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Essay

Missverständnisse der Geschlechterdebatte

von Dr. Sarah Pines
Geschlecht ist ein auslegbarer Begriff. An ihn koppeln sich kollektive Ängste vor Wandel und Verlust – Verlust der nationalen Identität oder der Hegemonie des Westens, vor dem Aufbrechen traditioneller Familienstrukturen seit der sexuellen Revolution – dies umso mehr vor dem Hintergrund der Radikalisierung von Individualitäten im digitalen Zeitalter. Heute findet die Auslegung des Geschlechtsbegriffs nicht nur im Hinblick auf nicht-heteronormative Sexualitäten, Frauenrechte oder alternative Lebensmodelle statt, sondern zugespitzt auf den Transgender als legitime identitäre Kategorie.

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Übersicht

Die große Fehlinterpretation: Simone de Beauvoir

Geschlecht als weibliche Differenz

Von Joan W. Scotts Genderbegriff zu Judith Butlers „Gender Trouble“

Geschlecht heute: der große Streit

 

Transgender ist das Auseinanderklaffen beziehungsweise die Unvereinbarkeit von biologischem Geschlecht und erfahrener geschlechtlicher Identität, ist also eine innere, intime Realität, die die Gesellschaft akzeptieren und entsprechend danach handeln muss. Stand heute identifizieren sich in den USA etwa 21 Prozent der Generation Z (der zwischen 1997 und 2003 Geborenen) als lesbisch, schwul, bisexuell, oder transgender[1], in Deutschland knapp ein Drittel.[2] Verglichen mit der Babyboomer-Generation stieg mit der Generation Z die Zahl derer, die sich als transgender identifizieren um 20 Prozent.[3] Zudem ergibt eine Statistik des Medizinischen Dienstes Bund, dass sich die Zahl der Anträge auf Kostenübernahme von geschlechtsangleichenden Behandlungen von Transpersonen in den letzten fünf Jahren verdoppelt hat.[4] Die steigenden Zahlen allein sind nicht der Grund für den gegenwärtigen Kampf um das Geschlecht, auch nicht die Frauenquote oder die Gleichberechtigung der Geschlechter insgesamt, sondern die unbeantwortete Frage, wer in westlichen Gesellschaften als „Frau“ oder „Mann“ gelten darf und welche Implikationen eine Ausweitung oder Verengung beider Begriffe für Frauen- und Minderheitenrechte insgesamt hätte.

 

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Beginnen wir, um die Komplexität des Themas Geschlecht und geschlechtliche Identität anzudeuten, mit einem Fragensalat ohne besondere Ordnung. Sind Transfrauen „echte“ Frauen (und Transmänner „echte“ Männer)? Was ist überhaupt eine Frau, was definiert das Verhältnis von Geschlecht, Biologie und Identität; braucht es geschlechtliche Identitäten überhaupt oder ist nicht ohnehin alles egal, die absolute Verflüssigung echter, aufregender als starre Kategorien, ob sie nun „trans“, „cis“, oder „homo“ genannt werden wollen? Erweitert der Begriff „trans“ wirklich die Homosexuellenbewegung, bedeutet er die notwendige nächste „Welle“ des Feminismus, oder schadet die Debatte um Transsexualität den Zielen beider? Darf der Kampf um das Geschlecht so weit gehen, Kinder im pubertären Entwicklungsstadium, etwa Jungen, die mit Puppen spielen, oder Mädchen mit kurzen Haaren, die Fußball mögen, in die Kategorie „trans“ zu zwängen, sie mit Hormonblockern zu behandeln? Bestärkt man so nicht eher geschlechtliche Stereotype, anstatt sie zu überkommen und richtet zudem unwiderruflichen körperlichen Schaden in jungen Menschen an, die vieles noch gar nicht wissen, nicht wissen können? Gehören Transfrauen in den Frauensport, Transmänner in den Männersport? Ab welchem Punkt mündet die Suche nach geschlechtlicher Identität in Fanatismus? Verbleiben noch die Fragen nach der Frau-an-sich: Worum geht es, wenn die Kategorie „Frau“ auf Formularen oder im öffentlichen Diskurs zunehmend durch den Begriff „menstruierende Person“ ersetzt, wenn im angelsächsischen Raum, von dem die Debatte ja in aller erster Linie ausgeht, „breast-feeding“ zu „chest-feeding“ wird und auf Geburtenstationen nicht mehr „die Mutter von“, sondern „das Elternteil von“ liegt?

