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Essay

werch ein illtum! Zur Verortung der Identitätspolitik in der politischen Landschaft

von Fabian Blumberg
Es sind Sätze, die sich wohl mit „gut gealtert“ kommentieren ließen: „Zu viele Grüne sind auch heute noch in symbolische Politik verstrickt. Sie betreiben Identitätspolitik und besondere Pflege des Feindbildes.“ Die Sätze entstammen einer Analyse des Politikwissenschaftlers Joachim Raschke, die er vor über 30 Jahren in der taz veröffentlichte. Es ging damals um die (zwischenzeitliche) Ablehnung einer Ampelkoalition im Bremer Stadtstaat durch die Bremer Grünen. Symbole, Feindbilder, Identität: Es sind Elemente, die auch heute Debatten über Identitätspolitik prägen – und das in der gesamten politischen Landschaft.

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Im vorliegenden Beitrag soll zunächst eine kurze Vergegenwärtigung dessen vorgenommen werden, was „Identitätspolitik“ meint. In einem zweiten Schritt soll Identitätspolitik in der politischen Landschaft verortet werden. Dabei wird zunächst ein Blick auf Parteien geworfen sowie auf antiindividualistische und antiuniversalistische Identitätspolitik an den extremen Polen einer eindimensionalen Links-Rechts-Einteilung eingegangen. Abschließend sollen kurze Impulse gesetzt werden im Hinblick auf die Frage, was für Parteien und Akteure folgen kann, die sich einer auch programmatisch verstandenen Mitte zugehörig fühlen.

 

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Identitätspolitik: Begriffliches und Inhaltliches

Eine Politik, die auf Identität abstellt, rückt nicht den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt, sondern eine bestimmte Gruppe. Sie orientiert ihr politisches Handeln an der Zugehörigkeit zu einer beispielsweise sozialen, ethnischen, kulturellen oder religiösen Einheit. Es geht um die Gleichheit, Übereinstimmung, Unverwechselbarkeit in Bezug auf ein bestimmtes Merkmal.

 

Nun ist das Eintreten für spezifische Gruppen, insbesondere, wenn es sich um Minderheiten handelt, eine klassische Aufgabe von Politik in Demokratien. Allerdings geht damit beispielsweise im christdemokratischen Spektrum keine Überhöhung einer Gruppe gegenüber einer anderen einher. So heißt es im Lexikon der Christlichen Demokratie:

 

Der Begriff Minderheiten ist nicht etwa im Sinne einer minderen Wertigkeit zu verstehen. Geeigneter sind Begriffe wie Volksgruppe oder (Volks)Gruppenrechte, die präziser die ethnischen, religiösen, sprachlichen und kulturellen Charakteristika einer Gruppe umschreiben, die ihre Eigenheiten beizubehalten wünscht, ohne andere Bevölkerungsteile dominieren zu wollen. Minderheiten haben auch umgekehrt die Eigenarten der Mehrheit zu akzeptieren, doch muss ein geordnetes Zusammenleben gefordert und gefördert werden.[1]

 

Das Zitat stammt vom späteren Bundestagsabgeordneten und Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit Josef Stingl, der 1945 als Sudetendeutscher die Tschechoslowakei verlassen musste. Stingl, der sich für die Versöhnung mit Tschechien einsetzte, schrieb wohl aus dieser Erfahrung, dass es spezifische Charakteristika von Gruppen geben kann – dies aber nicht dem gesellschaftlichen Zusammenleben entgegensteht. Ähnlich wird in der aktuellen Debatte gewarnt, Identitätspolitik werde gefährlich, wenn es nicht mehr um Gerechtigkeit für die Anliegen und Bedürfnisse einer Gruppe gehe, sondern Identitätspolitik „bestimmte Charakteristika hervorheben und gegenüber anderen als überlegen konstituieren will. Wenn also das Ich über das Wir siegt, Differenzen stärker betont werden als Gemeinsamkeiten“[2].

 

Dabei werden Identitäten von außen zugeschrieben, wohnen dem Individuum selbst inne, werden aber auch selbst angenommen beziehungsweise für sich in Anspruch genommen. Letzteres, um sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen, und auch, um Individualität darzustellen. Individualisierung, Wertewandel, Fragmentierung sind jene Entwicklungen, die die Stabilität des deutschen Parteiensystems seit geraumer Zeit unter Druck setzen. Und es sind jene Entwicklungen, die zur Herausbildung von Identitäten, Singularitäten und des Besonderen geführt haben.[3] Identitätspolitik zielt auf das Partikulare – abgrenzend, aber auch ausgrenzend.

