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Essay

Der Widerstand der „Weißen Rose“ in der deutschen Erinnerungskultur

von Prof. Michael Kißener

Zwischen Instrumentalisierung, Heroisierung und Kritik

Die gegen das NS-Regime gerichteten Flugblattaktionen der Münchner Studentengruppe um Hans und Sophie Scholl gehören zu den bekanntesten Widerstandshandlungen im „Dritten Reich“. Michael Kißener schildert, dass sich schon bald nach der Ermordung der Mitglieder der „Weißen Rose“ Deutungen ihrer Motive herauskristallisierten und Versuche stattfanden, die Handlungen der Gruppe für politische Zwecke zu nutzen. Die unterschiedlichen Interpretationen sowie auch die Kritik an der Gruppe sagen viel über die politischen Umbrüche seit 1945 aus sowie über den Wandel von Wertvorstellungen und Gesellschaftsbildern.

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Denkmal für die Widerstandsgruppe "Weiße Rose" vor der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU). Catherina Hess/Süddeutsche Zeitung Photo
Denkmal für die Widerstandsgruppe "Weiße Rose" vor der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU).

Die Münchner Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, die 1942/43 mit Flugblättern das NS-Regime zu bekämpfen suchte, fehlt in praktisch keiner wissenschaftlichen Gesamtdarstellung zur Geschichte des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Auch im öffentlichen Raum ist die „Weiße Rose“ in hunderten Schul- und Straßennamen präsent. Und das aus gutem Grund: Dass fünf junge Menschen, unter ihnen das Geschwisterpaar Hans und Sophie Scholl, und ein Professor die Verbrechen des Nationalsozialismus so klar zu er- und öffentlich zu bekennen imstande waren, stellt eine Seltenheit in der Geschichte der NS-Diktatur dar. Wenn im zweiten Flugblatt die Verantwortung der gesamten deutschen Bevölkerung für den Aufstieg und die Verbrechen des Nationalsozialismus festgestellt und eine Umkehr gefordert wird, indem jedem, der weiter tatenlos zusehe, zugerufen wird, er sei „schuldig, schuldig, schuldig!“, so berührt das noch heute.

 

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Schon durch solche Ausgangsbedingungen waren von Anfang an Voraussetzungen gegeben, einerseits die „Weiße Rose“ schnell zu einem instrumentalisierbaren Mythos werden zu lassen, andererseits später eine Dekonstruktion der zu Säulenheiligen und unhinterfragten Helden erstarrten Gruppe zu betreiben. Daher lässt die Rezeptionsgeschichte der „Weißen Rose“ Zäsuren und Konjunkturen (gesellschafts-) politischer Interpretationen des vergangenen „Dritten Reiches“ im Nachkriegsdeutschland erkennen. Davon handelt dieser Artikel.

 

Frühe Vereinnahmungsversuche und Deutungen

Kaum waren die ersten Mitglieder der „Weißen Rose“ nach ihrer spektakulären Verteilung von Flugblättern in der Münchner Universität am 18. Februar 1943 hingerichtet, begann eine frühe Instrumentalisierung. Helmuth James Graf von Moltke, der Kopf des widerständigen Kreisauer Kreises, beschaffte sich Anfang März 1943 das letzte Flugblatt und ließ es zusammen mit einem kurz gefassten Bericht über die „Weiße Rose“ über den norwegischen Bischof Eivind Berggrav an die britische Regierung gelangen.  Sofort interessierten sich auch die norwegische und schwedische Presse für diese „anderen Deutschen“. Die Presseberichte wurden in der Sowjetunion von Exilanten und Geheimdiensten gleichermaßen aufgegriffen und für ihre Zwecke genutzt, ebenso in den USA. In Großbritannien sollte Moltkes Bericht von der Existenz eines deutschen Widerstands überzeugen. Die Folge war jedoch nicht britische Hilfe für den deutschen Widerstand, sondern die Nutzung des Flugblattes für die britische Kriegspropaganda: Im Sommer 1943 warf die Royal Air Force Kopien des letzten Flugblattes unter dem Titel „Kommilitonen! Kommilitoninnen!“ massenhaft über Deutschland ab. Auch deutsche Exilkreise in London griffen die Geschichte der Weißen Rose begierig auf; vor allem der dort lebende Schriftsteller Thomas Mann nutzte das Flugblatt, um in einer BBC-Radioansprache am 27. Juni 1943 eine erste heroisierende Einordnung des Geschehens in München zu verbreiten: Vom „österlichen Aufstande der Studenten“, von „ihrem Märtyrertod unterm Beil“ war dort bereits die Rede. „Brave, herrliche junge Leute! Ihr sollt nicht umsonst gestorben, sollt nicht vergessen sein“, rief er seinen Zuhörern zu. Fast zeitgleich begann der damals bekannte und mit Mann befreundete Schriftsteller Alfred Neumann im amerikanischen Exil mit einer literarischen Bearbeitung des „Weiße-Rose“-Stoffes und schrieb einen Roman unter dem Titel Six of them, der bald nach dem Krieg 1947 auch in deutscher Übersetzung erschien und damit gleichsam eine Brücke zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit darstellt.

