Issue: Sonderausgabe 2021/2021
Es ist eine Binse: In der Welt verschieben sich die geopolitischen und ökonomischen Kräfteverhältnisse. Auch die Wiederkehr der Großmachtkonkurrenz ist mittlerweile Allerweltswissen. Bei ihr geht es nicht nur, aber doch im Kern um die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten, dem wankenden Platzhalter, und China, der aufsteigenden Groß- und potentiellen Weltmacht. Und so fragen sich daher immer mehr Europäer, wo ihr Platz ist in dieser Rivalität, die umfassend ist und immer schärfer wird: Ist er an Amerikas Seite, in der Mitte oder an der Seite des Herausforderers, der Staatskapitalismus mit kommunistischer Herrschaft kombiniert?
Viele Europäer sind der Auffassung, China werde in zehn Jahren die Vereinigten Staaten als stärkste Macht abgelöst haben. Nicht zuletzt die inneramerikanische Entwicklung hat zu dieser Einschätzung beigetragen. Das heißt nicht, dass sie der Propaganda Pekings auf den Leim gingen, die das chinesische Modell als dem westlichen überlegen anpreist. Die Wirtschaftsdaten sind auch so eindeutig – globale ökonomische Dominanz ist das strategische Ziel der chinesischen Führung.
Sollte es in den kommenden Jahren zu einem ernsthaften Konflikt zwischen China und Amerika kommen – ausgelöst etwa von einer Eskalation in und um Taiwan –, dann wären laut einer Umfrage des European Council on Foreign Relations zwei Drittel der Deutschen dafür, dass unser Land eine neutrale Haltung einnimmt. Neutralität wäre auch ihre Präferenz in einem amerikanisch-russischen Konflikt. Kann Neutralität wirklich der Platz sein für Deutsche und für Europäer im Allgemeinen? Wenn es um globale und regionale Stabilität geht, um ordnungspolitische Grundprinzipien, darum, nach wessen Regeln die technologische Infrastruktur der Zukunft aufgebaut wird? Zweifellos würden viele am liebsten Schiedsrichter sein und nicht Partei in einem Konflikt, an der jene Macht beteiligt wäre, von deren Schutzgarantie immer noch unsere Sicherheit abhängt. Man hat noch das Wehklagen im Ohr, als Donald Trump mit einem Ende dieser Garantie drohte. Europäische „Autonomie“ oder „Souveränität“ würde an der Abhängigkeit von Amerika, von seinem Schutz und seinem weltpolitischen Engagement, auf lange Sicht nichts ändern.
Nun ist nicht mehr Trump Präsident, sondern der Favorit der allermeisten Europäer, Joe Biden; derjenige, der Allianzen reparieren will und der internationale Kooperation und Multilateralismus nicht nur für ein antiamerikanisches Komplott hält. Biden will eine Koalition der Demokratien zusammenstellen, will deren Abwehrkräfte gegen innere und äußere Bedrohungen stärken, gekrönt von einem „Gipfel der Demokratien“.
Diese Übung in demokratischer Resilienz zielt auf die wirtschaftliche und geopolitische Expansion Chinas. Der Adressat selbst sieht es so. Deswegen hat Peking ja während des Interregnums in Washington den Europäern Zugeständnisse gemacht, um das chinesisch-europäische Investitionsabkommen über die Bühne zu bringen – vor Antritt des neuen Präsidenten und seiner Mannschaft. Einem transatlantisch, westlich koordinierten Ansatz hat Peking so erst mal die Luft entzogen. Aus chinesischer Sicht zahlte sich taktische Flexibilität aus, um das strategische Ziel zu erreichen. Ein paar Steine aus einer „westlichen Front“ kann man immer herausbrechen.
Die Regierung Biden hat begriffen, dass sie ohne Partner und Bündnisse die globalen Herausforderungen, zu denen Chinas Aufstieg gehört, nicht bewältigen kann. Für die umworbenen Partner gilt das ebenso. Oder glauben wir wirklich, wir könnten China Paroli bieten und unsere Interessen verteidigen, sollte es zu einem ernsten Streit und Konflikt kommen? Von unseren militärischen Fähigkeiten ganz zu schweigen.
Europäische und amerikanische Interessen sind nicht immer und nicht überall kongruent. Das war während des Kalten Kriegs nicht anders. Auch damals gab es Meinungsverschiedenheiten über den Atlantik hinweg. Aber die verblassten im Angesicht einer klaren ideologischen, politischen und militärischen Bedrohung. China fordert uns auf andere, nicht weniger machtpolitische Weise heraus. Im Falle Deutschlands ist es sogar so, dass unser wirtschaftlicher Erfolg auch von der Politik und Entwicklung der weltgrößten Diktatur abhängt. Diese Abhängigkeit von einem Systemantagonisten schränkt den Handlungsspielraum ein – China erwartet Wohlverhalten oder sucht es zu erzwingen.
Wenn der demokratische Westen herausgefordert wird, werden Europäer, werden Deutsche nicht als interessierte Dritte bestehen und ihre Interessen wahren können. Dafür und für die Gestaltung der Ordnung bleibt das Bündnis mit Amerika unerlässlich. Wenn Amerika sich wie zuletzt von der Gestaltungsaufgabe dispensiert, füllen autoritäre Regime das Vakuum. Wenn aber Amerika Partnerschaft anbietet, sollten wir uns zusammentun – und uns bewusst sein, dass wir allein nicht genug strategisches Gewicht aufbringen. Wir sind nicht Bauern oder Handlanger in Amerikas Konflikten. Doch es liegt auch an uns, ob der Westen sich behauptet.
Klaus-Dieter Frankenberger ist Mitglied der politischen Redaktion der F.A.Z. und war von 2001 bis 2020 verantwortlich für Außenpolitik.
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