 

Identitätspolitische Verortungen im deutschen Parteiensystem

Dieses Zielen auf das Partikulare und das Ausgrenzende haben der Identitätspolitik Kritik eingebracht, die an einem ersten Beispiel aus der deutschen Sozialdemokratie aufgezeigt werden soll. Am 22. Februar 2021 veröffentlichte Wolfgang Thierse, Sozialdemokrat, einen Namensbeitrag in der FAZ. Dabei legte er seine Beobachtung dar, es seien weniger Kategorien wie Vernunft, Diskussion, Suche nach Gemeinsamkeiten, Mehrheitsentscheidungen, die die aktuellen Debatten (insbesondere über kulturelle Zugehörigkeit, Rassismus, Postkolonialismus und Gender) leiten als vielmehr eigene Betroffenheit, subjektives Erleben, biografische Prägungen, ethnische, geschlechtliche und sexuelle Identität. Damit werde auch versucht, andere Meinungen zu diskreditieren oder andere aus dem Diskurs auszuschließen. Aggressivität dominiere und manche Themen würden gar nicht mehr aus einer demokratischen Perspektive angesprochen. Das gelte zum Beispiel für Themen wie Heimat, Patriotismus und Nation: „In Zeiten dramatischer Veränderungen ist das Bedürfnis nach sozialer und kultureller Beheimatung groß. Eine Antwort auf dieses Bedürfnis ist die Nation. Das nicht wahrhaben zu wollen, halte ich für elitäre, arrogante Dummheit.“[4]

 

Zwei Tage vor der Veröffentlichung war es bereits zu einer Auseinandersetzung bei einer Veranstaltung des SPD-Kulturausschusses und der SPD-Grundwertekommission gekommen, bei der es um die Rolle der Kulturberichterstattung in gesellschaftlichen Debatten gehen sollte. Die eingeladene Feuilleton-Redakteurin der FAZ hatte sich in einer Glosse kritisch mit einer Aktion von Schauspielern und Schauspielerinnen für das Magazin der Süddeutschen Zeitung auseinandergesetzt.[5] Unter dem Hashtag #ActOut hatten die Schauspieler und Schauspielerinnen bemängelt, sie als nicht heterosexuelle und nicht biologisch definierte Personen könnten viele Rollen nicht spielen, aufgrund dieser Merkmale.[6] Die FAZ-Journalistin bezweifelte dies, was als queerfeindlich aufgefasst wurde, die Einladung wurde kritisiert, die Veranstaltung „eskalierte“.[7]

 

In der Folge entstand der Eindruck, dass zwei SPD-Generationen beziehungsweise zwei sehr unterschiedliche sozialdemokratische Sichtweisen auf Identitätspolitik bestehen. Denn die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken und der stellvertretende Parteivorsitzende Kevin Kühnert luden die SPD-„Arbeitsgemeinschaft Queer“ zu einem Treffen ein – mit einem Schreiben, das als Entschuldigungsschreiben und Anklage Thierses (und auch Gesine Schwans, die als Vorsitzende der Grundwertekommission die oben genannte Veranstaltung moderiert hatte) aufgefasst wurde. Darin hieß es in Bezug auf die Veranstaltung, „mangelnde Sensibilität im Umgang mit den Gäst*innen aus Euren Reihen, manche Rechtfertigung im Nachgang – all das beschämt uns zutiefst“. Und: „Aussagen einzelner Vertreter*innen der SPD zur sogenannten Identitätspolitik, die in den Medien, auf Plattformen und parteiintern getroffen wurden“, zeichneten „insbesondere im Lichte der jüngsten Debatte ein rückwärtsgewandtes Bild der SPD“, das verstöre. Daraufhin sah sich Wolfgang Thierse bemüßigt, die Co-Vorsitzende der SPD zu bitten, ihm „öffentlich mitzuteilen, ob mein Bleiben in der gemeinsamen Partei weiterhin wünschenswert oder eher schädlich ist“[8].