Das umstrittene Buch hielt die „Weiße Rose“ ebenso im Gespräch wie zahlreiche Zeitungsberichte, die nach 1945 mal mehr, mal weniger korrekte Details zu berichten wussten. Gemeinsam war allen frühen Veröffentlichungen nicht nur, dass sie die Mitglieder der „Weißen Rose“ unkritisch heroisierten, sondern auch dass sie als christliche Märtyrer gesehen wurden, die sich mit ihrem Selbstopfer für die Sünden Deutschlands hingegeben hätten. Diese Deutung hatte schon Romano Guardini bei einer ersten Gedenkveranstaltung an die „Weiße Rose“ am 4. November 1945 im Schauspielhaus in München in einer ansonsten sehr abstrakten Rede mit dem Titel „Die Waage des Daseins“ formuliert: „So haben sie für die Freiheit des Geistes und die Ehre des Menschen gekämpft, und ihr Name wird mit diesem Kampf verbunden bleiben. Zuinnerst aber haben sie in der Strahlung des Opfers Christi gelebt, das keiner Begründung vom unmittelbaren Dasein her bedarf, sondern frei aus dem schöpferischen Ursprung der ewigen Liebe hervorgeht“, meinte der berühmte katholische Reformtheologe und traf damit auch das sich in der Familie Scholl selbst ausbildende Verständnis des Tuns der Geschwister. Die Schwester Inge Aicher-Scholl hat diese Interpretation schließlich mit ihrer Kurzdarstellung der Geschichte der „Weißen Rose“ aus dem Jahre 1952 verfestigt und stets darauf beharrt, weil sie sich als autoritative Bewahrerin des Willens ihrer Geschwister sah.

Dem Buch Aicher-Scholls half sicherlich, dass es in einer Zeit auf dem Markt kursierte, als mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR die öffentliche Akzeptanz widerständigen Verhaltens in einer totalitären Diktatur Beachtung fand. Schon im ersten Jahr seines Erscheinens wurden zehn Auflagen gedruckt; es ist in etliche Fremdsprachen übersetzt und vermittelt bis heute im Ausland vielen Leserinnen und Lesern den ersten Eindruck von der Münchner Widerstandsgruppe. Sein Erfolg lässt sich aber auch dadurch erklären, dass der hier dargelegte Opfertodgedanke sich unschwer mit dem Soldatentod vieler Deutscher in einen Zusammenhang bringen ließ. Der politisch linksstehende NS-Gegner Hans Werner Richter etwa, bekannt als Gründer der Schriftsteller- Gruppe 47, schrieb 1946 unter der Überschrift „Studentenrebellion und Fronterlebnis“: „Hans Scholl, Christoph Probst, Willi Graf und Alexander Schmorell, sie starben auf dem Schafott vor der Öffentlichkeit für jene vielen, die im gleichen Glauben draußen an der Front ihr Leben ließen. Es ist nicht in ihrem Geist, wenn wir jetzt über sie jene vergessen. Sie waren Soldaten wie jene […] Aber sie entgingen dem grauen Massentod. Sie handelten als Einzelne und gewannen die individuelle Freiheit im Tode.“

