So haben wir es als Kinder gelernt, und nein, das ist nicht veraltet, sondern sollte uns immer Ziel sein: dass wir alle miteinander auskommen, unabhängig von Identitätsmerkmalen, ohne so zu tun, als gäbe es keine Unterschiede. Wir Menschen sind nun einmal nicht alle gleich, aber wir sollten uns darum bemühen, dass alle die gleichen Chancen haben im Leben. Dass wir einander respektieren. Dass wir nicht nebeneinander, sondern miteinander leben. Und dass die Freiheit darin besteht, dass man alles tun kann, was einem anderen nicht schadet; dass das vom Dichter Matthias Claudius ist und dass der Philosoph Immanuel Kant es so ähnlich formuliert hatte, erfuhren wir, wenn überhaupt, erst viel später.
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Dass die Welt diesem Ideal nicht entspricht, habe ich natürlich früh zu spüren bekommen. In dem Dorf Hollern-Twielenfleth war ich, so weit ich mich erinnern kann, das einzige Kind mit dunklerer Hautfarbe. Hin und wieder, wenn wir Kinder uns stritten, bekam ich deswegen einen Spruch zu hören. „Du bist braun wie Scheiße!“, warf mir mal ein Junge an den Kopf. Das tat weh. Aber ich nahm es mir nicht allzu sehr zu Herzen, weil ich mir einredete: Jeder, jede hat sein, ihr Päckchen zu tragen, ich genauso wie der etwas dickere Freund, der Typ mit den abstehenden Ohren, der mit den vorstehenden Zähnen, das Mädchen mit den Sommersprossen und die Rothaarige.
Erst als Teenager, Anfang der Neunzigerjahre, bekam ich mit, dass Menschen wie mir eine echte Gefahr drohte: nämlich als ich in den Nachrichten sah, dass Menschen durch Straßen gejagt und verprügelt wurden, dass Extremisten Flüchtlingsheime mit Brandsätzen bewarfen und Häuser anzündeten und Menschen ermordeten. Nur weil sie etikettiert waren: „fremd“; „Ausländer“; „Gastarbeiter“; „Türke“; „Muslime“.
Die Gewalt flaute ab Mitte der 1990er-Jahre ab, aber ich lernte, dass ein bestimmtes identitätspolitisches Denken in Teilen der Gesellschaft vorherrscht, das eine Realität schafft, in der ein Maximilian eher den Mietvertrag erhält als ein Mohammed, in der es eine Anna trotz gleicher Qualifikationen leichter hat als eine Ayshe, den Job zu bekommen, und in der man mit Migrationsgeschichte, ganz allgemein, bei Erfolgen gerne Deutscher sein darf, „einer von uns“, bei Misserfolgen oder gar Fehlern aber „der Ausländer“ ist.
Es ist ein Denken, das in seiner extremsten Ausprägung ein totalitäres Weltbild formt, das bis heute in manchen – hoffentlich nur wenigen -– Köpfen vorherrscht: das einer „überlegenen Rasse“, von der Notwendigkeit der „Reinheit der Rassen“, von der „Gefahr der Überfremdung“ und des „Bevölkerungsaustauschs“, verbreitet von Identitären, White Supremacists, Neonazis, nicht nur in Deutschland, sondern weit darüber hinaus. Dass dieses Weltbild in Deutschland auch nach dem Rückgang der Gewalt Mitte der 1990er-Jahre nie verschwunden ist, sieht man am jahrelangen unentdeckten Treiben des Terrornetzwerks „Nationalsozialistischer Untergrund“, an Anschlägen auf jüdische Einrichtungen, an Menschenjagden durch Innenstädte, an wieder brennenden Unterkünften von Geflüchteten, an den Wahlergebnissen von Rechtsextremisten.
Ich bin überzeugt – oder hoffe es jedenfalls –, dass die breite Mehrheit gegen all dies wirken möchte. Dass eine Mitte der Gesellschaft gegen Benachteiligung ist und erst recht gegen Gewalt. Deshalb halte ich es für richtig und wichtig, dass wir über solche Dinge diskutieren. Dass wir über Rassismus reden und Identität thematisieren. Wenn wir so tun, als gäbe es diese Probleme nicht, können wir sie auch nicht angehen.
Mein Eindruck ist, dass sich manches in dieser Hinsicht verbessert hat in Deutschland. Dass wir mehr darüber reden, dass wir mehr miteinander reden und dass, vor allem, endlich auch die Betroffenen mehr mitreden, mitbestimmen, mitgestalten. Und dass sie Gehör finden.