 

Am Ende blieb Thierse, dem Kritik aus den sozialen Medien entgegenschlug, der aber auch Zuspruch aus der SPD bekam, in der Partei. Saskia Esken bedauerte den entstandenen Eindruck. Auch die AG Queer der SPD zollte Thierse Respekt für Lebensleistung und Einsatz – er habe sich aber in der Identitätsdebatte „verrannt“[9].

 

So zeigt die Episode ein innerparteiliches Sowohl-als-auch-Muster der identitätspolitischen Debatten, das sich auch bei Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei finden lässt: Sowohl die Fokussierung auf Gruppenidentitäten verbunden mit der Tendenz, diese zu überhöhen als auch die Warnung vor genau dieser Identitätspolitik.

 

Als Beispiel sei hier auf den Berliner Grünen-Politiker Walter Otte verwiesen. Vor dem Hintergrund der identitätspolitischen Debatten innerhalb von Bündnis 90/Die Grünen äußerte er: „Identitätspolitik kennt man bisher von der politischen Rechten. Dort geht es nicht um Individuen, sondern um Gruppen, die Gesellschaft wird nach ethnischen und religiösen Kriterien sortiert.“[10] Heute fänden sich Denken in Schablonen und pauschale Vorwürfe aber auch innerhalb der Grünen. Otte äußerte die Warnung vor dem Hintergrund unter anderem des 2020 verabschiedeten „Vielfaltsstatuts“ der Bundespartei sowie der „Indianer“-Debatte der Berliner Grünen 2021. Im „Statut für eine vielfältige Partei“[11] wird davon ausgegangen, dass sich zwar positive Entwicklungen in den Bereichen Geschlechtergleichstellung, Angleichung der Lebensverhältnisse und anderes mehr feststellen ließen. Zugleich seien aber große gesellschaftliche Gruppen unterrepräsentiert, diskriminiert, benachteiligt und „aufgrund von gesellschaftlichen Verhältnissen strukturell von Ungleichbehandlung betroffen“. Geschlecht, rassistische, antisemitische oder antiziganistische Zuschreibung, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter, Sprache, sexuelle Orientierung, geschlechtliche Identität, sozialer Status, Bildung und Herkunft – diese Merkmale dürften nicht zu Diskriminierung und Ausgrenzung führen. Die Einsetzung eines Diversitätsrats, von Diversity-Trainings und Quoten sollen diskutiert und entwickelt werden, Parteigremien sollen divers besetzt, ein Vielfaltsreferat in der Parteizentrale eingesetzt werden. So wurde „ein Stück Parteigeschichte“[12] (Annalena Baerbock) geschrieben.

 

Ein weiteres Element der Parteigeschichte wurde rund drei Monate später geschrieben: Auf einem Landesparteitag der Berliner Grünen, der digital durchgeführt und später als Video veröffentlicht wurde, hatte die seinerzeitige Spitzenkandidatin Bettina Jarasch auf die Frage, was sie früher einmal werden wollte, geantwortet: „Indianerhäuptling“. Eine „koloniale Fremdbezeichnung“, wie Delegierte kritisierten. Und so begab es sich, dass die Antwort von Bettina Jarasch im veröffentlichten Video des Landesparteitages nicht auftaucht. Stattdessen kommt der Hinweis: „An dieser Stelle wurde im Gespräch ein Begriff benutzt, der herabwürdigend gegenüber Angehörigen indigener Bevölkerungsgruppen ist. Wir haben diesen Teil daher entfernt. Auch wir lernen ständig dazu und wollen weiter daran arbeiten, unser eigenes Handeln und Sprechen auf diskriminierende Denkmuster zu hinterfragen.“[13] Es ließen sich weitere Beispiele anfügen für die Auseinandersetzungen über Identitätspolitik innerhalb der Grünen,[14] die für die Partei so neu nicht ist.[15] Dass damit eine Gefahr einhergeht, ist vielen Grünen-Politikern und -Politikerinnen bewusst.[16] Robert Habeck beispielsweise warnt vor einem „Wettbewerb der Identitäten“[17] – in dem es Verlierer und Verliererinnen geben könne.

