Country reports
Lula bereitet seine Nachfolge vor
Präsident Lula wurde 2002 als Kandidat seiner Arbeiterpartei (PT) zum ersten Mal nach drei vergeblichen Anläufen zum Staatspräsidenten und Nachfolger des erfolgreichen Fernando Henrique Cardoso (Sozialdemokratische Partei, PSDB) gewählt. 2006 konnte er sich erneut durchsetzen gegen einen Kandidaten des PSDB, ohne jedoch wie erhofft bereits im ersten Wahlgang die nötige absolute Mehrheit erreicht zu haben. Seither verhalf ihm die Fortsetzung der stabilitäts- und wachstumsorientierten Politik Cardosos und die Einführung staatlicher Sozialprogramme, unterstützt durch hohes Wirtschaftswachstum zu außerordentlicher Popularität. Diese erreichte Ende 2008 mit Zustimmungswerten jenseits der 70 % ihren Höhepunkt. Trotz aller Forderungen aus seiner Partei und dem Umfeld widerstand Lula jedoch der Forderung nach einer Verfassungsänderung, die ihm eine weitere Amtszeit gesichert hätte. Damit grenzte er sich (und auch Brasilien) vom Caudillismus in einigen Nachbarstaaten ab, wo populistische Führer wie Hugo Chávez mittlerweile die unbegrenzte Wiederwahlmöglichkeit sich haben absegnen lassen.
Aufgrund dieser Sachlage begannen verständlicherweise früh in allen politischen Lagern die Überlegungen, wer denn Nachfolger Lulas als Präsident dieses nicht nur großen und bevölkerungsreichen (190 Mio. Einwohner), sondern weltpolitisch auch immer wichtigeren Landes werden könnte. Besonderes Interesse an einer optimalen Nachfolge hat natürlich Lula selbst, der sein Erbe sichern möchte und vielleicht sogar von einer verfassungsrechtlich möglichen Kandidatur bei den übernächsten Wahlen 2014 träumt. Schon 2008 wurde deutlich, dass Lula dabei auf seine Präsidentschaftsministerin (in etwa Kanzleramtsminister, aber mit mehr direkten operativen Vollmachten) Dilma Rousseff setzte. Er präsentierte sie schon 2008 in vielen öffentlichen Veranstaltungen, vor allem als „Mutter der PAC“. PAC ist die Abkürzung für die staatlichen Konjunkturprogramme, die bereits seit 2007, also vor Beginn der Finanzkrise, aufgelegt worden waren, um mit Investitionen in die Infrastruktur direkt Arbeitsplätze bei den Ärmsten zu schaffen und bessere Rahmenbedingungen für zukünftiges Wachstum zu entwickeln. Für 2007-2010 sind dafür rund 170 Milliarden Euro vorgesehen. Dilma Rousseff war oft bei den Einweihungen solcher Projekte an der Seite des Präsidenten und konnte so etwas mehr an öffentlichem Profil gewinnen. Dies sowie Charisma wird der Technokratin selbst von politischen Unterstützern abgesprochen. Als Defizit galt auch ihre fehlende Parteisozialisation in der sicher im Vergleich zu anderen gefestigtsten brasilianischen Partei, der PT. Andererseits schien keine der insgesamt 12 Parteien, die derzeit das Regierungsbündnis tragen, einen ernsthaften Anspruch auf die Präsidentschaftskandidatur anzumelden. Dies gilt selbst für die PMDB, die derzeit größte Partei Brasiliens, sowohl nach Mitgliedern als auch nach Amtsträgern, wie sie zuletzt bei den Kommunalwahlen im Oktober 2008 eindrucksvoll bestätigte.