 

Widerstreitende Interpretationen in West- und Ostdeutschland

Die ins so Heldenhafte Entrückten halfen manch einem sicher auch, sich der Frage nach der eigenen Verantwortung zu entziehen – bis Mitte der 1960er Jahre eine jüngere, kritische Generation dies nicht mehr akzeptieren wollte. Der christliche Opfergedanke verlor seine Vorbildfunktion, eine schonungslose Aufarbeitung der NS-Zeit wurde gefordert. 1965 und 1968 wurden die traditionellen Gedenkfeierlichkeiten für die „Weiße Rose“ an der Ludwig- Maximilians-Universität München gestört. Der Berliner Student Christian Petry gab dieser neuen Sicht in einer Publikation mit dem Titel „Studenten aufs Schafott. Die Weiße Rose und ihr Scheitern“ Ausdruck. Darin vertrat er die These vom unpolitischen, bürgerlichen Widerstand der Münchner Studenten, kritisierte die von der „Weißen Rose“ genutzten Widerstandsformen und wertete ihren Vorbildcharakter für die eigene Zeit drastisch ab. In einem Bericht der Zeitschrift „Stern“ stellte er fest: „Im Namen dieses Idealismus lassen sich keine politischen Taten mehr tun, und bereits die Tat der ‚Weißen Rose‘, die im Wesentlichen eine Opfertat war, hatte einen durchaus unpolitischen Charakter [...]. Wenn wir also die Weiße Rose historisch sehen ohne Bezug zur Gegenwart, dann wird sie damit nicht ein Stück unbewältigter Vergangenheit. Sie ist Vergangenheit.“ Eine breite mediale Berichterstattung und die Aufnahme seines Buches in das Programm der Bundeszentrale für politische Bildung trugen erheblich zur Verbreitung von Petrys Sichtweise bei, die im Übrigen weniger bekannte Vorläufer hatte.  Das wissenschaftliche, wie das öffentliche Interesse richtete sich infolgedessen nun mehr auf bislang weniger bekannte, auch politisch linke Widerstandsgruppen; die „Weiße Rose“ verlor in den 1970er Jahren ein Stück ihrer alten Strahlkraft.

Das verschaffte der DDR-Publizistik, die gerne die Abrechnung der „68er“ mit der verdrängten NS-Aufarbeitung im Westen sah, einen gewissen Aufmerksamkeitsvorteil bei ihrer Instrumentalisierung der „Weißen Rose“ im Zeichen des Kalten Krieges und des Versuchs einer Vereinnahmung der Widerstandstradition für die DDR. Anfang der 1960er Jahre wurde der Studierendenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena die Aufgabe übertragen, „Sachwalter des Vermächtnisses der Geschwister Scholl“ zu werden. Einige Bemerkungen in den Flugblättern, in denen vor einem doktrinären Antikommunismus gewarnt worden war, und die russischen Wurzeln des „Weiße Rose“-Mitglieds Alexander Schmorell, der in besonderer Weise unter dem Krieg gegen Russland litt, waren hinreichend, um nun das Erbe der „Weißen Rose“ auch für die SED-Propaganda fruchtbar zu machen. 1960 legten Jenaer Studenten einen Kranz im Rahmen der Münchner Gedenkveranstaltung nieder, auf dessen Schleife zu lesen war: „Hans und Sophie Scholl – den Kämpfern gegen Krieg und Faschismus“. Dass der Kranz bald schon von westdeutschen Studenten entfernt wurde, war der DDR Beweis genug für den angeblich kriegslüsternen, imperialistischen Charakter des „Adenauer-Regimes“. Publikationen von Klaus Drobisch (1968) und Karl-Heinz Jahnke (1969) zeigten nun das Interesse der DDR-Wissenschaft an diesem spezifischen Widerstand. Einzelne, bislang unbekannte Aktenstücke aus DDR-Archiven weckten zusätzliche Aufmerksamkeit. Ganz ungefährlich war dieser Schritt freilich nicht: In Jena bildeten sich mit der Zeit auch Studierendengruppen, die sich in ihrer Kritik am SED-Staat auch auf die „Weiße Rose“ beriefen. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass die „Weiße-Rose“-Vereinnahmung für die DDR auch gleichsam ideologische Erfolge zeitigte: Die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger z.B., die mit Inge Aicher-Scholl eng verbunden war und zeitweilig an ihrer Ulmer Volkshochschule gearbeitet hatte, vertrat nun die Ansicht, Sophie Scholl hätte auf ihrem Weg in den Widerstand ebenso gut Karl Marx wie Augustinus lesen können.