Mein Eindruck ist aber auch, dass manche, um ein Sprachbild zu bemühen, zunehmend übers Ziel hinausschießen. Oder, noch ein Bild, das Kind mit dem Bade auskippen. Es werden Strategien gewählt, die sich zwar gegen rechtsextreme Identitätspolitik richten, sich aber selbst einer – linken – Identitätspolitik bedienen. Diskriminierung wird mit Diskriminierung bekämpft.
Nun ist es gewiss geboten, Extremisten auszugrenzen, doch immer häufiger trifft es Menschen, die weit davon entfernt sind, extremistisch zu sein. Es werden Wege beschritten, die nicht das Ziel haben, ein gutes Miteinander zu schaffen, sondern neue Gräben auszuheben, aber nicht in Abgrenzung zu Extremisten, sondern auch zu Menschen, die in ihrem Engagement gegen menschenverachtende Ideologien durchaus auf derselben Seite stehen, aber es hier und da gewagt haben, zu widersprechen, eigene Wege zu beschreiten oder ein falsches Wort wählen. Ohne beide Lager und die Gefahren, die von ihnen ausgehen, gleichsetzen zu wollen, gilt hier wie dort: „Wenn du nicht bist wie wir, wenn du nicht denkst wie wir, wenn du nicht sprichst wie wir, dann bist du keiner von uns! Dann gehörst du ausgegrenzt und geächtet!“
Es gab zuletzt Dutzende solcher Debatten, die das deutlich machen.
Vor einiger Zeit las ich an einer Schule aus meinem Buch Post von Karlheinz. Wütende Mails von richtigen Deutschen – und was ich ihnen antworte und sprach über Rassismus. Sechshundert Schülerinnen und Schüler, volle Aula, aufmerksame Stimmung. Dabei gebrauchte ich die Formulierung „N-Wort“ – bis sich ein 13-Jähriger zögerlich meldete und zu fragen traute: „Entschuldigen Sie, was meinen Sie eigentlich mit ‚N-Wort‘?“ Da stand ich nun. Was sollte ich tun? Ich fragte in die Runde, wer nicht wisse, was damit gemeint sei. Etwa ein Drittel aller Schülerinnen und Schüler meldete sich.
Also sprach ich es aus – und ordnete es ein. Ich war ja eh schon dabei. Ich erklärte, dass das ein Wort ist, mit dem Menschen lange Zeit beschimpft wurden. Es ist ein abwertendes Wort. In Deutschland wurde es über Jahrzehnte achtlos verwendet. Ich selbst bin ein Kind der 1980er-Jahre, groß geworden in Norddeutschland. Wir haben damals nicht „Schokokuss“ oder „Schaumkuss“ gesagt. Heute wissen wir es besser. Dass es ein rassistisches, menschenverachtendes Wort ist, das schon immer Menschen verletzt hat und ja auch bewusst dazu benutzt wurde, Menschen zu verletzen.
Aber jemanden fertig zu machen, als Rassisten zu bezeichnen, der es einfach nicht besser weiß, dem es herausrutscht oder der es ausspricht oder zitiert, wenn es gerade Thema ist, halte ich für absurd. Eine Politikerin erklärte mir, ich hätte in der Schule ja auch sagen können: „Feger, nur mit N.“ Ja, das stimmt. Damit hätte ich das Wort faktisch nicht ausgesprochen. Kann man so machen. Meine Erfahrung ist nur, dass man ein Wort erst recht mystifiziert und andere dazu bringt, es zu Zwecken der Provokation zu benutzen, wenn man schon das reine Aussprechen zu einem bösen Akt erklärt. Ich bin überzeugt, dass man so eher Unverständnis und die gegenteilige Wirkung erzielt.
Wir diskutieren inzwischen allen Ernstes, ob Kinder sich noch als „Indianer“ verkleiden sollten – und ob „Indianer“ nicht ein diskriminierendes Wort sei, weil es sich um eine Zuschreibung der gewalttätigen, weißen Eroberer handele. „Native American“ sei die richtige Bezeichnung, fordern manche – als ob „American“ nicht auch eine Erfindung der Eroberer wäre. Und als ob irgendein „Native“ beleidigt wäre, weil Kinder sich beim Fasching in Bielefeld oder Buxtehude als „Indianer“ verkleiden. Eine Berliner Grünen-Politikerin wurde fertiggemacht, weil sie gesagt hatte, als Mädchen sei es ihr Traum gewesen, „Indianerhäuptling“ zu werden. Sie musste allen Ernstes öffentlich um Entschuldigung bitten. Ich wundere mich, dass denen, die das skandalisieren, nicht auffällt, welch ein Hohn das ist für die Opfer von Eroberung und Vertreibung und Gewalt. Als ob diese Verkleidungsdebatte ein Ersatz wäre für die tatsächlich dringend notwendige Aufarbeitung der blutigen und unterdrückerischen Geschichte.