Starke Kandidaten bei der Opposition: José Serra und Aécio Neves
Auf Seiten der Opposition sind zwei Kandidaten aus der Partei PSDB im Gespräch: Einerseits José Serra, Gouverneur des wichtigsten Bundesstaates São Paulo (ca. 41 Mio. Einwohner), der bereits 2002 in der Nachfolge von Fernando Henrique Cardoso angetreten war, aber gegen Lula verlor. Andererseits Aécio Neves, Gouverneur des ebenfalls sehr wichtigen Bundesstaates Minas Gerais (ca. 20 Mio. Einwohner). Der klare Favorit ist Serra, der landesweit profiliert und ein sehr erfahrener Politiker ist. Allerdings verfügt er über wenig persönliche Ausstrahlung in der Öffentlichkeit, während dem aus einer Politikerfamilie stammenden Neves genau dies nachgesagt wird. Er ist der Enkel des ersten frei gewählten Präsidenten Brasiliens nach der Militärdiktatur, Tancredo Neves, der noch vor der Amtsübernahme 1985 verstarb. Das hat den Namen Neves allerdings mit einem gewissen Mythos versehen.
Nun geht es darum, den aussichtsreichsten Kandidaten zu bestimmen, ohne die Partei PSDB zu zerreißen. Neves drängt deshalb auf innerparteiliche Vorwahlen, auch mit dem Argument einer Mobilisierung im Landesinnern. Vor allem die Unterstützer von Serra warnen vor innerparteilichem Streit zum Nutzen des politischen Gegners und verweisen auf die große politische Erfahrung Serras, der zuvor Oberbürgermeister der Metropole São Paulo und Minister in der Regierung Cardoso war. Alt-Präsident Cardoso relativierte das fehlende Charisma mit dem Hinweis, dass ihm als Professor das auch immer unterstellt wurde, er aber trotzdem zwei Mal den Charismatiker Lula in Präsidentschaftswahlen im ersten Wahlgang besiegt hat. Cardoso und viele andere setzen auf ein Tandem, das Serra zum Präsidentschaftskandidaten und Neves zu seinem Vize machen würde. Nun haben sich die beiden am 28. April zu einer ausführlichen Aussprache getroffen und vereinbart, eine einvernehmliche Lösung anzustreben und falls dies nicht möglich sei, zu Jahresbeginn 2010 innerparteiliche Vorwahlen abzuhalten. Bis dahin will man gemeinsam das Land bereisen und sich der Öffentlichkeit präsentieren. Das scheint ein fairer Kompromiss zu sein, der die Interessen beider Kandidaten berücksichtigt: Serra will nicht zu früh in den Wahlkampf einsteigen, da er dann als Gouverneur zurücktreten müsste, aber dort noch einmal wieder gewählt werden könnte. Er ist im Lande relativ bekannt und verfügt in den Umfragen insgesamt über die höchsten Werte. Neves hingegen ist außerhalb von Minas Gerais noch relativ unbekannt und hat bereits seine zweite Amtszeit als Gouverneur, kann also keinesfalls wiedergewählt werden.
In jedem Falle wird der von der PSDB ausgewählte Kandidat die Unterstützung einer weiteren relativ starken Partei, der Democratas (DEM) haben. Beide Parteien verfügen allerdings ebenso wie die meisten brasilianischen Parteien außer PT und PMDB nicht über flächendeckende Strukturen.
Fehlende Inhalte und das Schicksal
Bei all den Personaldebatten ist bisher völlig unklar geblieben, was ein PSDB/DEM-Kandidat als politische Alternative zu Lula / Dilma Rousseff anzubieten hätte. Auch wenn die Kandidatin bisher noch keine starke Unterstützung in den Meinungsumfragen gefunden hat, so zeigen diese doch, dass der Segen Lulas nach jetzigem Stand als wahlentscheidender Faktor zu gelten hat: Umfragen im März sagten, dass über 50 % der Wähler bereit wären, einen von Lula unterstützten Kandidaten quasi „ohne Ansehen der Person“ zu wählen. Selbst wenn sich diese Zahlen angesichts der auch in Brasilien zu spürenden Wirtschaftskrise, einem klaren Alternativkandidaten noch einmal relativieren dürften und auch die Kommunalwahlen im Oktober 2008 bewiesen haben, dass ein Fingerzeig Lulas allein nicht ausreicht, zeigen sie doch seine dominante Rolle in der politischen Öffentlichkeit Brasiliens.
