeiten in unserem heutigen außenpolitischen Auftreten gegenüber Partnern in Afrika verzichten. Und zum anderen, dass wir mit der aktuellen Herangehensweise an das Thema nicht zuletzt dem Narrativ von Anti-Demokraten in die Hände spielen.
 

2012 im British Museum ausgestellte Benin-Bronzen. Weltweit gibt es mehr als 5.000 dieser Kunstwerke, knapp 1.000 Bronzen werden in deutschen Museen ausgestellt. Zwanzig Objekte wurde im Dezember 2022 in einem feierlichen Staatsakt von Deutschland an Nigeria übergeben. Son of Groucho / flickr / CC BY 2.0 / creativecommons.org/licenses/by/2.0
2012 im British Museum ausgestellte Benin-Bronzen. Weltweit gibt es mehr als 5.000 dieser Kunstwerke, knapp 1.000 Bronzen werden in deutschen Museen ausgestellt. Zwanzig Objekte wurde im Dezember 2022 in einem feierlichen Staatsakt von Deutschland an Nigeria übergeben.

Drei Klarstellungen

Bevor ich dies weiter ausführe, will ich drei Dinge klarstellen:

(1) Es ist vollkommen richtig, dass wir den Verbrechen der Kolonialzeit – auch der deutschen Kolonialzeit – viel mehr Aufmerksamkeit widmen als dies bisher der Fall war. Diese Verbrechen sind zu verurteilen. Und dort, wo wir etwas gut machen können, sollten wir dies auch tun. Das zwischen den Regierungen Deutschlands und Namibias verhandelte Aussöhnungsabkommen ist hier als positives Beispiel zu nennen – auch wenn die finale Annahme des Abkommens durch Namibia noch aussteht.

(2) Wir sollten jedoch auf keinen Fall einem gängigen Narrativ aufsitzen, nach dem Gewalt und Unterdrückung erst mit der Ankunft der westlichen Kolonisatoren in diesen Gesellschaften Einzug gehalten hätte. Gewalt und Unterdrückung gab es in den Gebieten der späteren Kolonien bereits vor Ankunft der europäischen Mächte. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das Königreich Benin, aus dem die berühmten Benin-Bronzen stammen, gründete seinen Reichtum auf dem Handel mit Sklaven, die meist aus benachbarten Völkern stammten. Das begann schon vor der Errichtung der westlichen Kolonialherrschaft. Auch wenn die Dimension des Sklavenhandels mit den Kolonialmächten enorm zugenommen hat, gab es diesen Handel auch schon zuvor – er war keine Erfindung des Westens. Und das Königreich Benin ist kein Einzelfall.

(3) Bei aller notwendigen kritischen Betrachtung der kolonialen Vergangenheit der Europäer sollte gerade heute nicht übersehen werden, dass es auch eine koloniale Gegenwart gibt. Diese zeigt sich insbesondere im Agieren von Russland und China nicht zuletzt in Afrika. So stellt das Auftreten Russlands in der Zentralafrikanischen Republik ein klares Beispiel für moderne Kolonisierung dar. Russland begann sein dortiges Engagement mit der sogenannten Wagner-Gruppe, die den „Schutz“ der (korrupten) Regierung vor Ort übernommen hat. Gleichzeitig verkauft Russland in großem Stil Waffen dorthin. Im Gegenzug sichert sich Moskau Schürfrechte für Gold- oder sonstige Minen. Heute gehen Beobachter davon aus, dass die Regierung Zentralafrikas nicht mehr unabhängig agieren kann, sie sei nur noch eine Marionette von Moskau. Ähnliche Tendenzen sind auch für die Entwicklungen in den drei Putschstaaten im Sahel – Mali, Burkina Faso und Niger – zu beobachten. Und auch Chinas Engagement in Afrika ist bei weitem nicht frei von neokolonialen Anwandlungen. Selbstverständlich hat China mit zahlreichen Infrastrukturmaßnahmen erheblich zur Entwicklung einzelner Länder beigetragen. Gleichzeitig hat die Volksrepublik aufgrund des kommerziellen Charakters dieser Unterstützung und einer – heutigen internationalen Maßstäben anscheinend nicht immer entsprechenden – Auftragsvergabe die aktuelle Schuldenlast insbesondere der Länder Subsahara-Afrikas massiv befördert. Lag diese Schuldenlast nach Zahlen der Weltbank im Jahr 2010 noch bei circa 354 Milliarden US-Dollar, lag sie Ende 2022 bei über 1,14 Billionen US-Dollar – eine Verdreifachung des Schuldenstandes in weniger als 15 Jahren.[i] Und die Art und Weise wie China diese Kredite zurückverlangt, auch in Konkurrenz zu multilateralen Gebern, wird von einigen Beobachtern als neokoloniales Verhalten beschrieben.

