„War Jesus ein Gentleman?“ Mit dieser Frage überschrieb Der Spiegel 1967 einen Essay von Karl Löwith, den der Philosoph ein Jahr zuvor in dem Sammelband Zur Kritik der christlichen Überlieferung zunächst im englischen Original veröffentlicht hatte. Löwith zeigt darin, dass das „gesellschaftliche Phänomen des christlichen Gentlemans, wie wir es in England und New England beobachten können“, auf zwei unvereinbaren Bestandteilen beruht. Der Spiegel-Redaktion dürfte die Kritik des Christentums gefallen haben, die in dem Text zum Ausdruck kommt, obwohl Löwith sich darauf beschränkt, zwei Ideale zu beschreiben. Dabei muss dem verantwortlichen Redakteur des „Sturmgeschützes der Demokratie“ wohl entgangen sein, dass sich diese Kritik implizit auch gegen die Demokratie richtet. Denn das Ideal des Gentlemans, das Löwith beschreibt, lässt sich nicht ohne Weiteres mit dem Verlangen nach Gleichheit vereinbaren. Es ist nicht christlichen Ursprungs, sondern existierte in verschiedenen Hochkulturen. Die Philosophen des klassischen Griechenlands, denen Löwith besondere Aufmerksamkeit schenkt, sprachen vom kaloskagathos, von dem schönen und guten, in allen Eigenschaften vortrefflichen Mann.
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Die kalokagathia, die Gesamtheit der Eigenschaften des Gentlemans, ist bei niemandem von Geburt an vorhanden, sondern ein Erziehungsziel. In Platons idealem Staat, so Löwith, beginne die Erziehung zum Gentleman bereits im frühkindlichen Alter. Das Ergebnis dieser Erziehung sei ein Mann „von ausgeglichenem Temperament und Charakter“, der alle Extreme meide und immer den Mittelweg gehe, der „gewissenhaft aus Selbstachtung“ sei und penibel auf seine Unabhängigkeit achte, der nicht „seine Nachbarn“, sondern seinesgleichen als seine Nächsten betrachte, einfacheren Menschen aber gleichwohl mit Bescheidenheit begegne. Die Selbstachtung, die den Gentleman auszeichne, erklärt Löwith, sei keine christliche Tugend: „Für den Gentleman ist der Ursprung des Gewissens nicht der Wille Gottes, sondern das Diktat seiner eigenen kultivierten Verfassung. […] Und wenn er unrecht tut, empfindet er nicht Reue gegenüber Gott, sondern er hat das Gefühl, sich selbst erniedrigt zu haben.“
Mit dem Christentum ist das alles aus Löwiths Sicht nicht vereinbar, weil der Gentleman ein „Mann von Welt“ ist, der Christ aber ein Nachfolger Christi. Jesus habe sich nicht gescheut, andere vor den Kopf zu stoßen, und eine radikale, für seine Zeitgenossen schockierende Botschaft verkündet. Jesus war also kein Gentleman. Mehr noch: Für Löwith kann kein Nachfolger Christi, der es ernst meint, ein Gentleman sein. Denn die christlichen Tugenden „der äußersten Demut und Nächstenliebe, der Hoffnung und des Glaubens“ seien „weit entfernt von einem rationalen Mittelweg zwischen den Extremen“.
Ideal des „christlichen Gentlemans“
Einen „christlichen Gentleman“ kann es also eigentlich nicht geben, und doch hat dieses Ideal existiert. Die philosophische Schärfe, die Löwith demonstriert, lässt sich nicht als Maßstab an menschliche Gemeinschaften anlegen. Der „christliche Gentleman“ ist das Produkt der englischen Geschichte, die sich gegen Philosophie und Theologie behauptet. Er ist der personifizierte Kompromiss widerstreitender Klasseninteressen, mit dem die britische Gesellschaft die ursprüngliche Definition des Gentlemans entgrenzte. Die dortige Wahlrechtsreform von 1832 integrierte die Mittelklasse in ein aristokratisches System und regte sie an, nicht nur die Formen des Parlamentarismus zu übernehmen, sondern auch die Vorstellung davon, wer im Parlament sitzen sollte, nämlich die Gentlemen.