Ausschnitt aus dem Film "Die weiße Rose" (D 1982): Sophie und Hans Scholl werfen Flugblätter in die Aula der Universität. United Archives / kpa/Süddeutsche Zeitung Photo
Ausschnitt aus dem Film "Die weiße Rose" (D 1982): Sophie und Hans Scholl werfen Flugblätter in die Aula der Universität.

Entheroisierung und Individualisierung

Ein Ausbruch aus dieser Politisierung der „Weißen Rose“ im Zeichen des Kalten Krieges gelang erst in den 1980er Jahren. Durch die Individualisierung von Opferschicksalen und emotionale Zugänge wie sie Hermann Vinke in einer Publikationsreihe des Ravensburger Verlages, die auf Mädchen und Frauen abzielte, am Beispiel Sophie Scholls vorstellte, geriet etwas in Bewegung. Sophie Scholl wurde nicht nur in den Vordergrund des Widerstands der „Weißen Rose“ gerückt und aufgewertet, sondern auch als Frauencharakter gezeichnet, der durch Identitätssuche bestimmt war. Das passte in eine Zeit, in der Selbstbestimmung und politisch-gesellschaftliches Engagement im Rahmen neuer sozialer Bewegungen wirksam wurden. Auch Inge Aicher-Scholl nahm dieses Deutungsangebot auf, wurde mit ihrem Mann Otl Aicher Friedensaktivistin und Gegnerin des NATO-Nachrüstungsbeschlusses und stellte ihre hingerichteten Geschwister in den Dienst dieses Anliegens. Filmische Aufarbeitungen der Geschichte der Weißen Rose griffen den neuen Ansatz auf: Michael Verhoevens Film Die Weiße Rose (1982) z.B. zeigte Individuen, Menschen mit Gefühlen und Alltagsschwächen, die leben wollten, nicht tiefsinnige opferbereite Heroen. Weder das um 1968 kritisierte angeblich mangelhafte politische Bewusstsein noch die ältere Deutung des Selbstopfers interessierten jetzt noch, Hans und Sophie Scholl wurden als aktive, lebensfrohe Menschen wahrgenommen, die Verantwortungsbewusstsein hatten und sich den Herausforderungen ihrer Zeit stellten. Inge Aicher-Scholl unterstützte diese Interpretation, indem sie sich 1984 erstmals bereit erklärte, Briefe und Aufzeichnungen aus dem Nachlass der Geschwister für eine Edition zur Verfügung zu stellen.  Zunehmend ermutigte dieses Interesse an den einzelnen Gruppenmitgliedern auch andere Angehörige und Nachfahren, sich nun öffentlich zu Wort zu melden und ihre gemeinsamen Interessen in einer Stiftung zu wahren, die 1987 in kritischer Reaktion auf den umstrittenen Besuch von US-Präsident Ronald Reagan und Bundeskanzler Helmut Kohl auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg ins Leben gerufen wurde, wo auch SS-Leute beerdigt worden sind.