 

Auf diese „Verlierer und Verliererinnen des Wettbewerbs“ weist im linken Parteienspektrum insbesondere Sahra Wagenknecht hin. Als (jedenfalls aktuelle) Linkspartei-Politikerin positioniert sie sich prononciert als „klassische Linke“, die sich für soziale Gerechtigkeit insbesondere in Bezug auf die Arbeitswelt einsetzt. Ihr geht es um harte Arbeit und den Kampf gegen Ungerechtigkeiten, die durch Vererbung, Hartz-Reformen und Lohndumping erzeugt würden. Kurz: die traditionelle Linke sei auf der Seite der Unterprivilegierten. Dem setzt sie das Bild einer „Lifestyle-Linken“ entgegen, die sich aus privilegierten Schichten rekrutiere und für die Belange von Privilegierten einsetze. Diese „Selbstgerechten“ identifiziert sie insbesondere bei den Grünen, der SPD, aber auch der Linkspartei. Anzutreffen sei diese Gruppe, die sich aus einer neuen akademischen Mittelschicht rekrutiere und häufig neue, gut bezahlte Dienstleistungsberufe ausübe, vor allem in den großen Metropolen und den Universitätsstädten. Mit der eigentlichen sozialen Frage seien diese Linken kaum in Kontakt geraten. Stattdessen gehe es darum, sich weltläufig und sprachsensibel für Klima, Emanzipation, Zuwanderung und sexuelle Minderheiten einzusetzen und den Nationalstaat für veraltet, Europa und das Weltbürgertum für modern zu halten.[18] Es handle sich um „hypersensible Identitätspolitiker, die die Gefühle jeder noch so kleinen Randgruppe in einen eigenen Safe Space einbetten“, „die eigene Weltsicht nicht für eine Meinung, sondern für eine Frage der Moral und des Anstands“ halten und für die „Andersdenkende mindestens ein schlechter Mensch und wahrscheinlich sowieso ein Nazi“ seien.[19]

 

Wagenknecht konturiert hier eine linke Identitätspolitik, die sie auch kritisch im Hinblick auf ihre Folgen für die Wahlerfolge von Parteien wie AfD, FPÖ, Rassemblement National[20], Lega oder den Wahren Finnen analysiert. Es ist eine Analyse, die sich auch an anderen Stellen findet, am prominentesten bei Mark Lilla. Mit Blick auf die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten sieht er den „strategischen Fehler“ der Clinton-Kampagne darin, zwar Identitäten, Diversität und einzelne Gruppen angesprochen zu haben, damit seien diese aber überhöht worden und soziale Themen – überhaupt Themen, die eine breite Mehrheit betreffen – anderen überlassen worden.[21] Die Identitätslinke verliere Wahlen, weil sie sich nicht mehr als soziale Linke verstehe. Der Klassenkampf ist in den Hintergrund getreten, verschiedene Antidiskriminierungskämpfe in den Vordergrund.

 

Identitätspolitische Verortungen im extrem linken und extrem rechten Spektrum

Ein weiterer Kritikpunkt zielt auf den Antiindividualismus und Antiuniversalismus, die linksidentitären Konzepten von Antirassismus, „kritischem Weißsein“ und „kultureller Aneignung“ inne sind. Es gebe einen Antirassismus, der eine gleiche Behandlung einfordere. Und einen Antirassismus, der eine besondere Behandlung von Identitäten einfordere. Ersterer sei universalistisch. Letzterer identitär. Ersterer wende sich gegen Vorurteile und Schubladendenken. Letzterer geht davon aus, dass die weiße Mehrheitsgesellschaft die rassistisch geprägte Welt und die damit einhergehenden Privilegien der Weißen gar nicht erkenne. „Dreadlocks“, Verkleidungen unterschiedlichster Art, Kunst, Mode per se werden als „kulturelle Aneignung“ gesehen.[22] Es ist ein Denken, das, wie Armin Pfahl-Traughber in den perspektiven ds schreibt, vom Einzelnen abstrahiert; es ist „pauschales Denken“[23] – in dem jedenfalls nicht der Einzelne im Mittelpunkt steht.

