Viele Menschen sind verunsichert. Immer mehr persönliche, sensible Daten werden gesammelt und gespeichert. Und immer lauter werden die Stimmen jener, die glauben, uns drohte im Zeitalter von Big Data ein Verlust der Kontrolle über unsere Daten. Doch so verständlich diese Ansicht sein mag: Sie ist unzutreffend. Erstens suggeriert sie, dass wir bisher die tatsächliche Kontrolle über unsere Daten ausgeübt hätten. Das ist aber falsch: Deutsche und europäische Datenschutznormen geben zwar ein umfassendes Regelwerk für den Umgang mit personenbezogenen Daten vor, das die informationelle Selbstbestimmung jedes Einzelnen sicherstellen soll. Aber in der Praxis haben wir oft keine andere Wahl, als in das umfassende Sammeln und vielfältige Verwenden unserer Daten einzuwilligen, um in den Genuss von Produkten und Dienstleistungen zu gelangen. Kaum jemand liest das Kleingedruckte, und diejenigen, die es tun, sind durch die schwammigen Formulierungen bestenfalls verwirrt. Gerade in Deutschland kommt eine aufwendige Durchsetzung vor ordentlichen Gerichten hinzu, die viele scheuen. Der vermeintlich strenge Datenschutz ist in der Realität daher ein zahnloser Tiger.
Das Problem liegt aber tiefer. Bis vor wenigen Jahren war das Sammeln, Speichern und Auswerten von Daten schwierig und teuer. Sie wurden daher oft nur für einen ganz bestimmten, bereits bekannten Zweck gesammelt. Nach ihrer Verwendung wurden die Daten schon aus wirtschaftlichen Gründen faktisch „vergessen“. Damit war zweckgebundener Datenschutz relativ einfach.
Im Zeitalter von Big Data ändert sich das grundlegend. Das Sammeln, Speichern und Auswerten von Daten ist nun günstiger und einfacher. Daten können nicht nur einmal, sondern immer wieder für neue Zwecke verwendet werden, an die beim Sammeln unter Umständen noch niemand gedacht hatte. Außerdem wird die Suche nach neuen Mustern und Fragestellungen in den Daten ermöglicht.
Der Kern von Big Data
Beispielsweise konnte Duolingo (ein Unternehmen, das eine kostenlose App zum Erlernen von Fremdsprachen anbietet) bei der Analyse der Lerndaten von Millionen Nutzern weltweit überraschende Patterns finden – etwa, dass spanische Muttersprachler Englisch bisher falsch lernten, weil sie zu früh mit bestimmten Grammatikregeln konfrontiert wurden. Niemand bei Duolingo hatte sich diese Frage zuvor gestellt. Erst die Datenanalyse hatte darauf aufmerksam gemacht.
Diese Wiederverwendung von Daten mit dem Ziel, neue Fragen zu generieren, ist der Kern von Big Data. In einer dramatischen Geschwindigkeit werden dadurch neue Einsichten und ein besseres Verständnis der Welt erzeugt, in der wir leben – von der automatisierten Diagnose von Hautkrebs bis zu selbstfahrenden Autos. In den Medien wird dabei gern der Begriff der „künstlichen Intelligenz“ verwendet, der aber an der Sache vorbeigeht, weil keine abstrakte Intelligenz entsteht. Stattdessen lernen Computer, aus einer Unmenge von Daten Muster zu erkennen, die auf bisher unbekannte Wirkungszusammenhänge hindeuten. Die Intelligenz liegt also in der Möglichkeit, aus den Daten „verborgene“, neue Einsichten zu gewinnen.
Hierfür reicht das herkömmliche Datenschutzrecht nicht mehr aus. Es schränkt zwar die Wiederverwendung von Daten für neue Zwecke deutlich ein, gewährleistet aber faktisch keine Kontrolle der Daten durch den betroffenen Menschen. Problematisch ist nicht nur, wie Datenschutzregeln formuliert werden, sondern bereits die Vorstellung, dass jeder und jede Einzelne selbst die eigenen Daten zu „kontrollieren“ habe.
Um eigenverantwortliche Kontrollentscheidungen zu treffen, müssten Bürgerinnen und Bürger nicht nur viel Zeit in diese Entscheidungsprozesse investieren, sondern auch über ein umfassendes Expertenwissen verfügen. Das ist absurd, schließlich erwarten wir ja auch von Patienten nicht, ihre Medikamente auf Nebenwirkungen zu prüfen, oder von Autofahrern, beim Fahrzeugkauf den „Elchtest“ zu machen. Überall dort, wo die Prüfung komplexer Zusammenhänge profundes Fachwissen und intensive Beschäftigung erfordert, bedienen wir uns entsprechender Prüfverfahren und -institutionen, von der Lebensmittelkontrolle bis zum Fahrstuhl-TÜV. Und wir verpflichten die Unternehmen, an der Prüfung aktiv mitzuwirken. Indem wir diese Kontrollfunktionen den Experten übertragen, wird sie nicht schlechter, sondern besser, effektiver und effizienter.