In viktorianischer Zeit konnte ein Gentleman immer noch ein großer Landbesitzer sein, ein Angehöriger der Gentry, aber er musste es nicht. Der Gentleman war nun der höchste Ausdruck dessen, was im viktorianischen England als verdiente und damit legitime Führung galt. Die Erziehung löste das Eigentum als entscheidendes Kriterium ab. Dafür, dass man als Gentleman gelten konnte, war kein Landgut mehr erforderlich, wohl aber der Besuch einer Public School wie Harrow oder Eton und der Universität Cambridge oder Oxford. An diesen Stätten lernte der spätere Gentleman die Verhaltensregeln, mit denen er seinen Status deutlich machte. Die Basis dieser Erziehung war das Christentum, oder besser: eine ausgedünnte Form des Protestantismus, oft im Sinne der Broad Church, des mit dem deutschen Kulturprotestantismus vergleichbaren Zweigs der Church of England, für den dogmatische Feinheiten keine Rolle spielten. Philip Mason, hoher Beamter, Buchautor und selbst ein Produkt dieses Erziehungsideals, hat dazu festgestellt, die Identität des viktorianischen Gentlemans, sei ein „subchristlicher Kult“ gewesen, „ein Handlungsleitfaden, der aus der Ethik, nicht aber der Theologie des Christentums abgeleitet war“. Doch gerade in dieser Reduzierung zweier Ideale auf das verträgliche Maß liegt das Geheimnis des Erfolgs des „christlichen Gentlemans“. Verträglich für eine liberale Gesellschaft, deren aristokratische Grundordnung im Begriff war, demokratisch überformt zu werden.
So entwickelte sich eine herrschende Klasse für Großbritannien und das Empire, deren Mitglieder sich mehr durch gemeinsame Werte und Verhaltensweisen als durch die Herkunft auszeichneten. Freilich rekrutierten sie sich nicht aus den unteren Klassen, aber die Söhne reicher Händler und Unternehmer standen nun gleichberechtigt neben den Söhnen landbesitzender Aristokraten. Und selbst ein Spross der mittleren Mittelklasse, etwa ein Arzt, konnte als Gentleman gelten. Das Ideal des „christlichen Gentlemans“ ist das historische Bindeglied zwischen Aristokratie und dem, was man heute „Meritokratie“ nennt. Dieser Begriff ist noch nicht sehr alt. Michael Young, britischer Soziologe und Labour-Politiker, hat ihn erst 1955 in seiner Dissertation geprägt, die er 1958 in den satirischen Roman The Rise of Meritocracy umarbeitete.
Ausgezeichnet durch Tugend und Talente
Die Idee der Meritokratie ist allerdings viel älter und steht nicht im Widerspruch zu derjenigen der Aristokratie. Vielmehr findet sich schon bei Platon und Aristoteles die Vorstellung einer Aristokratie, die auf persönlichen Verdiensten beruht. Bereits vor dem Siegeszug des bürgerlichen Liberalismus im 19. Jahrhundert gewann dieses Konzept im monarchisch-aristokratischen Großbritannien größeren Einfluss. So stellte Edmund Burke 1790 fest, dass „Blut und Namen und Titel“ nicht allein den Anspruch auf politische Macht rechtfertigten. Es gebe „keine andere Qualifikation für das Regieren als Tugend und Weisheit“. Doch während Burke das meritokratische Prinzip noch mit der erblichen Aristokratie zusammendachte, trennte Thomas Jefferson beide voneinander. 1813 schrieb der ehemalige amerikanische Präsident (1801–1809) in einem Brief an seinen Amtsvorgänger John Adams, es gebe eine „natürliche Aristokratie unter den Menschen“, die sich durch „Tugend und Talente“ auszeichne. Diese Aristokratie, die er von einer „künstlichen“, auf Reichtum und Geburt gegründeten Aristokratie unterschied, war aus seiner Sicht „das kostbarste Geschenk der Natur für die Unterrichtung, die Aufgaben und die Regierung der Gesellschaft“.
