In einem Land, in dem es nicht nur erlaubt, sondern fast normal ist, sich selbst, ein Hologramm oder einen Roboter zu heiraten, ist die demografische Entwicklung definitiv ein Problem. Rund dreißig Prozent der 123 Millionen Japaner sind über 65 Jahre alt, die unter 14-Jährigen stellen nicht einmal mehr zwölf Prozent der Bevölkerung. Überlastete Sozialkassen und die seit Jahren stagnierende Wirtschaft führen in eine fundamentale Krise, von der sich Japan ohne massive Zuwanderung von Arbeits- und insbesondere Fachkräften nicht erholen kann. Denn weder die angekündigten Subventionen für Familien und Kinder noch die Automatisierung des Dienstleistungssektors können den Negativtrend aufhalten.
Gespannt blickte die Welt vor sieben Jahren auf Japans Konzept „Gesellschaft 5.0“, mithilfe dessen vernetzte Künstliche Intelligenz (KI) in den Bereichen Pflege, Digitalisierung, Mobilität, Energie und Industrie zu einem gesellschaftlichen Wandel beitragen sollte. Es ist still geworden um das ambitionierte Vorhaben: Die Statistiken des Global Innovation Index sehen Japan weiterhin abgeschlagen hinter den USA, auch hinter Deutschland, Südkorea und China. Japan hat viel von seinem ingeniösen Ruf eingebüßt; die zukunftsweisenden technischen Entwicklungen finden derzeit in anderen Ländern statt.
Japan hat dennoch die drittgrößte Industrieroboterdichte der Welt, nach Singapur und Südkorea. Zu erklären ist dies mit der starken Spezialisierung der Automobilindustrie. Schon in den 1960er-Jahren mangelte es Japan an Fachkräften. Statt auf Einwanderung zu setzen, wurden Roboter für Fertigungsanlagen gebaut. Ein Trugschluss wäre es jedoch, darauf zu hoffen, dass auch dieses Mal eine ausreichend spezialisierte Masse von Robotern die künftig fehlenden dreizehn Millionen Arbeitskräfte ersetzen könnte. Daran glauben selbst die nationalistischsten Kräfte des Landes nicht mehr, und so werden die Zuwanderungsgesetze für ausländische Fachkräfte sukzessive novelliert. Japans Ökonomen haben errechnet, dass 6,7 Millionen ausländische Spezialisten bis 2040 benötigt werden. Ob die gewünschte Zahl jemals erreicht wird, darf angesichts der hohen sprachlichen und bürokratischen Hürden bezweifelt werden. Die Zahl der eigenen Arbeitnehmer ist dagegen endlich: Zwanzig Prozent der Arbeitskräfte gehen Japan durch die demografische Entwicklung bis 2040 verloren. Weder ein Renteneintrittsalter von siebzig Jahren noch die angestrebte Vollzeitbeschäftigung für Frauen halten die negativen Entwicklungen am Arbeitsmarkt auf. Betroffen sind alle Bereiche: der Dienstleistungssektor, die Industrie, das Gesundheitswesen. Japan muss also wieder innovativ werden.
Aus der Not wird eine Tugend, denn ganz nebenbei könnte eine verstärkte Automatisierung die Produktivität Japans wieder steigern. Im direkten Vergleich aller G7-Staaten liegt Japan seit Jahrzehnten unverändert auf dem letzten Platz. Für das mäßige Abschneiden im globalen Produktivitätsindex sind viele Faktoren verantwortlich: Firmen haben seit dem Automatisierungsboom vor fünfzig Jahren zu wenig in neue Technologien investiert, die traditionell hierarchische Arbeitskultur, eine starre Arbeitsgesetzgebung sowie angestrebte lebenslange Firmenzugehörigkeit stehen Mobilität und Qualifizierungen im Weg. Das konservative Banken- und Kreditwesen verhindert eine flexible Finanzierung für Start-ups und Firmengründungen. Restriktive Regularien für ausländische Direktinvestitionen und eine stetig abnehmende Arbeitskraft wirken sich seit Jahren negativ auf die Innovationskraft Japans aus. Faxgeräte und Stempel sind bis heute der Betriebe liebste Kinder und auch Zeugen dafür, dass die Zeit in Japan teilweise stehen geblieben ist.