Die westlichen Gesellschaften stecken tief im Kulturkampf um das Geschlecht. Dieser Kampf, eher ein ratlos-bissiger Krieg, findet an vielen, miteinander verwobenen Fronten statt. Innerhalb des Feminismus konzentriert er sich auf die Fragen nach der Verortung von Trans-Frauen in der feministischen Bewegung, und ob diese in der Kategorie „Frau“ überhaupt Platz haben. Gleichzeitig wird der Kampf um die Deutungshoheit über das „Geschlecht“ und damit zusammenhängend über die Begriffe „Frau“, „Mann“ und „Identität“ von der politischen Linken und Rechten instrumentalisiert und ideologisch überhöht: Die Linke streitet mit „Radikalfeministinnen“, der Kirche, denen, die an die ödipale Kernfamilie glauben; die konservative Rechte streitet mit „Progressiven“ beziehungsweise „Gender-Ideologen“. Ferner tobt ein Streit zwischen TransaktivistInnen und dem Konservativismus, zwischen TransaktivistInnen und Feministinnen der alten Schule; innerhalb der Transgemeinde als solche wird gestritten, denn auch dort gibt es konservative, progressive und „neutrale“ Flügel, letztlich zanken sich lesbische Frauen mit TransaktivistInnen, und der Feminismus als solcher ist ohnehin entzweit.

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Die große Fehlinterpretation: Simone de Beauvoir

Der Disput um „Identität“ und „Geschlecht“ begann strenggenommen bereits 1949, als mit Simone de Beauvoirs „Le Deuxième Sexe“ das Großwerk des Feminismus erschien. Darin findet sich der berühmte Satz „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“ („On ne naît pas femme: on le devient“)[5], der seit längerem schon inflationär kursiert. Auf Modepostern oder in Kosmetikwerbungen schwingt er mit, auf Dates ist er Subtext, in der gegenwärtigen Debatte spielt er die herausragende Rolle des Totschlagarguments: Jeder kann Frau werden, wer will.

Ein großes Missverständnis, denn de Beauvoir war, was den Geschlechterbegriff anging, konservativ, führte die existentialistische Philosophie ihres Lebenspartners Jean-Paul Sartre fort, ohne einen neuen Feminismus begründen zu wollen.[6] Bereits zu Beginn ihres Buches schreibt sie, den Feminismus beiseitezulassen, dort würde sich nur gestritten: „La querelle du féminisme a fait couler assez d’encre, a présent elle est a peu près close. N’en parlons plus“[7] (In der Debatte über den Feminismus ist genug Tinte geflossen. Jetzt ist sie nahezu abgeschlossen: reden wir nicht mehr darüber.[8])

Der Satz „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“, ist ohne Sartres ebenso berühmten Satz „Die Existenz geht der Essenz voraus“ („L’existence précède l’essence“), aus dem Buch „Das Sein und das Nichts“ (1943) nicht zu denken. Sartre vertrat den Gedanken apriorischer Willensfreiheit, aus dieser heraus wir Handlungen wählen, die uns zu dem machen, was wir sind. Kein Gott, kein Unterbewusstes und keine Produktionsverhältnisse bestimmen unser Leben, sondern unser Wille: wir werden über die Summe unserer „Entscheidungen“ zur „Essenz“ unserer selbst, werden, was wir ausgesucht haben zu sein.

Unsere Biologie allerdings bleibt. „Das andere Geschlecht“ ist ein Buch für Frauen, nichts darin verneint die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau. De Beauvoir schreibt: „Die Geschlechtertrennung ist (...) eine biologische Gegebenheit“. Zwischen der „Natur“ der Frau, ihrer Anatomie (die sich von der des Mannes unterscheidet), und ihrem Willen herrscht im Kontext der Gesellschaft und ihren Anforderungen ein dialektisches Spannungsverhältnis: die Frau wird biologisch als Frau geboren, dann wird sie die Frau, die sie sein möchte (wenn sie es wagt, zu wählen), auch wenn sie Konventionen sprengt. „Emanzipation“ bedeutet für de Beauvoir demnach das Prinzip der freien Wahl, gesellschaftlichen Vorstellungen von Weiblichkeit wie „Jungfrau“, „verheiratete Frau“, „Mutter“, „Prostituierte“ zu entsprechen oder sie zu durchbrechen. Dem Mann kann sie sich annähern, aber nicht, um „Mann“ zu werden, sondern – hier greift das sozialistische Gedankengut ein, das sie vertrat –, um wie der Mann zu arbeiten, finanziell unabhängig zu werden. Als gleichwertige Kameradin des Mannes.