 

Dabei ist es nicht mehr linker Großkollektivismus, sondern identitärer Gruppenkollektivismus und radikaler Partikularismus, der sich auch im heutigen Linksextremismus finden lässt. Metaerzählungen gibt es hier nicht mehr, die Klasse wird als bloßes soziales Konstrukt aufgefasst, die Kategorien von Moral, Gerechtigkeit und Wahrheit, von Menschrechten und Menschenwürde, von universellen Normen werden als Kategorien der „Herrschenden“ abgetan. Dahinter verberge sich das Denken in Leistung, Durchsetzung des Stärkeren und Herrschaft.[24]

 

Es ist das Antiuniverselle, dass Linksidentitäre mit Rechtsidentitären teilen. „Man muss immer im Kopf behalten“, so Martin Lichtmesz, „daß die Ideologie des humanitären Universalismus sämtliche abgrenzenden Gruppenunterscheidungen für moralisch illegitim erklärt hat, es sei denn, sie werden als ‚diversity‘ benutzt, um unsere Gruppenidentität zu unterminieren.“[25] Lichtmesz veröffentlicht bei Antaios und Sezession, also bei einem Verlag respektive einer Zeitschrift, die zum Institut für Staatspolitik gehören, das eine „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“[26] ist.

 

„Unsere Gruppenidentität“ – das ist in der Konzeption von Lichtmesz und anderen die Ethnie: eine spezifische, in sich geschlossene, homogene Ethnie. Dabei gebe es keine Hierarchie zwischen Kulturen, Gruppen, Völkern oder Ethnien. Stattdessen konturieren die Akteure und Akteurinnen des rechtsidentitären Spektrums einen Ethnopluralismus, in dem man Verschiedenartigkeit wertschätzt, sich darüber freut, dass die Welt aus so vielen Daseinsformen („Menschentypen“, Völkern, Kulturen, Lebensweisen, Sprachen, Landschaften und so weiter) besteht. Bloß: eine Vermischung – als unveränderlich aufgefasster – Identitäten dürfe nicht stattfinden. Die ethnokulturelle Einheit gehe vor und beispielsweise „echte“ Demokratie sei nur möglich auf Basis ethnokultureller Homogenität (womit sich Diktatur und Demokratie nicht ausschließen und eine Form identitärer Demokratie skizziert ist).[27]

 

Der Universalismus hingegen (zu der auch Liberalismus, Sozialismus, Globalismus, Kapitalismus, Christentum und die „Ideologie der Menschenrechte“ gezählt werden) sei ebenso wie die Bezugnahme auf Menschheit und Menschenwürde nur ein Mittel, um einen Einheitsmenschen zu formen und Kulturen und Völker einzuebnen. „Globalistische“ Kräfte (zum Beispiel Big-Tech-Firmen, UNO, WHO, IWF, WEF, Großkonzerne und INGOs) seien hier am Werk, die linke Agenden forcierten (genannt werden zum Beispiel Antirassismus, Feminismus, Homosexuellenrechte, aber auch internationale Kooperation gegen Hunger und Armut, Eintreten für Menschenrechte und Demokratie, Bewegungsfreiheit für Kapital, Waren, Informationen und Menschen). Damit gehe es um „innere Entnationalisierung“ und „Auflösung der Völker“, um „Bevölkerungsaustausch“.[28]

 

Rechtsidentitären geht es, wie auch Linksidentitären, um Partikulares, Einzelnes, Besonderes, in sich Homogenes – dem wird der einzelne Mensch untergeordnet. Rechtsidentitäre wie Linksidentitäre lehnen universalistisches Denken ab, werten Ideen wie Freiheit, Menschenrechte, Menschenwürde als bloße Mittel anonymer Herrschender ab, die diese zur Herrschaftsabsicherung nutzen.

 

Schlussbetrachtung

 

lichtung

 

manche meinen

lechts und rinks

kann man nicht velwechsern

werch ein illtum

 

(Ernst Jandl)

 

 

Und so wäre es wohl auch ein „illtum“, mit Blick auf die Verortung von Identitätspolitik in der politischen Landschaft keine Verwechslungsgefahr zwischen „lechts und rinks“ (Ernst Jandl, lichtung, 1966) zu sehen.

