Jüngst konnte ich meine einjährige Tochter auf eine Probefahrt in ihrem neuen Autositz mitnehmen. Lange schon war sie dem alten Sitz entwachsen. Ihre Autositzzukunft bietet nun neue Perspektiven: Wo sich meine Tochter in der Babyschale stets rückwärts zu ihren Verpflichtungen kutschieren ließ, ist der neue Sitz – ein veritabler Kindersitz eben! – nun so angebracht, dass sie sich in Fahrtrichtung fortbewegt. Große Freude macht es ihr nun, ein Verständnis davon zu haben, wohin wir eilen. Und das geht uns Erwachsenen doch genauso. Oder?
Wenn ich nicht gerade Chauffeur meiner Tochter bin, beschäftige ich mich mit den Transformationen unseres Wirtschaftens und insbesondere mit der Zukunft der Arbeit. Haben wir dort auch einen Begriff von der Richtung, in die wir fahren?
Folgen wir dem Soziologen Hartmut Rosa, zeichnet sich unsere Gegenwart ganz allgemein durch einen rasenden Stillstand aus: Wie in einer rückwärtsgewandten Babyschale spüren wir die Beschleunigung, ohne einen Schimmer davon zu haben, wohin die Reise geht (Rosa, Demokratie braucht Religion, 2022). Wir scheitern deshalb daran, all die Raserei mit einem Verständnis von echtem Fortschritt zu verbinden. Der Begriff des rasenden Stillstands, den Rosa dem französischen Philosophen Paul Virilio entliehen hat, umfasst dabei zwei Dimensionen. Da ist zum einen eben, „dass die Gesellschaft rast – und zwar aus strukturellen Gründen, sie muss geradezu rasen“, um nicht aufgrund verfehlter Wachstums-, Aufstiegs-, Wohlstandsziele zu implodieren. „Zum anderen aber verharrt sie, oder ist sie erstarrt. Denn sie hat den Sinn für die Bewegung verloren“, so Rosa weiter. Die Raserei drückt sich in Aggressionsverhältnissen aus: zu unserer Umwelt, unseren Mitmenschen und zu uns selbst und unserem Körper. Sind wir gezwungen, uns permanent zu steigern, permanent aufs Gas zu treten, ohne den Sinn dieser den Planeten, die Gesellschaft und die Psyche verheizenden Bewegung zu erkennen, dann sind wir in einer Krise, so Rosa. Dann finden wir uns in einem Blindflug wieder.
Arbeit in der Zukunftskrise
Ein zentraler Ort dieser Raserei ist die Arbeitswelt. Der Ort, an dem wir uns unsere Welt erarbeiten – und sie in vielerlei Hinsicht auch abarbeiten. Der Ort, der aber stets auch das Potenzial zum Verhandeln und Ausprobieren fortschrittlicher Weltbezüge in sich birgt.
Heute noch erleben wir in der Arbeit eine Krise des Engagements: In einer globalen Studie zum Thema Mitarbeiterzufriedenheit resümiert das Forschungsinstitut Gallup, dass „einige der alarmierendsten regionalen Ergebnisse aus Westeuropa stammen“: Lediglich zehn Prozent der Mitarbeiterschaft sind hier „engaged“, übersetzen Zufriedenheit also in Einsatz und Loyalität, 71 Prozent sind hingegen „not engaged“ – machen Dienst nach Vorschrift –, und 19 Prozent sind sogar „actively disengaged“, betreiben also aktiv Arbeitsvermeidung – für viele Menschen ist Arbeit kein Wirkungsort mehr, sondern ein Absitzen von Lebenszeit.
Auch erleben wir eine Krise des Zusammenhalts: Beschleunigung im Sinne Rosas funktionierte nur, solange Menschen das Gefühl hatten, für eine bessere Zukunft zu arbeiten. Dass sie sich anstrengen, damit es die Kinder „einmal besser haben“. Das hielt die Generationen zusammen. Nun erleben wir Generationskonflikte in der Arbeit und sehen, wie sich junge Menschen von dem Aufstiegsversprechen durch Arbeit immer mehr abwenden. Das Einkommen durch Arbeit ist heute um ein Vielfaches höher besteuert als das Einkommen durch Erbe oder Kapital. Die Aussicht, sich einen Immobilienbesitz zu erarbeiten, galt früher als eine ziemlich spießige Vorstellung. Heute ist sie eine ziemlich illusorische Vorstellung. Man muss ihn sich ererben. Die Systeme, die Care-Arbeit temporär outsourcen, wie Kindergärten oder Pflegeheime, sind heute dermaßen überlastet, dass arbeitende Menschen lieber vorsichtshalber auf Teilzeit gehen. All das zeigt: Arbeit lohnt sich einfach nicht mehr. All das zeigt: Es sind die Verhältnisse, die uns zu den Abkehrbewegungen von der Arbeit bringen, die wir heute erleben – und nicht das Verhalten irgendeiner wohlstandsverwöhnten Generation. Damit kehren wir uns allerdings auch von der Möglichkeit der sozialen Integration und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt ab, den nur die Arbeitswelt leisten kann.