Dies könnte sich auch angesichts der neuesten Entwicklung in dieser Frage bestätigen: Ende April teilte Dilma Rousseff völlig überraschend der Öffentlichkeit mit, dass sie einen bösartigen Tumor im Lymphbereich gehabt habe, der inzwischen operativ entfernt worden sei. Sie müsse sich nun einer viermonatigen Chemotherapie unterziehen, um weiteren Krebsentwicklungen vorzubeugen. Die Ärzte sprächen von 90 % Heilungschancen, sie werde ihre Amtsgeschäfte als Ministerin weiterführen. Dies überraschte Politik und Medien völlig, zumal Lula erst wenige Tage zuvor erstmals ganz eindeutig von Dilma als „seiner Kandidatin“ gesprochen hatte. Seitdem wird heftig über die Zukunft der Vor-Kandidatin und die Auswirkungen auf ihre Wahlchancen spekuliert. Nur die Schweinegrippe aus Mexiko konnte die intensiven medizinischen Analysen und Prognosen über Krebserkrankungen aus den Medien verdrängen.
Da Lula an seiner Kandidatin festhält und diese sich weiter in die Arbeit stürzt, bleibt zunächst vor allem eine Gewissheit: Die Personaldecke von Lulas Arbeiterpartei PT ist äußerst dünn. Nach Lula kann es nur eine/n Kandidaten/in von seinen Gnaden geben, verbunden mit der nicht unbegründeten Hoffnung, dass dies den Wählern ausreicht. Inhaltlich setzt das Lula-Lager auf eine Anti-Neoliberalismus-Kampagne. Nach dieser Lesart würde Serra oder auch Neves die populären Sozialprogramme wie Bolsa Família abschaffen. Diese Angstkampagne könnte angesichts der Wirtschaftskrise und des Umfangs der staatlichen Sozialprogramme durchaus verfangen: „Neoliberalismus“ ist mehr denn je Kampfbegriff geworden und Lula pflegt einen Diskurs in diesem Sinne: „Die Kapitalisten in den USA (und Europa) haben die Krise verursacht, und ich verhindere, dass die Brasilianer darunter leiden müssen“. Dies kommt an, nicht nur bei den 11 Millionen Familien mit ca. 45 Millionen Familienmitgliedern (Regierungszahlen), die durch das Programm Bolsa Família monatlich eine Zahlung erhalten, wenn sie bestimmte Auflagen der Gesundheitsvorsorge und der Schulbildung erfüllen. Weitere 3 Millionen Rentner, die faktisch ohne Einkommen waren, erhalten nun von der Regierung zumindest das gesetzliche Mindesteinkommen (ca. 150 Euro monatlich). Ob Serra oder Neves diesen Leuten und ihren Familien und Bekannten vermitteln können, dass auch sie Ähnliches tun wollen, aber vielleicht mit mehr Nachhaltigkeit, wird eine echte Herausforderung werden.
Skandale erschüttern weiter das Ansehen der Politik
Insgesamt dürfte es für jeden Kandidaten schwierig werden, das Vertrauen der Bürger zu finden. Das Ansehen der politischen Klasse ist durch neue Skandale im Umgang mit öffentlichen Geldern weiter gesunken. Die Medien betreiben aggressiven Investigativjournalismus, können aber nicht allein ihre Ergebnisse in einen gesellschaftlichen Prozess der Erneuerung einbinden. Das bedeutet, dass zu Recht Missbräuche aufgedeckt und öffentlich gemacht werden, aber Fortschritte oft nicht gewürdigt werden, die aber für die Motivation der Bürgerschaft zur Partizipation gebraucht werden.
So wurde der Skandal eines Bundes-Abgeordneten bekannt, der sogar eine herausgehobene Funktion im Bundesparlament innehatte, und offiziell über nur bescheidene Besitztümer verfügte. In Wirklichkeit hatte er aber anscheinend mit illegalen Geldern eine mehrere Millionen Euro teure Hotel- und Wohnanlage in Form eines Schlosses gebaut. Das Bild des Schlosses bestimmte tagelang die Schlagzeilen, dann wurde er zunächst aus seiner Partei und schließlich auch aus seiner Fraktion (DEM) ausgeschlossen und muss sich nun juristisch verantworten.