 

Dabei ergeben sich zwei miteinander verknüpfte Gefahrenfelder. Das eine besteht in der Variante von Identitätspolitik, die sich in Parteien wie SPD, Grüne, Linkspartei und anderen gesellschaftlichen Institutionen und Akteuren identifizieren lässt: Sie parzellieren die Gesellschaft, leisten kämpferischen Gruppenidentitäten, einer „Refeudalisierung der Öffentlichkeit“[29] und Moralismus Vorschub. Dabei gibt es in allen Parteien Stimmen und große Strömungen, die genau davor warnen. Das zweite Gefahrenfeld geht von der „harten“ Variante im linksidentitären und rechtsidentitären Bereich aus. „Hart“, weil hier eine Auffassung von Identität besteht, die sich klar gegen freiheitlich demokratische Prinzipien wendet. Finden lässt sich diese Variante von Identitätspolitik in Vorfeld, Umfeld und Milieu der Alternative für Deutschland (AfD), wo es durch Konzepte wie „Metapolitik“, „kulturelle Hegemonie von rechts“, „Kulturkampf“, „Mosaikrechte“ in die Breite der Gesellschaft einsickern soll.[30]

 

Für Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und jene Akteure der politischen Mitte, die nicht in die auf sie angestimmten Niedergangsdiskussionen, nach der sie Heterogenitäten, Individuen, unterschiedliche Interessen nicht mehr in die Mitte binden und integrieren können, einstimmen, könnten sich zwei Aktionsbereiche anbieten. Einer besteht in der organisatorischen Modernisierung. Hier findet bereits in allen Parteien und Institutionen viel statt mit dem Ziel, dass Mitgliedschaften besser den Bedürfnissen der Mitglieder entsprechen, Mitgliedschaft geöffnet wird, Beteiligung und Debatte erleichtert wird, Kohäsion im sogenannten vorpolitischen Raum durch pragmatische Formen der Einbindung in konkrete Politik und programmatische Debatte gestärkt wird. Letzteres mündet in das zweite Aktionsfeld: die Organisation politischer Debatte, die auch der Notwendigkeit Rechnung trägt, Grundsätze der freiheitlich demokratischen Grundordnung, der repräsentativen Demokratie (und nicht identitärdemokratische Repräsentationspolitik) sowie die Komplexität von Gesellschaft zu vermitteln und offensiv für eine Politik zu werben, in der der einzelne Mensch im Mittelpunkt steht. In dem der Kompromiss etwas Positives ist und der Unionsgedanke politisches Handeln prägt.


[1] Simon Strauß (2019): „Bürgerliche Bekenntniskultur statt Identitätspolitik“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 9-11/2019, S. 4-9, hier S. 4. https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/APuZ_2019-09-11_online_v2.pdf (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023).

[2] Josef Stingl (2002): „Minderheiten“. In: Winfried Becker u.a. (Hrsg.): Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, Paderborn 2002, S. 595-596.

[3] Vgl. Andreas Reckwitz (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin; sowie Frank Decker (2018): Parteiendemokratie im Wandel, in: ders./Viola Neu (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien, 3. Aufl., Wiesbaden 2018, S. 3-39.

[4] Wolfgang Thierse (2021): „Wieviel Identität verträgt die Gesellschaft?“ In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.02.2021.

[5] Vgl. Sandra Kegel (2021): „Sex“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.02.2021.

[6] Vgl. „Ich komme aus einer Welt, die mir nicht von mir erzählt hat“. In: Süddeutsche Zeitung Magazin, 05.02.2021.

[7] Vgl. z.B. Swantje Karich: (2021) „Ich bitte Dich, mir mitzuteilen, ob mein Bleiben schädlich ist“. In: Welt.de, 03.03.2021. https://www.welt.de/kultur/plus227481767/Wolfgang-Thierse-an-Saskia-Esken-Ich-bitte-Dich-mir-mitzuteilen-ob-mein-Bleiben-schaedlich-ist.html (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023).

[8] ebd.

[9] Zitiert nach Hans Monath (2021): „Streit um Identitätspolitik in der SPD“. In: Tagesspiegel.de, 03.03.2021. https://www.tagesspiegel.de/politik/esken-sucht-gesprach-mit-thierse--wir-schamen-uns-nicht-fur-dich-7753798.html (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023); vgl. auch: „Wolfgang, wir stehen hinter dir“, Interview mit dem stellvertretenden Bundesvorsitzenden der Queer AG der SPD, In: Cicero, 10.03.2021. https://www.cicero.de/innenpolitik/spd-queer-ag-identitaetspolitik-thierse-wolfgang-faz-cancel-culture (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023).

[10] Zitiert nach Claus Christian Malzahn (2021): „Selbstzensur für grüne Häuptlinge“. In: Welt am Sonntag, 08.03.2021.