Das ist fatal, weil wir damit auch die Chancen verpassen, aus der Arbeitswelt einen Raum des Umlernens in der Klimakrise zu machen. Dass wir uns „von mittelgroßen Primaten zu einer prägenden Kraft für die physikalischen und biogeochemischen Prozesse auf diesem Planeten“ (Eva Horn) entwickelt haben, ist vor allem ein Ergebnis unserer Arbeit. In der Arbeit laden wir die gesellschaftliche Software herunter, der erste Job prägt uns mehr als das erste Kind – heutzutage heißt dies noch: Wir lernen, den Planeten abzuarbeiten.
In Zukunft brauchen wir den Ort der Arbeit deshalb für ein (Um)Lernen neuer Praktiken, weil uns nur dort ein nichttraumatisierendes, gemeinschaftliches Bewältigen der Klimakrise gelingen kann. Deshalb müssen wir dem derzeitigen Trend der Abkehr von Arbeit etwas entgegensetzen: Arbeit besser machen, enkeltauglich machen! Das freie und von einer besseren Zukunft motivierte Umlernen in der Arbeitswelt ist die einzige Alternative zu einer Politik des Zwangs, einem Ausspielen von Klimakrise und Demokratie. Zweifellos werden wir in Zukunft unsere Art des Wirtschaftens anpassen müssen, die Frage ist nur: Gelingt uns das by Design or by Desaster?
Im Babysitz des Anthropozäns?
Dafür brauchen wir einen neuen Richtungssinn in der Arbeitswelt, jenseits der Raserei. Welch ein Glück also, dass derzeit überall von „Zukunft der Arbeit“ und „New Work“ gesprochen wird: auf CEO-Podien, in ehrgeizigen LinkedIn-Posts, von diversen Coaches und in zahlreichen Businessportalen – ist das nicht Ausdruck vernünftiger Fortschrittsvorstellungen? Steckt dahinter kein erneuerter Sinn für eine Bewegung? Sicherlich wird jemand, der die Zukunft der Arbeit so lautstark ins Visier nimmt, erkennen können, dass diese auf einem durch unsere Raserei ächzenden Planeten stattfinden muss – weil es für „New Work“ ja keinen „New Planet“ gibt, oder?
In meinem im Oktober erschienenen Buch Work-Survive-Balance identifiziere ich vier archetypischen Arten, wie die Zukunft der Arbeit betrachtet wird, und frage: Haben diese ein Verständnis von Fortschritt, oder sitzen sie im Babysitz des Anthropozäns?
Da ist der Typ der Techno-Utopistin.1 Sie glaubt, dass die Herausforderungen der Arbeitswelt vor allem technologische Herausforderungen sind. Meist sind es Produktivitätsherausforderungen, die ihr lösenswert erscheinen: die App für schnellere Meetingplanung, das vernetzte Büro, der transparente Mitarbeiter. Sie glaubt, dass ein ewiges Weiter-so bei unverändertem Verhalten möglich ist, wenn wir nur niemals aufhören, neue Tools zu erfinden – vielleicht lässt sich bald emissionsfreies Erdöl 3D-drucken. Woraus? Auch das wird uns noch einfallen! Sie glaubt, dass sich die Folgefragen von Technologie immer auch mit Technologie beantworten lassen. Im Stile technokratischer Vordenker wie Margaret Thatcher ist sie auf eine Gesellschaft und eine Verständigung über eine bessere Zukunft genauso wenig angewiesen wie auf planetare Grenzen. Es gibt nur Userinnen, die tolle Innovationen haben wollen – oft in Formen digitaler Weltflucht (etwa das Metaverse). Keine Bürger, die mitgestalten sollten. Es gibt nur neue Tools, Gadgets, Apps. Niemals Exnovationen, wo wir auch mal mit etwas aufhören.
Dann gibt es den Kulturverwerter, dem knappe Ressourcen durchaus Sorge bereiten – vor allem denkt er dabei aber an knappe motivationale Ressourcen. Wenn doch alle nur mehr mit dem Herzen dabei wären, jauchzt er, wäre das nicht schon das himmlische Jerusalem einer besseren Arbeitswelt? Er begegnet uns, wenn sich Firmen plötzlich „Familie“ oder „Tribe“ nennen. Wer Teil einer Familie ist, gründet keinen Betriebsrat, praktisch! Ein Stamm hat unangefochtene Strukturen und einen klaren Boss, auch praktisch! Der Kulturverwerter arbeitet psychologische Ressourcen in der Arbeitswelt in der gleichen Logik ab, mit der auch ökologische Ressourcen abgearbeitet wurden: restlos. Arbeit wird zur letzten Sinnquelle, zur letzten Religion, zum letzten sozialen Kreis. Uns begegnet seine zynische Romantik, wenn Achtsamkeitskurse angeboten werden, in denen besser über die Frage nach geregelten Arbeitszeiten meditiert werden sollte. Oft geschieht dies auch mit Meditations-Apps, als wäre innere Ruhe downloadbar – hier gibt er der Techno-Utopistin die Hand.