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Geschlecht als weibliche Differenz

Von de Beauvoir führt eine direkte Linie zu dem Feminismus der sechziger und frühen siebziger Jahre, auch Feminismus der zweiten Welle genannt, sowie den frühen akademischen Fachgebieten „Frauenstudien“ oder „Frauengeschichte“, in denen es, direkt oder indirekt von de Beauvoirs Beschreibungen weiblicher Erfahrungswelten ausgehend, um die Sozialgeschichte von Frauen ging und die machtpolitischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, insbesondere in westlichen Gesellschaften. Bis in die frühen achtziger Jahre inkorporierten amerikanische feministische Kulturwissenschaftlerinnen zudem den französischen Dekonstruktivismus, der in den sechziger und siebziger Jahren in den USA als „French Theory“ aufgeschlagen war, sie lasen Jacques Derrida, Roland Barthes und Jacques Lacan, übersetzten die Werke von Julia Kristeva, Luce Irigary und Hélène Cixous. In ihren Arbeiten ging es um Frauenkultur und „anderes“, weibliches Schreiben innerhalb patriarchaler Machtverhältnisse, gemäß Cixous Prämisse: „Every theory of culture, every theory of society, the whole conglomeration of symbolic systems… it is all ordered around hierarchical oppositions that come back to the man/woman opposition.“[9] Neben der Diagnose „weibliche Differenz“ diente der Begriff „Gender“ der Präzisierung von sozialen Geschlechterrollen und deren produktivem Nutzen, ohne die weibliche Biologie zu hinterfragen. Mit der Kritik an der Unterwerfung der Frau unter geschlechtliche Stereotypen kam jedoch die Einsicht: Geschlechterrollen und Geschlechterdifferenz – und damit einhergehend das, was es bedeutet „Frau“ zu sein – sind kompliziert, lassen sich nicht so einfach abschaffen, weil sie Familienstrukturen, Arbeitsmärkte und Politik durchdringen, unsere Träume und (Sexual-)Fantasien.[10] Kurz, der gesamte Machtapparat, der die Gesellschaft ist, ist vergeschlechtlicht.

Mit dem Export des französischen Dekonstruktivismus an amerikanische Universitäten wurde der vorgebliche Feminismus de Beauvoirs radikalisiert, in sein Gegenteil verkehrt und verlor den existentialistischen sowie den biologischen Aspekt. Für den Dekonstruktivismus gab es kein „Außerhalb“ eines Textes, Zugang zur Wahrheit verschaffte allein die Sprache beziehungsweise das gesprochene Wort, die Sprache der Gesellschaft und ihrer Institutionen hingegen – Gerichte, Kirche, traditionelle Familie, usw. – war starr und reduktiv. Die Idee des Dekonstruktivismus war, bestehende Verhältnisse über einen neuen Zugang zur Sprache zu ändern. Denn: Wissen ist komplex und vielschichtig, verschiebt sich ständig, je nachdem wer was wo wie sagt und wer dabei mit welcher Attitüde zuhört. In der Sprache, so forderten Dekonstruktivisten, sollte es daher keine binären Entweder-oder mehr geben, nur noch Sowohl-als-auch. Der Ursprung einer Entität, eines Wortes, Objektes oder Körpers dürfte nicht auf dem Ausschluss einer anderen beruhen: Tag oder Nacht, Schnee oder Sonne, Gott oder Satan. Mit Hilfe von Konzepten wie Gille Deleuzes „Frau-werden“[11] wurde der Weg von Mann oder Frau zu Mann und Frau, zu beidem, zu allem geebnet.