Das ist aber nur ein Aspekt: Weil Big Data die Wiederverwendung der Daten in den Vordergrund rückt, muss man von der Zustimmung der Betroffenen beim Sammeln von Daten abrücken, denn zu diesem Zeitpunkt ist noch nicht klar, zu welchen Zwecken die Daten später verwendet werden. Stattdessen muss das Augenmerk auf die spätere Datennutzung und die damit verbundenen möglichen Risiken für die Betroffenen gerichtet werden. Mithilfe konkreter Risikoanalysen lassen sich dann für jede Verwendung Strategien festlegen, um den potenziellen Schaden für Betroffene zu minimieren.
Fundamentale Änderung im Datenschutz
Auch dafür gibt es längst treffende Analogien: Je schneller ein Auto fährt, desto besser müssen die Bremsen funktionieren. Hersteller haften dafür, dass sie die Risiken nicht nur erkannt, sondern auch entsprechende Konsequenzen daraus gezogen haben. Schließlich streichen die Hersteller auch den Großteil des wirtschaftlichen Mehrwerts ein. Diesen richtigen und bewährten Ansatz brauchen wir ebenfalls für den Einsatz von Big Data. Im neuen Datenschutz haften Unternehmen, die großen wirtschaftlichen Gewinn aus der Datenanalyse ziehen, für den verantwortungsvollen Umgang mit den Daten, sind dafür aber nicht länger von der Zustimmung der Betroffenen bei der Wiederverwendung der Daten abhängig.
Mit diesem Wechsel der Datenkontrolle wird sichergestellt, dass in Zeiten von Big Data mit sensiblen, persönlichen Daten verantwortungsbewusst umgegangen wird, ohne dass die Betroffenen die ganze Kontrolllast selbst schultern müssen. Gleichzeitig liegt darin die Voraussetzung dafür, dass Wirtschaft und Gesellschaft von den neuen, aus Daten gewonnenen Einsichten lernen und damit in Zukunft bessere Entscheidungen treffen können.
Mittels dieser fundamentalen Veränderung im Datenschutz kann man jedoch nicht allen zentralen Herausforderungen, mit denen uns Big Data konfrontiert, begegnen. Ein weiterer Fehlschluss von Vertretern der Behauptung eines vermeintlichen individuellen Kontrollverlusts liegt in ihrer verengten Sicht auf die Datenökonomie.
Dank Big Data verbessern Unternehmen ihre Produkte und Dienstleistungen, indem sie aus den Daten lernen, die von den Nutzerinnen und Nutzern generiert werden. Selbstfahrende Autos werden mit jedem autonom gefahrenen Kilometer besser, weil die Analyse der durch die Fahrleistung generierten Daten die Software lernen lässt. Damit werden Fahrzeuge künftig via Softwareupdate über Nacht besser, während konventionelle Autos mit der Zeit bloß rosten. Das automatisierte Lernen aus gesammelten Feedbackdaten, wie es Tesla und Google bereits praktizieren, bildet künftig verstärkt eine Quelle für Innovationen. Nicht mehr lediglich der Geistesblitz guter Ingenieure, sondern vor allem auch die in den Daten versteckten Einsichten über die Wirklichkeit bringen uns vorwärts.
Wettbewerb am Datenmarkt
Ein besseres Verständnis der Wirklichkeit, in der wir leben, schafft gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Mehrwert, weil es uns eine bessere Entscheidungsgrundlage bietet. Das ist nicht weniger als Aufklärung 2.0 – und damit die Fortsetzung eines jahrhundertealten europäischen Projektes zum Verständnis der Welt.
Aber den damit verbundenen Herausforderungen sollten wir nicht allein durch einen neuen, besseren Datenschutz begegnen. Denn aus Daten lernen können nur jene, die auch Zugang zu ihnen haben. In der Zukunft könnte sich daher die wirtschaftliche Innovationskraft bei den großen Datenkraken bündeln. Die Folge wäre eine starke Konzentrationsdynamik am Markt.
Markt braucht aber Wettbewerb – und der erfordert viele Anbieter. Wenn Big Data diesen Wettbewerb untergräbt, weil nur wenige über die Daten verfügen, dann müssen wir – wie ich es in meinem neuen Buch Das Digital näher beschreibe – über neue Regeln nachdenken, damit ausreichender Wettbewerb gewährleistet ist. Dieser Herausforderung des Datenzeitalters haben wir mit dem Fokus auf Datenschutz bislang zu wenig Beachtung geschenkt. Damit sich das nicht rächt, müssen wir handeln und überlegen, wie auch anderen Unternehmen der Zugang zu den Daten der großen Sammler gewährt werden kann, damit der Motor der Innovation nicht durch wirtschaftliche Konzentration ins Stottern gerät.
Die Chancen, die sich aus einer umfassenden Datennutzung ergeben, sind enorm. Aber um diese mächtige Dynamik zum Wohle der Menschen zu nutzen, müssen wir nicht nur Datenschutz neu denken, sondern insgesamt die Fundamente einer neuen digitalen Sozialen Marktwirtschaft legen.
Lesetipp
Viktor Mayer-Schönberger / Thomas Ramge: Das Digital – Markt, Wertschöpfung und Gerechtigkeit im Datenkapitalismus, Econ Verlag, Berlin 2017.
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Viktor Mayer-Schönberger, geboren 1966 in Zell am See (Österreich), Professor für Internet Governance an der Universität Oxford, davor ein Jahrzehnt Professor an der Harvard Kennedy School, Bestsellerautor und Software-Entrepreneur.