Da wurde eine fertige Literaturübersetzung doch nicht veröffentlicht, weil der Übersetzer nicht, wie die Autorin, eine junge schwarze Frau war. Da wurde eine Musikerin ausgeladen, weil sie als weiße Frau Rastalocken trug. Da werden Leute als rückständig hingestellt, weil sie nicht gendern. Heterosexuelle Schauspieler sollen ja nicht Homosexuelle darstellen, Ballett ist als „Bodyshaming“ zu verurteilen, Mozart und Beethoven sollte man ebenso von den Plänen streichen wie Goethe und Schiller, „Pippi Langstrumpf“ und „Jim Knopf“ gehören nach Ansicht mancher aus den Bücherregalen verbannt, „Winnetou“ und sowieso Karl May gelten als höchst problematisch. Der britische Starkoch Jamie Oliver wurde kritisiert, weil er ein jamaikanisches Gericht kochte, Miley Cyrus beschimpft, weil sie es gewagt hatte zu „twerken“, also einen Tanzstil zu verwenden, der nach Meinung der Kritiker schwarzen Frauen in Hiphop-Videos vorbehalten sei. Inspiration gilt nicht, es ist gleich „kulturelle Aneignung“.
Und wer all dem auch nur vorsichtig widerspricht, ist kein „ally“ mehr – kein Verbündeter.
Ich bekomme es selbst zu spüren. Weil ich mal geschrieben habe, dass ich mich selbst nicht „PoC“ (Person of Color oder People of Color) oder „BIPoC“ (Black, Indigenous, and other People of Color) nenne, auch wenn ich nichts gegen diese Bezeichnungen habe; weil ich mal Bundeswehroffizier war und darüber schreibe; weil ich mit einer weißen (!) Frau verheiratet (!) bin. Das alles mag wie Auswüchse einer Bewegung mit ansonsten vernünftigen Zielen klingen, aber dann lese ich in einem Buch einer anerkannten und von Unternehmen viel gebuchten „Antirassismus-Trainerin“, dass es „kulturelle Aneignung“ sei, wenn weiße Menschen sich bräunten; dass es „Safe Spaces“, also Schutzräume für „PoC“ geben müsse, zu denen Weiße keinen Zutritt haben sollten; dass Weiße per se rassistisch seien und das einsehen sollten, und wenn sie es nicht täten, bräuchten sie eben noch mehr „Antirassismus-Training“.
Meine Frau kann ich also zu Hause lassen, und sie soll bloß nicht in die Sonne gehen!
Tatsächlich ist es wichtig, über Strukturen zu reden, die Menschen nach identitätspolitischen Kriterien begünstigen und andere benachteiligen; es ist notwendig, über Alltagsrassismus zu sprechen; aber all das wird ins Lächerliche gezogen und geradezu unmöglich gemacht durch postlinkes Spießertum, durch Identitätsprediger, durch groteske Forderungen und aberwitzige Theorien.
Es geht kaum mehr darum, Diskriminierung, Rassismus, Menschenverachtung entgegenzuwirken und ein besseres, zugewandtes Miteinander zu schaffen, sondern um Deutungshoheit. Dabei werden Scheindebatten geführt von Leuten, die so sehr darum bemüht sind, ja alles richtig zu machen, dass sie nicht merken, dass sie Leute zu Gegnern erklären, die wahrlich nicht das Problem sind, zum großen Teil sogar auf ihrer Seite stehen. Frei nach dem Motto: Die wahren Feinde können wir eh nicht bekämpfen, also schaffen wir uns unsere eigenen!
Identitätspolitik gegen Identitätspolitik, Feuer gegen Feuer! Man identifiziert sich nur noch über die eigene Identität, die eigene Religion, das eigene Geschlecht, die eigene sexuelle Orientierung, die eigene Klassenzugehörigkeit, man muss das alles geradezu vor sich hertragen, Bekenntnis und Schutzschild gleichermaßen – und organisiert sich nur noch unter seinesgleichen und tritt nur noch für die eigenen Rechte ein, darauf lauernd, dass irgendjemand irgendeinen Fehler macht, ein falsches Wort sagt, die falsche Kleidung oder eine falsche Frisur trägt, ein falsches Gericht kocht oder einen falschen Tanz tanzt, um sich anschließend darauf stürzen zu können. Etikettierung als Strategie. Hauptsache, es wird etwas zum Popanz aufgebaut. Es ist grotesk. Das Gegenteil einer diskriminierungsfreien Gesellschaft. Und das in Zeiten, in denen wir wirklich alle Kräfte sinnvoll bündeln müssten gegen Gefahren, die von extremistischer Identitätspolitik ausgehen.