 

Drei Schlussfolgerungen des erweiterten Blicks auf die Postkolonialismus-Debatte für die deutsche Afrikapolitik

1. Die kritische Aufarbeitung der Vergangenheit darf nicht unseren außenpolitischen Interessen schaden.

Wir dürfen nicht naiv sein. Gerade in Afrika wird der Kolonialismus-Vorwurf auch vielfach dann angewandt, wenn man sich – durchaus berechtigter – westlicher Kritik an schlechter Regierungsführung, Korruption oder Wahlfälschung erwehren will. Afrikanische Autokraten greifen dann allzu gerne in die argumentative Mottenkiste und nutzen den Kolonialismus als „Totschlagargument“, um von eigenen Verfehlungen abzulenken. Diese Argumente werden dann nur allzu gerne noch verstärkt durch Russland, aber auch China, die sich zum einen damit brüsten, nie selbst Kolonialmacht gewesen zu sein, und sich zum anderen der kolonialen Vergangenheit Europas nur allzu gerne bedienen, um sie als Waffe im Meinungskampf gegen den Westen zu nutzen. Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte, dass Russlands Geschichte (beziehungsweise die der Sowjetunion) durchaus koloniale Züge in der eigenen Nachbarschaft (zum Beispiel im Südkaukasus oder in Osteuropa) aufwies; und auch China ging regelmäßig mit seinem Herrschaftsanspruch durchaus über das chinesische Kernland hinaus.

Mit Blick auf den Westen geht es dabei, wie bereits erwähnt, gar nicht darum, einen selbstkritischen Umgang mit der eigenen kolonialen Vergangenheit zu unterbinden. Im Gegenteil, dieser ist absolut notwendig und richtig. Aber einen solchen Umgang sollten wir auch von unseren systemischen Rivalen und denen, die sich auf eine Partnerschaft mit ihnen einlassen, einfordern. Und nicht jede Kritik, die von interessierter Seite – zum Beispiel eben Russland, China oder auch afrikanische Autokraten – kommt, müssen wir für bare Münze nehmen und uns in die Defensive treiben lassen. Das Narrativ von den kolonialen Unschuldskindern Russland und China stimmt nicht. Und wenn Kritik von dieser Seite kommt, sollte darauf auch offensiv hingewiesen werden.
 

2. Wir sollten im Kontext der Kolonialdebatte auch die umfangreiche  Entwicklungszusammenarbeit des Westens stärker betonen.

Man kann an der internationalen Entwicklungspolitik massive Kritik üben. Und dies wird in vielen Bereichen auch umfassend getan – sowohl im Westen als auch aus den Ländern des sogenannten Globalen Südens, inklusive Afrikas, heraus. Dennoch sind positive Effekte von Entwicklungspolitik, insbesondere in der humanitären Hilfe, nicht wegzudiskutieren. Und hier ist es auch ein Faktum, dass mehr als 90 Prozent der globalen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit aus westlichen Staaten kommen. Diese Mittel tragen massiv dazu bei, die Lebensumstände von Menschen in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas zu verbessern (wie sich hier langfristig die aktuell zu beobachtende Zerschlagung von USAID durch die Trump Administration auswirkt, bleibt abzuwarten). Russland und China, die sich gerne als die Verteidiger armer Länder geben, tragen zum globalen ODA-Aufkommen (Official Development Assistance ist eine Messgröße öffentlicher Entwicklungsleistungen) von mehr als 220 Milliarden US-Dollar pro Jahr nur einen Bruchteil bei – im Falle Chinas sind das geschätzt ca. zehn bis zwölf Milliarden US-Dollar pro Jahr, im Falle Russlands sogar lediglich circa eine Milliarde US-Dollar pro Jahr.[ii]