In den 1990er Jahren veränderten sich die Rahmenbedingungen für die Erinnerungskultur der „Weißen Rose“ erneut, weil mit der deutschen Wiedervereinigung erstmals Quellen für die Forschung verfügbar wurden, die bislang in den Archiven der DDR unzugänglich gewesen waren. Die Forschung arbeitete sich an diesen Quellen geradezu ab, vor allem wurde der Blick nun auch auf viele Handelnde gelenkt, die hinter den bekannten Hauptakteuren standen und bisher vergessen worden waren. Je mehr Personen des Umfeldes nun in die Forschung einbezogen wurden, desto mehr ergänzendes Quellenmaterial wurde entdeckt, desto mehr Zeitzeugen konnten Unbekanntes zur Geschichte der „Weißen Rose“ beitragen. Dies ließ mit der Zeit manche Gewissheit fragwürdig werden und öffnete den Blick für neue Thesenbildungen über Motivationen, Einstellungen und Lernprozesse der jungen Widerständler.

 

Dekonstruktion und mediale Vereinnahmung

Dieser Trend hat sich nach der Jahrtausendwende verstärkt und im Zeichen einer zunehmenden gesellschaftlichen Pluralisierung immer neue, „dekonstruierende“ und provokante Thesen über die „Weiße Rose“ hervorgebracht. Kaum verwunderlich ist, dass in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft die Annahme einer christlichen Motivation bei den Akteuren auf immer mehr Zweifel stieß. Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann haben früh schon die Ansicht vertreten, dass die katholischen Mitverschworenen ihre kirchlichen Bindungen zunächst hätten abstreifen müssen, bevor sie sich zum Widerstand hätten durchringen können. Unwidersprochen blieb das nicht: in jüngster Zeit entdecken neuere Publikationen durchaus wieder christliche Motivationen im Widerstand der „Weißen Rose“. Auch die seit den 1990er Jahren aufgearbeitete Rolle der Wehrmacht im „Dritten Reich“ hinterließ Spuren in der „Weißen Rose“ -Forschung: der Leiter des Bereichs Militär und Gesellschaft des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, Detlev Bald, sah nun im Erlebnis der Verbrechen an der Russlandfront den eigentlichen Antrieb für den ab Herbst 1942 intensivierten Widerstand der Sanitätssoldaten in der „Weißen Rose“. In diesem Zusammenhang gewann auch eine Zeitlang die schon länger bekannte Tatsache an Bedeutung, dass die Medizinstudenten an der Front übliche Aufputschmittel, womöglich auch Morphium, konsumiert haben, um dem psychischen Druck standzuhalten und eine geradezu rastlose Widerstandstätigkeit zu entfalten. Wussten sie dann aber noch, was sie da eigentlich taten?  Eine außerordentlich aufwändig recherchierte Münchner Dissertation, die 2008 erschien, griff nicht nur diese Zusammenhänge auf, sondern setzte zu einer Art Frontalangriff auf viele bislang gültige Gewissheiten über die Geschichte der „Weißen Rose“ an. Sönke Zankel glaubte unter Anknüpfung an zeitgenössische Debatten über den Antisemitismus in der deutschen Kriegsgesellschaft auch in den Flugblättern Hinweise auf antisemitische Einstellungen und antidemokratische Haltungen der Studierenden entdecken zu können. Und in den jüngsten Biographien zu Hans und Sophie Scholl, verfasst von dem evangelischen Pfarrer Robert Zoske, wird der Tatsache, dass Hans Scholl 1937 als Jugendlicher wegen Vergehens gegen § 175 StGB verurteilt worden war, ein besonderes Gewicht für die Erklärung seines Widerstandes beigemessen, ja auch Sophie Scholl eine „Sehnsucht nach gleichgeschlechtlicher Liebe“ unterstellt. Die Weiße Rose wird damit „zum Hoffnungszeichen auch für alle, die queer denken“ (H. G. Hockerts).