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Von Joan W. Scotts Genderbegriff zu Judith Butlers „Gender Trouble“

Beeinflusst vom Dekonstruktivismus und Michel Foucaults Diskursanalyse veröffentlichte die Historikerin Joan Wallach Scott, einst Leiterin des Institute of Advanced Study in Princeton, 1986 den wegweisenden Essay „Gender: A useful category of historical analysis“.[12] „Gender“, so Scott, beziehe sich zwar auf die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau, bezeichne ferner geschlechtliche Differenz und stereotype Geschlechterrollen, sei aber in sich ein machtpolitischer Begriff, dessen Bedeutung sich permanent ändere und verschiebe, historischem Wandel unterliege.[13]

Scott forderte, die Frage nach dem Geschlecht nicht länger den Frauenstudien vorzubehalten, dort wirke die Forschung vorhersehbar und eintönig, versage außerdem im Hinblick auf subjektive Formen von Weiblichkeit[14]. Vielmehr solle der Geltungsbereich von „Gender“ auf andere Studienfächer ausgeweitet werden, wie die Soziologie, Rassismusforschung und allgemeine Geschlechterstudien, die auch den Mann und verschiedene Formen der Männlichkeit ins Visier nahmen, sowie die männlichen Projektionen, die das weibliche „Geschlecht“ ja immerhin mitkonstruierten.

Rufen wir uns de Beauvoirs „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“ in Erinnerung. Auf diesen Satz, sowie auf Scotts Aussage von der Subjektivität des Frauseins gründete die heute in Berkeley lehrende Philosophin Judith Butler (unter anderem) ihre berühmte Gendertheorie, die, missinterpretiert und verzerrt, zur Grundlage der heutigen Transgenderbewegung wurde. Was macht in westlichen Gesellschaften Frauen zu Frauen und Männer zu Männern: das Geschlecht als soziales Konstrukt oder das Geschlecht als biologische Realität? Seit dem Erscheinen von Butlers Buch „Gender Trouble“ (1990) veranlasst diese Frage Streit: „Konservative Feministinnen“ kritisieren „linke Genderfanatiker“ für die Leugnung körperlicher Realitäten von Mann und Frau und die Reduktion geschlechtlicher Unterschiede auf den Körper als nicht spezifizierte Fläche, auf die allein die Gesellschaft Geschlechterregeln krakele.

Dagegen der Vorwurf der Gendertheorie an „Radikalfeministinnen“: Fortpflanzungsorgane, Hormone oder genetische Veranlagung reichten nicht aus, um daraus verschiedene Begabungen, Eigenschaften und Tätigkeitsbereiche von Mann und Frau abzuleiten (platt formuliert: prädestinieren Eierstöcke eine Frau zur Hausfrau und Emotionalität, Hoden einen Mann zur Arbeit und Rationalität?). Doch Butler ging es nicht um die Leugnung körperlicher Unterschiede von Mann und Frau, sondern um die interessantere Frage: warum werden bestimmte körperliche Gegebenheiten von Mann und Frau so lange beständig wiederholt, besprochen, dargestellt (Männer weinen nicht, sind bessere Handwerker, Frauen neigen zur Hysterie, können schlecht Autofahren, etc.), andere hingegen nicht, bis manche zur Norm wurden – in westlichen Gesellschaften ist der weiße Mittelklassemann mit gesichertem sozialem, kulturellem und ökologischem Kapital weiterhin Männlichkeitsmaßstab und inzwischen Hassobjekt sämtlicher Geschlechterbewegungen –, andere dagegen als „abweichend“ oder „unnatürlich“ gelten.

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Geschlecht heute: der große Streit

Sämtliche Frauenbewegungen, begonnen mit den Suffragetten der 1910er Jahre, hin zur zweiten und dritten (#MeToo) Welle des Feminismus brachten neue Frauentypen jenseits des heterosexuellen Hausfrauenstereotyps hervor: die arbeitende Frau, die Femme Fatale, den junge Männer abschleppenden Cougar, die Mannsfrau, die Akademikerin, Lesbe, Obdachlose, Kinderlose und so fort. Es schien so, wie de Beauvoir und Butler es meinten: Frausein ist komplexe Verschränkung gesellschaftlicher aber eben auch biologischer Gegebenheiten.  