Die Innovationspraktikerin versteht, dass wir uns nicht aus der Welt herausdigitalisieren können und dass auch Familienmetaphern nichts verändern. Wenn es nach ihr geht, brauchen wir einfach mehr kreativen Output für die Rettung der Arbeit, und zwar nach dem Design-Thinking-Prinzip Quantity over Quality. Ein Prinzip, das das industrielle Dogma der Extraktion aller Ressourcen zur Kreativitätsmethode erklärt: Schnellere Prototypen, alle Perspektiven verwerten, Produkte ohne Zaudern auf den Markt werfen, testen, wegwerfen, sind die Anweisungen in diesem Innovationstheater. Ein zweites Prinzip, so der Ethnologe Tim Seitz, ist permanente Dringlichkeit: „Ihr habt noch zwei Minuten für alle Ideen zu dieser Frage – dann ist Schluss!“, „Noch 30 Sekunden, bis der Prototyp fertig ist!“, „Ich will mindestens 20 Ideen für den Einkaufswagen der Zukunft sehen!“ In Hackathons und anderen Tischfeuerwerken arbeiten sich die Menschen unter der Innovationspraktikerin in den Rausch. Der Rhythmus der Industrieproduktion wird in die Kreativitätsarbeit eingeführt – und damit auch die Pathologien der Arbeit im Anthropozän. Endlich wieder Fließband! Obendrein wird Kreativität oft gar nicht entfesselt, sondern eingehegt, so Seitz: Wenn Mitarbeiterinnen einmal im Jahr out of the box denken dürfen, hat das vor allem den Effekt, dass die Box im restlichen Jahr etwas erträglicher ist.
Zuletzt gibt es den Zieleformulierer, eine vergleichsweise junge Figur, die Zukunft zu denken. Dieser verfügt über ausgezeichnete Verbindungen zum Vorstand (schon lange Freunde bei LinkedIn!) und eine große Social-Media-Community. Manch einer schafft es gar in sein Mekka – nach Davos. Dort und überall denkt er über die ganz großen Zukunftsfragen nach. Und mit „groß“ meint er „fern“: Flugtaxen, KI, gelegentlich tatsächlich auch Umweltfragen. Aus der Auseinandersetzung mit diesen Fragen entwickelt er wundervoll ferne Fiktionen und posaunt sie dann hinaus: 2030 schon arbeiten wir komplett remote! 2040 haben wir eine ausgeglichene Geschlechterquote im Vorstand! 2050 beginnt die Zukunft dann schon: Wir werden klimaneutral. Nur eines ist wichtig: Zu nah an die Gegenwart sollen all diese Ziele bitte nicht gehen. Manches würde sich als Greenwashing herausstellen. Der Zieleformulierer weiß, dass es in einer Welt, in der der Finanzmarkt viermal so groß ist wie die Realwirtschaft, vor allem auf gute Signale ankommt; damit allein ist die Aufmerksamkeitsökonomie erst einmal gut bedient.
Eine Analyse des Carbon Disclosure Projects zeigte, dass fast fünfzig Prozent aller Unternehmen in Europa Klimaschutzziele haben, die sich am Pariser Klimaabkommen orientieren, dass aber weniger als fünf Prozent auch über ein Maßnahmenpaket verfügen, wie sie diese Ziele erreichen wollen. Große Ziele, null Plan.
Wenn das die Lösungen sind, die die Zukunftsdiskurse der Arbeit parat haben, dann will ich mein Problem zurück. Das Problem ist das sinnvolle, gemeinschaftliche Arbeiten im Anthropozän. Die Frage nach einer fortschrittlichen Selbstverortung in einer Welt, die die Spuren unserer Arbeitsraserei als Narben trägt. Alles andere ist Zukunftsverkürzung, „Old Work“ in neuen Schläuchen. Meine Tochter wird vermutlich bis zur Schwelle zum 22. Jahrhundert arbeiten müssen. Der Arbeitswelt, die einen Begriff davon hat, wie ihr das gelingen soll – im Hinblick auf ökologische, gesellschaftliche und auch auf Rentensysteme – ist der Schritt aus der Babyschale leider noch nicht gelungen.
1 Anmerkung des Autors: Ich benutze ein generisches Maskulinum und ein generisches Femininum im Wechsel.
Hans Rusinek, geboren 1989 in Düsseldorf, Mitglied des Promotionskollegs Soziale Marktwirtschaft der Konrad-Adenauer-Stiftung, promoviert an der Universität St. Gallen zum Thema „Organisational Purpose“, ist freier Organisationsberater und war als erster Mitarbeiter beim Aufbau der europäischen Purposeberatung der Boston Consulting Group tätig. Als Autor beteiligt er sich an Debatten zwischen Wirtschaft und Gesellschaft (etwa in „BrandEins“ oder „Deutschlandfunk“), 2020 mit dem Förderpreis des Ludwig-Erhard-Preises für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. Im Oktober erschien sein Buch „Work-Survive-Balance“ (Herder Verlag).