[11] Vgl. Bündnis 90/Die Grünen: Wir haben ein Vielfaltsstatut! 18.12.2020. https://www.gruene.de/artikel/beschluss-des-vielfaltsstatuts (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023).

[12] Zitiert nach Valerie Höhne (2021): „Die Weißen“. In: Der Spiegel, 02.01.2021.

[13] Zitiert nach Bündnis 90/Die Grünen Berlin: Digitale Landesdelegiertenkonferenz 20. März 2021, Stunde 2:51:08. https://www.youtube.com/watch?v=exUxzjr1e34 (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023).  

[14] Vgl. Helene Bubrowski (2021): „‚Indianerhäuptling‘ sagt man nicht“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.04.2021 sowie „Den Aktivisten mangelt es an Selbstreflektion“, Interview mit Helga Trüpel. In: Cicero, 02.04.2021. https://www.cicero.de/innenpolitik/gruene-streit-aufruf-identitaetspolitik-aktivisten-selbstreflektion/plus (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023).

[15] Vgl. Peter Unfried (2019): „Das große Missverständnis. Die Grünen. Ein Update“. In: Kursbuch 197/2019, S. 12-29, hier S. 15 f.: „Die Motive der zentralen Grünen-Gründer waren stark ökologisch geprägt und deutlich weniger ‚links‘, als man vermuten könnte. Doch als die desillusionierten und versprengten Superlinken und emanzipatorischen Minderheiten merkten, dass bei und mit den Grünen etwas zu holen war, sprangen sie auf. So wurde die grüne Partei zu einem Zusammenschluss von benachteiligten Minderheitsbewegungen, die ihre Gleichstellungsansprüche gegen einen vermeintlich moralisch minderwertigen Mainstream durchsetzen wollten und das auch in einem nicht unerheblichen Maße schafften. Ihr kultureller und emotionaler Kern ist Identitätspolitik. Mit der grünen, sprich ökologischen Frage können diese Minderheiten schwer umgehen, weil sie nicht in ihr kulturelles und moralisches Beuteschema passt.“

[16] Vgl. z.B. Sabine Menkens (2021): „Grüner Widerstand gegen ‚Identitären Fundamentalismus‘“. In: Die Welt, 19.04.2021; Rüdiger Soldt (2021): „Quer zur grünen Tradition“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.01.2022; Oliver Georgi/Rüdiger Soldt (2023): „In Krisen muss man ins Risiko gehen“, Interview mit Winfried Kretschmann. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 09.07.2023.

[17] Robert Habeck (2022): Von hier an anders. Eine politische Skizze, Köln, S. 259.

[18] Vgl. Sahra Wagenknecht (2022): Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt, Frankfurt a.M., S. 39-176.

[19] Ebd., S. 19.

[20] Siehe dazu auch den Frankreich-Beitrag in dieser Veröffentlichung von Nino Galetti und Nele Wissmann: Identitätspolitik als Spaltpilz der Gesellschaft.

[21] Vgl. Mark Lilla (2016): “The End of Identity Liberalism”. In: New York Times, 18.11.2016.  https://www.nytimes.com/2016/11/20/opinion/sunday/the-end-of-identity-liberalism.html (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023): “If you are going to mention groups in America, you had better mention all of them. If you don’t, those left out will notice and feel excluded. Which, as the data show, was exactly what happened with the white workingclass and those with strong religious convictions. Fully two-thirds of white voters without college degrees voted for Donald Trump, as did over 80 percent of white evangelicals.”
Zu den Ausprägungen der Identitätspolitikdebatte in den USA siehe auch den Beitrag in dieser Veröffentlichung von Paul Linnarz: Identitätspolitik in den USA: Politische Polarisierung entlang der Parteilinien.

[22] Vgl. insb. Caroline Fourest (2020): Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer, Berlin.

[23] Armin Pfahl-Traughber (2020): „Antiindividualismus und Antiuniversalismus als Konsequenzen. Die Gemeinsamkeiten von Identitätslinker und Identitätsrechter“. In: perspektiven ds 2/2020, S. 137-152, hier S. 142.