Es ist jedoch fraglich, ob es ein Regierungssystem, das man eine „Meritokratie“ nennen müsste, überhaupt geben kann. Die Schwierigkeiten beginnen mit der gerechten Auswahl der Regierenden und enden bei der Frage, wie man die Entstehung einer Vetternwirtschaft betreibenden Oligarchie verhindern kann. Statt von „Meritokratie“ sollte man von einem meritokratischen Prinzip sprechen, das eine wichtige Rolle bei der Formierung und kontinuierlichen Erneuerung einer „natürlichen Aristokratie“ spielen kann.
Selbstauflösung politischer Eliten
Tatsächlich hat dieses Prinzip lange Zeit positiven Einfluss in den liberalen Demokratien ausgeübt. Die englischen Public Schools, Oxford, Cambridge, die amerikanischen Ivy League-Universitäten und die französischen Grandes Écoles haben im 19. und 20. Jahrhundert ihren Zweck trotz mancher Versäumnisse erfüllt. In Deutschland war das preußische Beamtentum ein Garant für die Herrschaft des Leistungsprinzips und des Pflichtgedankens. Zudem waren die liberal-demokratischen Gesellschaften von der Überzeugung geprägt, dass Leistung Anerkennung verdiene, dass sie die Grundlage für Karrieren sein sollte. Das galt auch für die Politik, und nicht nur in Gesellschaften, die wie die britische zumindest symbolisch noch vom Ideal des Gentlemans zehrte. Auch die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ der Bundesrepublik Deutschland war noch nicht völlig nivelliert, als Helmut Schelsky diesen Begriff im Jahr 1953 erfand, sondern über weite Strecken in der Lage, Führungspersönlichkeiten hervorzubringen, denen man etwas zutrauen konnte. Das meritokratische Prinzip war zudem die sicherste Grundlage für die Gleichberechtigung der Frau in Staat und Politik.
Mittlerweile ist dieses Prinzip überall in der westlichen Welt unter Druck. Dort, wo die meritokratisch geprägte „natürliche Aristokratie“ noch in Regierungsverantwortung ist, wird sie als „Establishment“ geschmäht. Diese Verächtlichmachung ist zwar nicht immer, aber oft die Folge der Selbstauflösung der politischen Elite. Die innere Abdankung kann zwei Formen annehmen: Entweder ziehen sich die „natürlichen Aristokraten“ aus der Politik zurück und überlassen sie Personen, die sich nicht durch besondere Fähigkeiten und Verdienste auszeichnen, sondern durch die Beherrschung des parteipolitischen Spiels. Politiker ohne Erfahrungen im Arbeitsleben, ohne berufliche oder akademische Abschlüsse waren früher eine Spezialität linker Parteien. Heute findet man sie überall.
Die zweite Form der Abdankung ist weniger offensichtlich, weil sie auf den ersten Blick nicht zu einem Wandel der Elite führt. Was sich ändert, sind die Mechanismen der Rekrutierung. Leistung und Verdienst bleiben die entscheidenden Kriterien, jedoch werden die Bedingungen, sich auszuzeichnen, für alle erschwert, die nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen. Der britische Journalist Adrian Wooldridge spricht in seinem Buch The Aristocracy of Talent von einer „Vermählung von Meritokratie und Plutokratie“.
In Großbritannien zeigt sich diese Tendenz seit den 1980er-Jahren zum Beispiel an der massiven Erhöhung der Gebühren für Public Schools. Diese Gebühren sind zu einem Mittel geworden, Kinder auszuschließen, die früher zur typischen Klientel dieser Schulen gehört haben, etwa der Nachwuchs von Ärzten, Lehrern, Journalisten oder Geistlichen. An ihre Stelle traten die Kinder von Investmentbankern und Unternehmensberatern. Schon vorher hatte die fast vollständige Abschaffung der dem deutschen Gymnasium vergleichbaren Grammar Schools Kindern aus der mittleren und unteren Mittelschicht eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs verbaut.