Anstatt aber Butlers wichtige und interessante Fragen nach der Verschränkung geschlechtlicher Narrative zu beantworten, stürzten sich Gendertheorie und Queer Studies seit den 90er Jahren und in nonchalanter Fehldeutung allein auf einen Aspekt von Butlers Aussage, untermauert mit der missinterpretierten de Beauvoir. Zugespitzt formuliert: Geschlechtliche Identitäten scheinen beliebig wie die Farbe der Strümpfe, der Gedanke der freien Wahl wird so weit auf die Spitze getrieben, dass die Existenz – die Biologie – der Essenz nicht länger vorausgeht. Der Mensch, so die (immer noch poststrukturalistische) Logik, hat keine auf die Kategorien „Mann“ oder „Frau“ reduzierbare Geschichte. Natur und Biologie sind Fiktionen, binär verankerte sexuelle Identitäten gehören abgeschafft, denn Geschlechter sind fluide, jeder und jede ist immer irgendwie alles.[15] Kurz: Geschlecht ist reine Essenz schlechthin, deren Psychologie und Verhaltensmuster jeder Identität vorausgehen – eine dem Feminismus genau entgegengesetzte Ansicht, für den „Geschlecht“ immer auch Grundlage patriarchaler Systeme der Unterdrückung der Frau ist und letztlich männlich-chauvinistische Projektion.[16]

Heute stehen sich zwei Fronten besonders verhärtet gegenüber: Der sogenannte „trans-exclusionary“ Feminismus und der sogenannte Transaktivismus (auch „Gender-Ideologie“ genannt), die nahezu gleichzusetzen sind mit der eher rechtskonservativen und der progressiv-linken Seite des politischen Spektrums. Letztere affirmieren die Annahme, dass die Wahl, Frau, Mann, nicht-binär oder trans zu sein, allein dem Selbstverständnis entspringt. Der Gedanke: Sexuelle Fluidität, Transgender, nicht-binäre Erfahrungen sind vielfältig und intrinsischer Teil der menschlichen Erfahrung, wurden viel zu lange von heteronormativen Ideologien unterdrückt. Aufgabe der Gesellschaft und des Erziehungswesens ist es, all diese Identitäten zu unterstützen und zu fördern, nicht zuletzt zum Wohle der jungen Menschen, in denen sich geschlechtliche Vielfalt schon früh manifestiert.[17] Die Frage, ob zum Beispiel eine Transfrau mit männlichen körperlichen Gegebenheiten nicht immer auch ein Mann sei, wird damit beantwortet, dass allein die Aussage der jeweiligen Person gelte (in den Worten des Dekonstruktivismus: die Realität findet allein in Sprache statt). Wenn jemand sage, er oder sie sei ein Mann oder eine Frau, dann sei dies grundsätzlich eine wahre Aussage zum eigenen Geschlecht. Die Frage nach dem „wahren“ biologischen Geschlecht hingegen beziehungsweise diese Frage den körperlichen Gegebenheiten nach zu beantworten – beispielsweise habe/hatte ich einen Penis oder nicht – ist grundsätzlich transphob, diskriminierend und gewalttätig.

Am Transaktivismus wird unterschiedliche Kritik geübt. Die Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling oder die Herausgeberin des „Emma“-Magazins Alice Schwarzer kritisieren ihn aus feministischer, Mediziner aus wissenschaftlicher Sicht, sozial oder religiös konservative Menschen aus „werteorientierter“ Sicht. Anderen wiederum ist die Geschlechterangleichung (ob sie nur auf dem Papier stattfindet oder auch körperlich) insbesondere sehr junger Menschen nicht geheuer, sie finden Trans unheimlich, gar bedrohlich.

Am vehementesten tobt der Kampf um das Geschlecht zwischen „Transaktivisten“ und dem sogenannten „Trans-ausschließenden Radikalfeminismus“, der den Transgender zwar anerkennt, nicht aber die Gleichstellung von Transfrauen und Frauen.

Feministinnen, die an der weiblichen Biologie von Transfrauen zweifeln und Bezeichnungen wie „menstruierende Person“ ablehnen, werden als bigotte Faschisten bezeichnet, abschätzig „Terf“ genannt („trans-exclusionary radical feminists“). „Terfs“ insistieren, Transfrauen seien weiterhin Männer, denen der Zutritt zu weiblichen Domänen, wie öffentlichen Toiletten und Umkleiden, Frauensport oder Frauenstrafanstalten untersagt werden müsse, nicht zuletzt aus Sicherheitsgründen. Denn: Penis bleibe Penis, die Frau immer Beute des Mannes, vergewaltigende Transfrauen – und die gäbe es nun mal – seien letztlich vergewaltigende Männer, die bizarrerweise die Kriminalstatistik von Frauen in die Höhe trieben, wenn sie in Frauengefängnissen landeten.