[24] Vgl. Hendrik Hansen (2019): Linke und rechte Identitätspolitik. Ein Vergleich der poststrukturalistischen Wende im Linksextremismus mit dem Ethnopluralismus und Nominalismus der Neuen Rechten, in: ders. / Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.): Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2019/20 (II), Brühl 2021. https://www.hsbund.de/SharedDocs/Downloads/2_Zentralbereich/20_Referat_W/Publikationen/20_Schriften_Extremismus_Terrorismusforschung/band_16.pdf?__blob=publicationFile&v=6 (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023), S. 242-289, hier S. 252-273; siehe zu den Veränderungen im Linksextremismus auch pointiert Rudolf van Hüllen (2019): „Vergesst die Aufklärung!“ Ideologische Umbrüche im revolutionären Linksextremismus, in: Uwe Backes/Alexander Gallus/Eckhard Jesse/Tom Thieme (Hrsg.): Jahrbuch Extremismus und Demokratie, Baden-Baden 2019, S. 59-79.

[25] Martin Lichtmesz (2021): Ethnopluralismus. Kritik und Verteidigung, 2. Aufl., Schnellroda, S. 287.

[26] Bundesamt für Verfassungsschutz: Bundesamt für Verfassungsschutz stuft „Institut für Staatspolitik“ (IfS) und „Ein Prozent e. V.“ als gesichert rechtsextremistische Bestrebungen ein, Pressemitteilung vom 26. April 2023. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2023/2023-04-26-ifs-ein-prozent.html (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023).

[27] Vgl. Uwe Backes (2018): Zum Weltbild der Neuen Rechten in Deutschland. Analysen & Argumente der Konrad-Adenauer-Stiftung, Nr. 321 / Oktober 2018, S. 4-6,. https://www.kas.de/documents/252038/4521287/Zum+Weltbild+der+Neuen+Rechten+in+Deutschland.pdf/b599f7ec-65ba-3863-9e1b-0b83a17e367c?version=1.0&t=1548416652442 (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023); vgl. auch zur Rezeption Carl Schmitts in der Neuen Rechten: Hendrik Hansen (2021): Linke und rechte Identitätspolitik. Ein Vergleich der poststrukturalistischen Wende im Linksextremismus mit dem Ethnopluralismus und Nominalismus der Neuen Rechten, in: ders./Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.): Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2019/20 (II), Brühl 2021.https://www.hsbund.de/SharedDocs/Downloads/2_Zentralbereich/20_Referat_W/Publikationen/20_Schriften_Extremismus_Terrorismusforschung/band_16.pdf?__blob=publicationFile&v=6 (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023)., S. 242-289, S. hier 274-277.

[28] Vgl. Martin Lichtmesz (2021): Ethnopluralismus. Kritik und Verteidigung, 2. Aufl., Schnellroda, S. 15-49; siehe zum Ethnopluralismus auch Martin Sellner (2023): Die Priorität des Themas Bevölkerungsaustausch. In: Martin Lichtmesz/Martin Sellner: Bevölkerungsaustausch und Great Reset. Eine Justierung, 2. Aufl., Schnellroda, S. 14-23; Armin Pfahl-Traughber (2022): Intellektuelle Rechtsextremisten. Das Gefahrenpotenzial der Neuen Rechten, Bonn, S. 91-94.

[29] Sandra Kostner/Christof Roos (2021): Identitätspolitik als neue Dynamik im Strukturwandel der Öffentlichkeit, in: Martin Seeliger/Sebastian Sevignani: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? In: Leviathan, Sonderband 37/2021, S. 225-251, hier S. 239.

[30] Vgl. zu den Verbindungen zwischen AfD und der extremen Neuen Rechten z.B. Bundesministerium des Innern und für Heimat: Verfassungsschutzbericht 2022, S. 91. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberichte/2023-06-20-verfassungsschutzbericht-2022.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023); siehe ferner zu den konzeptionell-strategischen Grundlagen von „Metapolitik“, „kulturelle Hegemonie von rechts“, „Kulturkampf“, „Mosaikrechte“ z.B. Götz Kubitschek (2006): „Provokation!“ In: Sezession Januar 2006. https://sezession.de/wp-content/uploads/2009/07/Kubitschek_Provokation.pdf (zuletzt aufgerufen: 21.08.2023)., Thor v. Waldstein (2015): Metapolitik. Theorie – Lage – Aktion, Schnellroda; François Bousquet (2022): Mut oder Wie man einen Kulturkampf inszeniert, Antaios; Benedikt Kaiser (2022): Die Partei und ihr Vorfeld, Schnellroda.

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