Neben diesem Einzelfall kamen aber auch einige systematische Missbräuche ans Tageslicht: Einerseits gab es im Senat jahrelang einen massiven Anstieg des Personals, der schließlich dazu führte, dass den 81 Senatoren 10.000 Mitarbeiter zu Diensten waren. Dabei handelte es sich allein um 181 sogenannte Direktorenstellen, also gehobene Beamte. Etliche dieser Stelleninhaber erschienen nie am Arbeitsplatz und wurden offenbar nur zum Empfang des Gehalts geführt. Nach Bekanntwerden dieser Fakten wurden einige Stellenstreichungen durchgeführt und vor allem der Chef der Senatsverwaltung entlassen. Nun soll ein unabhängiges Gutachten der Getulio-Vargas-Stiftung mehr Transparenz und Effizienz bringen.
Zuletzt ging es um Flugreisen für Abgeordnete, ein Thema, dass ja auch aus anderen Ländern bekannt ist: Die brasilianischen Abgeordneten verfügten bisher über eine feste Quote an Flugtickets, die vor dem Hintergrund der riesigen Entfernungen des Landes begründet ist. Dass diese Flugtickets aber für eher freizeitbedingte Reisen, für Familienmitglieder, Freunde und gar eine ganze Fußballmannschaft eingesetzt wurden, entsprach nicht der eigentlichen Idee. Zu ihrer Verteidigung brachten die Abgeordneten, zu denen Politiker aller Parteien und Regionen zählen, vor, dass diese Praxis nicht verboten und eben gängig gewesen sei. Unter massivem öffentlichem Druck wurde schließlich eine Neuregelung durchgesetzt, die vorsieht, dass die Tickets nur noch für Inlandsflugreisen der Abgeordneten und, in genehmigten Fällen, auch ihrer Mitarbeiter eingesetzt werden dürfen. Außerdem sollen alle Flugreisen im Internet veröffentlicht werden. Also auch hier ein beklagenswerter Skandal mit der Offenbarung einer eigenartigen Moral der betroffenen Politiker, aber schließlich doch eine kritische Öffentlichkeit, die substanzielle Änderungen erzwingt.
Fazit: Die innenpolitische Lage Brasiliens Anfang Mai 2009
Skandale erschüttern die öffentliche Meinung, während sich die politische Klasse bereits auf den großen Wahlgang im Oktober 2010 vorbereitet, der neben der Präsidentschaft über die beiden Kammern des Bundesparlamentes, die Gouverneure der 27 Bundesstaaten und deren Landesparlamente entscheidet. Es gibt die Partei Lulas ohne überzeugende Nachfolgeoption auf der einen Seite und die Opposition mit der Qual der Wahl zwischen zwei Kandidaten, aber ohne landesweite Parteistrukturen und eine klare inhaltliche Alternative zu Lulas Politik. Eine wichtige Rolle wird daher die stärkste Partei PMDB spielen: Ihr wird unterstellt, als Programm nur die Teilhabe an der Macht zu haben. Derzeit befindet sie sich im Bündnis mit Lula, es zeigen sich aber auf der Ebene der Bundesstaaten mehrere Ansatzpunkte für Allianzen mit PSDB/DEM bei den Gouverneurswahlen. Die Kandidaten Serra und Neves bemühen sich jedenfalls um gute Kontakte zur PMDB. Nicht zuletzt wegen dieser Rahmenbedingungen wäre jede Prognose über Brasiliens politische Führung nach Lula deutlich verfrüht.
Umgeben von instabilen und polarisierten politischen Systemen in Südamerika wirkt Brasilien wie der „stabile Riese“, dennoch sollten die Schwachstellen des politischen Systems nicht übersehen werden. Die allseits geforderte Reform zur Stabilisierung insbesondere des Parteiensystems und der Schaffung von mehr Rechenschaftspflicht scheint einmal mehr auf „nach den Wahlen“ verschoben worden zu sein.