Bereits 1973 kommentierte die Dichterin und Aktivistin Robin Morgan auf einem Kongress für lesbische Frauen an der amerikanischen Westküste den geplanten Auftritt der Trans-Sängerin Beth Elliot mit den Worten: “I will not call a male ‘she’; thirty-two years of suffering in this androcentric society, and of surviving, have earned me the title “woman”; one walk down the street by a male transvestite, five minutes of his being hassled (which he may enjoy), and then he dares, he dares to think he understands our pain? No, in our mothers’ names and in our own, we must not call him sister.”[18] Für die renommierten Feministinnen wie Robin Morgan, Germaine Greer, Sheila Jeffreys, Julie Bindel oder Alice Schwarzer sind Frauen (genau wie Männer) komplexe Gewebe aus sozialen und biologischen Gegebenheiten. „Gender“ (Geschlecht als soziales Konstrukt) und „Sex“ (Geschlecht als biologische Realität) gehören zusammen, die Sozialisierung der Frau ist von ihrer Biologie nicht zu trennen und schafft Erfahrungen, die keine Transfrau je haben kann.

So schrieb die amerikanische Journalistin Elinor Burnett 2015 in der New York Times: “being a woman means having accrued certain experiences, endured certain indignities and relished certain courtesies in a culture that reacted to you as one.”[19] Transfrauen, so Burnett, “haven’t suffered through business meetings with men talking to their breasts or woken up after sex terrified they’d forgotten to take their birth control pills the day before. They haven’t had to cope with the onset of their periods in the middle of a crowded subway, the humiliation of discovering that their male work partners’ checks were far larger than theirs, or the fear of being too weak to ward off rapists.”[20]

Dass Transfrauen Frauen seien, weil sie sich als in Männerkörpern gefangene Frauen fühlten, quasi ein „weibliches Gehirn“ hätten, wie die Transfrau Bruce beziehungsweise Caitlyn Jenner 2015 in dem weltweit gestreamten Interview mit der ABC-News Journalistin Diane Sawyer erläuterte[21], wird von trans-ausschließenden Feministinnen vehement abgelehnt. Diese kontern: Immerhin steige die Zahl der „De-transitions“; Menschen bereuen geschlechtsangleichende Operationen und versuchen diese rückgängig zu machen, dies in steigender Zahl.[22] Das zeige, dass Ärzte oder Therapeuten oft genug Chimären aufsäßen und von einem diagnostizierbaren, weiblichen Gehirn nur schwerlich die Rede sein könne.

Nein, Männer seien Männer und nicht nur das: Transfrauen folgten (ähnlich wie Cross-Dresser) ihrem persönlichen sexuellen Fetisch, getrieben von erotischen Wünschen, ja, von „Autogynephilia“ (eine sexuelle Erregung im Mann, ausgelöst von dem Gedanken Frau zu sein)[23] und nicht von echten Identitäten.[24] Das alte Patriarchat mit dem Mann an der Spitze habe die Frau unsichtbar gemacht, mit dem Transaktivismus komme das neue Patriarchat in Frauenkleidern. Robin Morgan schreibt hierzu: „Feminists fighting to free women from male definitions of what a woman is now find themselves assailed by male transgender activism claiming the right to make precisely such a definition. This clash of human rights has produced more heat than light.“ Wenn Transfrauen also forderten als Frauen anerkannt zu werden, gehe es auch doch nur wieder um männliches Privileg. Und Transmänner? Strebten ebenfalls nach männlichem Privileg, mehr nicht.