Und wenn hier die Bereitstellung von ODA-Mitteln in den Kontext der Postkolonialismusdebatte gestellt wird, dann geht es ebenfalls nicht darum, die westliche Entwicklungshilfe gegen die Sünden der kolonialen Vergangenheit aufzuwiegen. Aber diese Unterstützung sollte auch nicht komplett außen vorgelassen werden, wenn man über Strategien sprechen möchte, wie sich Entwicklungsdefizite in Ländern des sogenannten Globalen Südens überwinden lassen. Letztendlich sollte es im Kontext von Außenpolitik-Formulierung ja darum gehen, dass die Beschäftigung mit der Vergangenheit auch mit einer in die Zukunft gerichteten Perspektive mit positiven Gestaltungsmöglichkeiten verbunden wird.

 

3. Unsere Partner in Afrika sind weniger an „selbstbezogener Vergangenheitsbewältigung“ interessiert als vielmehr an größerer Unterstützung bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen.

Auch in Afrika haben die meisten Regierungen den Wunsch, die Lebensverhältnisse ihrer Bevölkerung zu verbessern. Dabei versprechen sie sich insbesondere im Austausch mit westlichen Ländern Hilfe und Unterstützung, nicht ausschließlich im Sinne von Entwicklungszusammenarbeit, sondern auch im Sinne von Investitionen und Handel. Gegenüber Nigeria und Tansania hat die Ampelregierung diesen Zusammenhang im Kontext einer versuchten Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte nicht genutzt.

Außenministerin Annalena Baerbock und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Claudia Roth bei der Übergabe von zwanzig Benin-Objekten. Abuja, Nigeria, 20. Dezember 2022. picture alliance/dpa | Annette Riedl
Außenministerin Annalena Baerbock und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Claudia Roth bei der Übergabe von zwanzig Benin-Objekten. Abuja, Nigeria, 20. Dezember 2022.

Als Bundesaußenministerin Annalena Baerbock Ende 2022 nach Nigeria reiste, um im Rahmen des Restitutionsprozesses einen Teil der Benin-Bronzen zurückzugeben, wurde sie von einer großen Delegation mit circa 90 Teilnehmern begleitet. Interessanterweise haben nigerianische Partner der Konrad-Adenauer-Stiftung sich zwar durchaus positiv über die Rückgabe der Bronzen geäußert. Gleichzeitig zeigten sie sich jedoch sehr verwundert darüber, dass trotz der Vielzahl an Mitreisenden darunter kein einziger Vertreter der deutschen Wirtschaft war. Die gesamte Veranstaltung war damit in ihrer selbstbezogenen Vergangenheitsbewältigung rückwärtsgewandt und hatte keinerlei Bezug zur Bewältigung von aktuellen Herausforderungen in Nigeria. Dies wird von unseren dortigen Partnern nicht verstanden. Der Wunsch – gerade an eine deutsche Bundesregierung – ist es, dass im Erinnern an Vergangenes, auch Zukunftsthemen adressiert werden. Diese Chance wurde beim Besuch der Außenministerin in Nigeria verpasst.

Mit Blick auf Tansania lässt sich feststellen, dass das Thema koloniale Vergangenheit dort im öffentlichen Diskurs nur eine eher untergeordnete Rolle spielt(e). Ein hochrangiger Oppositionspolitiker aus Tansania sagte mir sogar, dass die Einwohner von Songea, wo das Maji-Maji-Museum errichtet wurde, sehr stolz auf die deutsche Vergangenheit seien. Es habe dort keinerlei großangelegte Bewegung gegeben, die eine Entschuldigung Deutschlands für die Unterdrückung während der Kolonialzeit verlangt hätte. Das Thema Entschuldigung wurde vielmehr von Vertretern der Ampel-Regierung nach Tansania hineingetragen, manchmal sogar auf die Gefahr hin, tansanische Behörden zu verstimmen. So musste Staatsministerin Keul einen geplanten Besuch bei Nachfahren des Maji-Maji-Aufstandes auf Druck der tansanischen Behörden kurzfristig absagen. Wie es ein anderer Beobachter formulierte: Ohne deutsches Zutun hätte es keine „fehlgeleitete Kolonialismusdebatte“ in Tansania gegeben. Und ein früherer hochrangiger Vertreter des Auswärtigen Amtes drückte seine Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik des Auswärtigen Amtes so aus, dass es eine verrückte Idee gewesen sei, das Modell des namibisch-deutschen Versöhnungsprozess auf Tansania übertragen zu wollen; die Voraussetzungen in beiden Ländern seien einfach nicht vergleichbar.
 