Mit umfassenden Reformen steuert die Regierung gegen diese mangelnde Innovationskraft an. Sie will Datenkompetenz an Schulen und auf künstliche Intelligenz fokussierte Studiengänge und Forschungsinitiativen an Universitäten fördern. Vereinfachte regulatorische Überprüfungsprozesse für Unternehmen sollen Innovationen den Marktzugang erleichtern. Einige Branchen können nicht auf die positiven Effekte der Reformen warten und steuern bereits jetzt um. Insbesondere die kleinen und mittelständischen Unternehmen investieren verstärkt in vollautomatisierte Abläufe. Gleiches gilt für den Landwirtschaftsbereich; insbesondere bei der personalintensiven Ernte sollen künftig Roboter zum Einsatz kommen. Supermarkt- und Großhandelsketten automatisieren das Einräumen, Kassieren und Bedienen. An Informationsschaltern in Flughäfen, Einkaufszentren und Vergnügungsparks beraten mehrsprachige Androiden die Kundschaft. In Restaurants übernehmen Automaten vollständig Bestellung, Bedienung und Bezahlung. In ausgewählten Stadtgebieten nutzen Post, Apotheken und Pizzerien KI-gesteuerte Roboterautos für Auslieferungen. Dennoch hängt Japan in der Entwicklung der Robotik und künstlichen Intelligenz hinterher: Singapur verzeichnet die höchste Start-up-Dichte für die KI-Entwicklung in Asien, während China weltweit am intensivsten an künstlicher Intelligenz forscht. Die entsprechenden Investitionen Chinas übersteigen diejenigen Japans um knapp 65 Prozent.
Bei allen erfolgversprechenden Versuchen, Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor zu ersetzen, ist es wichtig, die rechtlichen, sozialen und ethischen Aspekte dieser Entwicklung im Blick zu behalten. Im Gesundheitsbereich zum Beispiel bedarf es trotz schwindender Fachkräfte weiterhin einer emotionalen Intelligenz und menschlicher Zuwendung. Eine Million Fachkräfte werden dem Pflegebereich im Jahr 2040 fehlen. Folglich ist der Bedarf an Lösungen in diesem Sektor besonders hoch und aufgrund der erwartbaren Altersstruktur äußerst dringlich. Zuwanderung von geschulten ausländischen Fachkräften und spezialisierte Robotik sollen Abhilfe schaffen. Serviceroboter mit Deep-Learning-Eigenschaften können Menschen im Alltag künftig unterstützen. Toyota ist der Vorreiter in der Entwicklung von Human Support Robots; diese sollen neben den Fachkräften die Grundversorgung im Pflegebereich sicherstellen. Ziel ist es, einfache Geräte zu entwickeln, die sich problemlos in Einrichtungen integrieren lassen. Es ist eine heikle Wette auf die Zukunft des Landes: Japan wird in den kommenden Jahren ein Viertel seines Bruttosozialprodukts für Gesundheit, Pflege und soziale Maßnahmen aufwenden müssen. Die Entwicklungskosten für die benötigte entlastende Robotik sind in dieser Rechnung noch nicht enthalten. Letztendlich wird Japan den Arbeits- und Fachkräftemangel nur mit Zuwanderung lösen können. Alles auf mekanizumu – also auf Mechanik – zu setzen, wäre zu einfach, denn Robotik, besonders im Pflegebereich, bleibt ein hoher Kostenfaktor und löst die sozialen und gesellschaftlichen Probleme Japans nicht.
Rabea Brauer, geboren 1974 in Nordhausen, Leiterin des Länderprogramms Japan und des Regionalprogramms Soziale Ordnungspolitik in Asien (SOPAS) der Konrad-Adenauer-Stiftung.