Interessanterweise kommt Kritik am Transgenderaktivismus auch seitens der Homosexuellen-Gemeinde und trifft sich mit bestimmten Gedanken des trans-ausschließenden Feminismus. In dem vielbeachteten Artikel „Walking the Transgender Movement Away from the Extremists” der Online-Zeitschrift „American Purpose” schreibt der (selbst homosexuelle) Journalist Jonathan Rauch, die Realitäten schwulen und lesbischen Lebens zu etablieren, habe einen harten Kampf erfordert, nun mache die Verflüssigung der Geschlechter dies zunichte: „Telling tomboyish girls or effeminate boys that they should identify as the opposite sex embraces all the hoary gender stereotypes that made generations of gay and lesbian people (and many straight people) miserable. Worse, it can cater to homophobic pressures not to be gay.”[25] Die inzwischen ihres Amtes enthobene britische Philosophieprofessorin und als „Terf“ verunglimpfte Kathleen Stock formuliert es in ihrem neuen Buch ähnlich, inzwischen aber einschränkend: „It seems strange to blame trans women for their attraction to regressive female-associated stereotypes when apparently so many non-trans women are attracted to them, too.”[26]

Nicht nur Rauch, sondern auch der Feminismus äußern die Sorge, dass normale pubertäre Ängste (Unwohlsein über die wachsende Brust, die erste Menstruation) auf die „Tomboy“-Verhalten oft nur eine vorübergehende Gegenwehr ist und Mädchen unnötig und fälschlich von ihrem Frausein entfremde, indem diese von ihrem erzieherischen oder elterlichen Umfeld vorschnell „trans“ oder „nicht-binär“ gelabelt werden.

Dies sei eine Entfremdung, die der Transaktivismus aus Sicht des trans-ausschließenden Feminismus ohnehin schon zu weit getrieben habe. 1986 schrieb die amerikanische Feministin Gloria Steinem, dass Männer, wenn sie könnten, Frauen auch noch die Menstruation wegnähmen.[27] Steinem lag richtig und falsch zugleich. Die Menstruation als ultimatives körperliches Merkmal biologischer Frauen ist so ziemlich das letzte, was diesen – zumindest auf dem Papier – noch bleibt.[28]  Wenn Frauen in westeuropäischen Ländern und den USA zunehmend als „menstruierende Personen“ bezeichnet werden, wenn also die monatliche Blutung das einzige unzweideutige Merkmal ist, was der biologischen Frau noch zugestanden wird, ohne dass sie sich aber exklusiv Frau nennen darf, dann ist die „Frau“ als rein soziale Kategorie zum kulturellen Konstrukt geworden, wie Gadgets in neo-kapitalistischen Gesellschaften: Jeder, der eins will, hat irgendwie ein Recht darauf. Der Mann, der „Frau“ wird, und die biologische Frau, die „menstruierende Person“ wird, sind die absurden Kehrseiten der Dialektik der Metamorphose, die schon Ovid beschrieben hat: Strukturen entstehen, werden zerstört, Neues kommt auf, wird ebenfalls strukturbildend, dann wird es unterdrückt, gar ausgegrenzt. Allerdings sind Zugehörigkeiten zu marginalisierten Gruppen nicht länger per se ausgrenzend, im Gegenteil: „Frausein“ ist befreiend und ermächtigend, der Mann, der Elternzeit nimmt, ist nicht weniger Mann, sondern mehr Mann, die Transfrau ist mindestens ebenso Frau, wie die als Frau Geborene. Und die biologische Frau? Ist noch nicht einmal Teil der Marginalisierten, sondern, reduziert auf zyklisch wiederkehrende Tropfen Blut, nicht viel mehr als das kompostierbare Restprodukt der Geschlechtergeschichte.

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Sarah Pines ist in Bonn und im Sauerland aufgewachsen, hat in Köln und Stanford Literaturwissenschaften studiert und in Düsseldorf mit einer Arbeit über den Dichter Charles Baudelaire promoviert. Sie lebt in New York und schreibt als freie Autorin für die Gesellschaftsressorts von «Die Welt» und «Die Zeit». Beim Schöffling Verlag erschien 2022 ihr erster Geschichtenband «Damenbart». 2024 wird sie ihren ersten Roman veröffentlichen.

 

Anmerkungen und Quellen

[1] https://news.gallup.com/poll/389792/lgbt-identification-ticks-up.aspx

[2] https://www.ipsos.com/de-de/je-junger-desto-queerer-gen-z-weitaus-haufiger-lgbtq-als-altere-generationen

[3] https://news.gallup.com/poll/389792/lgbt-identification-ticks-up.aspx; https://www.ipsos.com/de-de/je-junger-desto-queerer-gen-z-weitaus-haufiger-lgbtq-als-altere-generationen

[4] https://md-bund.de/fileadmin/dokumente/Publikationen/GKV/Begutachtungsgrundlagen_GKV/BGA_Transsexualismus_201113.pdf

[5] Simone de Beauvoir, Le Deuxième Sexe, Livre I, Folio Essais, 1986.