Fazit

Die Kolonialismus-Debatte in Deutschland findet nicht im luftleeren Raum statt. Sie hat Einfluss auf die Außenpolitik. Gerade in einer Phase, in der die Geopolitik mit Vehemenz auf die internationale Agenda zurückgekehrt ist, kann man sich keine Naivität leisten. Im außenpolitischen Ringen wird diese Debatte schon immer (und nun massiv) auch von anti-westlichen Kräften genutzt. Deren Interesse ist es nicht, „Gerechtigkeit“ für erfahrenes Leid herzustellen; das Ziel dieser Kräfte liegt darin, den Westen zu diskreditieren und damit zu schwächen. Unsere Außenpolitik sollte darum bemüht sein, das Ansehen Deutschlands in der Welt zu stärken und unsere Interessen zu wahren. Dazu sollte sicherlich auch gehören, dass wir uns für begangenes Unrecht entschuldigen und um Vergebung bitten. Wir sollten dabei aber darauf achten, dass wir nicht in selbstbezogene Vergangenheitsbewältigung verfallen und in einem falsch verstandenen Wunsch nach Wiedergutmachung, Wunden aufreißen und außenpolitischen Schaden anrichten, der dann nur noch schwer einzufangen ist.

 

Dr. Stefan Friedrich ist Politikwissenschaftler und Sinologe. Er leitet seit 2018 die Abteilung Afrika südlich der Sahara und war zuvor Gründungsdirektor von zwei Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in New York und Shanghai. Darüber hinaus war er Leiter der Stiftungsabteilungen Politikdialog und Analyse sowie Asien und Pazifik.
 

Literatur

[i] Prof. Joseph Agbakoba, „The Daily Query“ (Nigeria) vom 7.10.2024
(https://dailyquery.com.ng/the-neo-black-challenge-must-blacks-be-ruled-by-others-in-order-to-prosper/)

[ii] Olufemi Taiwo verurteilt in seinem Buch „Against Decolonisation“ die ‚Obsession‘, alles Negative in Afrika auf westliche Einflüsse zurückzuführen. Vgl. Kacem El Ghazzali, „«Afrika braucht keine Dekolonisierungsdiskurse», sagt der in Nigeria geborene Professor Olúfẹmi Táíwò“, in: NZZ, 24.07.2024 (https://www.nzz.ch/feuilleton/afrika-braucht-keine-dekolonisierungsdiskurse-sagt-der-in-nigeria-geborene-professor-olufmi-taiwo-ld.1840758)

[iii] Ampel-Koalitionsvertrag, S. 100 (https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/koalitionsvertrag-2021-1990800).

[iv] Gilbert Germain, Afrikas Schulden – Mythos und Wahrheit, in: Le Monde diplomatique, 13.7.2023, (https://monde-diplomatique.de/artikel/!5944348?)

[v] Zur globalen Entwicklungshilfe: Martin Walter, „Entwicklungshilfe legte im Jahr 2023 weiter zu“ (2.5.2024), https://www.gtai.de/de/trade/entwicklungslaender/wirtschaftsumfeld/entwicklungshilfe-legte-im-jahr-2023-weiter-zu--1758910; zu China: Da China keine vergleichbaren Angaben entsprechend der DAC Kriterien macht und in den entsprechenden Statistiken nicht auftaucht, ist man hier auf Schätzungen angewiesen; zu Russland: Yury K. Zaytsev, Russia’s Approach to Official Development Assistance and Its Contribution to the SDGs, in: Cooperation for Achieving the 2030 Agenda. Palgrave Macmillan, 2020, S. 475–498 (https://rdcu.be/d8Y67)

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