Bemerkenswert unberührt von solchen Neuinterpretationen ist die öffentliche Wahrnehmung der „Weißen Rose“ in der Breite der Gesellschaft geblieben. Die Individualisierung der Widerstandshelden allerdings und vor allem die Wahrnehmung von Frauen im Widerstand hat in der Erinnerungskultur eine zunehmende Bedeutung gewonnen. Die Wahl von Sophie Scholl zur „Frau des Jahrhunderts“ durch die Leserinnen der Frauenzeitschrift Brigitte im Jahr 2000 zeigt das ebenso wie ihre Aufnahme in die Walhalla 2003 oder ihre Ausstellung als Wachsfigur bei „Madame Tussauds“ in Berlin. Dieser Trend ist durch Marc Rothermunds Film „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ noch verstärkt worden. Hier steht Sophie Scholl nicht nur ganz im Mittelpunkt des Widerstandsgeschehens, was historisch durchaus fragwürdig ist, sie wird auch in Haltung und Charakter gleichsam wie eine Frau des Jahres 2005 gezeichnet. Ihre Religiosität und das innere Ringen in der Auseinandersetzung mit theologisch-philosophisch-politischen Werken sind dabei kaum noch zu erkennen. Gleiches gilt für den Versuch des Bayerischen und des Südwestrundfunks, Sophie Scholl zum 100. Geburtstag 2021 in einer Instagram (Hi)Story einem jungen Publikum nahezubringen, indem die letzten zehn Monate ihres Lebens mit den modernen Eigenlogiken dieses Mediums nachempfindbar gemacht – und sicher auch modern ver- und überformt wurden. Man darf sich fragen, ob solche Medialisierungen am Ende nicht auch abwegigen Vereinnahmungsversuchen Vorschub leisten, wie sie etwa bei der 22-jährigen „Jana aus Kassel“ sichtbar wurden, als diese sich 2020 in einer öffentlichen Protestveranstaltung in Hannover gegen die Corona-Schutzmaßnahmen der Regierung in eine Traditionslinie zu Sophie Scholl stellte. Mag man dies noch auf Unkenntnis zurückführen, stellt die 2017 in einer Facebook-Anzeige formulierte Behauptung eines bayerischen Kreisverbandes der rechtsradikalen AfD, „Sophie Scholl würde AfD wählen“, eine anmaßende, dreiste Geschichtsklitterung dar.   

Nimmt man alles zusammen, so zeigt sich, was im Übrigen auch an der öffentlichen Bearbeitung des „Wikipedia“-Beitrages zur „Weißen Rose“ abzulesen ist: die „Weiße Rose“ und insbesondere die Geschwister Scholl bleiben auch für die nächste Generation ein echter „Erinnerungsort“ (Pierre Nora). In ihnen verkörpert sich nach wie vor für sehr viele Menschen das auch in dunkelsten Zeiten der deutschen Geschichte immer auch Andere, das Gute im deutschen Volk.  

 

Michael Kißener ist Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

 

Literatur:

Ernst, Christian, Die Weiße Rose – eine deutsche Geschichte? Die öffentliche Erinnerung an den Widerstand in beziehungsgeschichtlicher Perspektive (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs, Bd. 34). Göttingen 2018.

Hikel, Christine, Sophies Schwester. Inge Scholl und die Weiße Rose (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 94). München 2013.

Kargl, Kristina, Die Weiße Rose – Defizite einer Erinnerungskultur. Einfluss und Wirkung des Exils auf die Publizität der Münchner Widerstandsgruppe (Bavaria, Bd. 1). München 2014.

Kißener, Michael, Christlich motiviert? Die Geschichte der „Weißen Rose“. Kontroverse Deutungen von den Anfängen bis zur Gegenwart, in: zur debatte H. 4, 2018, S. 43–48.

König, Simone, Die Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an den Widerstand der Weißen Rose an der Ludwig-Maximilians-Universität München von 1945 bis 1968 (Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München, Bd. 8). München 2017.

Steinbach, Peter, Tuchel, Johannes, Von „Helden“ und „halben Heiligen“. Darstellungen und Wahrnehmungen der Weißen Rose 1943 bis 1948, in: „Weitertragen“. Studien zur „Weißen Rose“, hrsg. v. M. Kißener, B. Schäfers. Konstanz 2001, S. 97–118.

 

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