Nicht Technokraten, sondern weise Menschen
In Deutschland gibt es ähnliche Phänomene, etwa wenn Politiker das Gymnasium als Ort der Förderung von Talenten bekämpfen, aber ihre eigenen Kinder Privatschulen besuchen lassen. Überhaupt hängt der Niedergang des meritokratischen Prinzips eng mit der Zerstörung einstmals wichtiger Institutionen zusammen. Man muss sich nur das Schicksal der amerikanischen Ivy League-Universitäten vor Augen halten, die durch den Siegeszug der New Left und zuletzt der Woke-Kultur von Stätten geistigen Austausches zu Zentralen des linken Aktivismus geworden sind, in denen es möglich ist, eine Karriere auf Plagiaten aufzubauen.
Die Aushöhlung des meritokratischen Prinzips, zu der Quoten jeder Art ihren Teil beitragen, hat in allen westlichen Demokratien schwerwiegende Konsequenzen, vor allem aber dort, wo beide Formen der Abdankung der Elite zusammenkommen. Die Schmähung des oft als „linksliberal“ und abgehoben empfundenen „Establishments“ ist dann unvermeidlich und nicht die Ursache für die Destabilisierung der Demokratie, sondern ihre Folge.
Was kommt nach dem Zusammenbruch der meritokratisch geprägten „natürlichen Aristokratie“? Die Herrschaft der Demagogen, wie sie uns Donald Trump vor Augen geführt hat und vielleicht noch einmal vor Augen führen wird. Das Ergebnis muss kein Cäsarismus sein, wie ihn einst Louis-Napoléon Bonaparte in Frankreich etablierte, nachdem er die alte liberale Elite der Zweiten Republik ausmanövriert hatte. Aber es könnte so kommen.
Wie kehrt man diese Entwicklung um? Nicht durch die „Epistokratie“, die „Herrschaft der Wissenden“, die der libertäre amerikanische Philosoph Jason Brennan als Ersatz für die aus seiner Sicht dysfunktionale Demokratie vorgeschlagen hat. Der politische Einfluss von Experten aus verschiedenen Wissenschaftszweigen dürfe, so Raymond Aron 1969, ein gewisses Maß nicht übersteigen, denn nicht Technokraten sollten die wichtigsten politischen Entscheidungen treffen, sondern „weise Menschen“.
Die Weisheit, von der Aron sprach, war diejenige des kaloskagathos der griechischen Philosophie. Wenn die Demokratie überleben will, muss sie eine meritokratisch geprägte, verantwortliche „natürliche Aristokratie“ kultivieren, die ebenso selbstbewusst wie offen für neue Mitglieder ist. Ohne solch eine „Aristokratie“ im Sinne des kaloskagathos wird die Demokratie es im 21. Jahrhundert schwer haben, falls sie dann überhaupt eine Überlebenschance hat. Trump ist nicht der einzige Demagoge, der die Desillusionierung des Volkes, das Misstrauen gegen das „Establishment“ auszunutzen versteht.
Freilich haben die Gegner der „natürlichen Aristokratie“ mächtige Verbündete. Als Anwälte einer radikal ausbuchstabierten Gleichheit, die die Freiheiten oft geringschätzen, berufen sie sich auf die Aufklärung, die Französische Revolution oder gleich auf das Christentum. Aber obwohl Jesus das Gegenteil eines kaloskagathos war, wollte vielleicht auch er nicht auf die Hilfe der Gentlemen verzichten. Darauf weist der britische Journalist Peregrine Worsthorne in seinem Buch Democracy Needs Aristocracy hin: „Selbst Jesus, in dessen Augen alle Menschen wahrhaft gleich waren, glaubte nicht daran, dass jeder ein Apostel sein könne, sondern erwählte um des Himmels Willen nur eine Aristokratie von zwölf.“
Dieser Text erschien zuerst in Die Politische Meinung, Ausgabe 24/II, Nr. 585, 69. Jahrgang.
Neu erschienen ist vom Autor eine Biographie über Edmund Burke, dem einflussreichsten politischen Denker im Großbritannien des 18. Jahrhunderts. Matthias Oppermann zeichnet Burkes Leben im historischen Kontext seiner Zeit, erklärt vor diesem Hintergrund seine politische Philosophie und geht der Frage nach, welche Lehren sich noch heute aus dem Werk dieses Wegbereiters eines gemäßigten Liberalismus ziehen lassen.