[6] Siehe hierzu auch: https://www.nzz.ch/feuilleton/simone-de-beauvoir-warum-eine-frau-fuer-sie-immer-eine-frau-blieb-ld.1711567?reduced=true

[7] Simone de Beauvoir, Le Deuxième Sexe, Livre I, Folio Essais, 1986, S. 1.

[8] Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau, Reinbek: Rowohlt, 2018 (Übersetzung ins Deutsche: Uli Aumüller).

[9] Hélène Cixous, “Castration or Decapitation”, in: Signs 7, Nr. 1, (1981), S. 44.

[10] Siehe hierzu den Essay von Joanne Meyerowitz, „A History of ‚Gender‘“, in: American Historical Review, Vol. 113, Nr. 5, (2008), S. 1345-1356.

[11] Gilles Deleuze / Felix Guattari, Mille plateaux, capitalisme et schizophrénie, Minuit, 1980.

[12] Joan Wallach Scott, “Gender: A useful category of historical analysis”, in: American Historical Review 91, Nr. 5 (December 1986): S. 1053–1075.

[13] Scott schloss sich der Historikerin Natalie Zemon Davis an: „Our goal“, hatte diese geschrieben, „is to understand the significance of the sexes, of gender groups in the historical past. Our goal is to discover the range in sex roles and in sexual symbolism in different societies and periods, to find out what meanings they had and how they functioned to maintain the social order or to promote change.” (Natalie Zermon Davis, „Womens History in Transition: The European Case, in: Feminist Studies 3, 1975/76, S. 90).

[14] Scott, “Gender”, S. 1054.

[15] Hier möchte man ironisch anmerken: Wie weit ist es aber semantisch von „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“, von Frau oder Mann zu Frau und Mann zu Wortsalaten wie iel oder ille im Französischen, oder zu sogenannten deutschen „Neopronomen“ wie „xier“ oder „dey“? Sinnleere ist nur schwer auszuhalten, der Mensch unterliegt dem Interpretationszwang, nicht allein schon, um zu überleben. Wir lasen in der Antike aus den Eingeweiden von Opfertieren oder dem Vogelflug, deuten Tarotkarten, bestehen weiterhin auf konkreten Bezeichnungen, wie LGBTQ, trans, queer, hetero oder eben nicht-binär.

[16] Siehe insbesondere die Einleitung und das siebte Kapitel in Sheila Jeffreys, Gender Hurts, A feminist analysis of the politics of transgenderism, Routledge, 2014.

[17] Siehe hierzu auch: Roman Kuhar/David Paternotte, Anti-Gender Campaigns in Europe, Rowman&Littlefield, 2017.

[18] Zitiert in: Michelle Goldberg, „What is a Woman?”, in: The New Yorker, 4. August 2014, S. 24-28.

[19] https://www.nytimes.com/2015/06/07/opinion/sunday/what-makes-a-woman.html

[20] https://www.nytimes.com/2015/06/07/opinion/sunday/what-makes-a-woman.html

[21] https://abcnews.go.com/2020/video/bruce-jenner-interview-diane-sawyer-woman-part-30572231

[22] Lisa Littman, Stella O’Malley, Helena Kerschner, J Michael Bailey, Detransition and Desistance Among Previously Trans-Identified Young Adults”, in: Archives of Sexual Behavior (December 2023), bisher nur online.

[23] Ray Blanchard, “The concept of autogynephilia and the typology of male gender dysphoria”, in: The Journal of Nervous and Mental Diseases (1989), 177:10, S. 616-623.

[24] Sheila Jeffreys, Gender Hurts: A Feminist Analysis of the Politics of Transgenderism, Routledge: 2014, S. 94.

[25] https://www.americanpurpose.com/articles/walking-the-transgender-movement-away-from-the-extremists/

[26] Kathleen Stock, Material Girls: Why Reality Matters for Feminism, Fleet: 2021.

[27] Gloria Steinem, «If Men Could Menstruate”, in: Ms. Magazine (October 1978).

[28] Siehe hierzu auch: https://www.nzz.ch/feuilleton/frauen-was-ihnen-bleibt-wenn-alle-frau-sein-duerfen-ld.1664583?reduced=true

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13. Oktober 2023
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