Was haben Gertrud Höhler, Nikolaus Blome, Richard David Precht und Michel Friedman gemeinsam? Nun, sie werden von dem Kieler Kommunikationsberater Malte Krüger (2013) als Mitglieder der sogenannten „Meinungseliten“ porträtiert. Betrachtet man die Auswahl der Köpfe mit Distanz, so könnte man eher sagen, dass sie zur Standardbesetzung der Talkshows, zumeist in den öffentlich-rechtlichen Abendprogrammen, gehören. Dadurch sind sie prominent. Ob sie aber tatsächlich zur Elite zählen und ob ihre Meinung einflussreich ist, kann man durchaus bezweifeln. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die Recherche unter dem Stichwort „Meinungselite“ zu eher leichtgängigen, populärwissenschaftlichen Abhandlungen führt.
Und obwohl wir intuitiv wissen, was mit Meinungseliten gemeint ist, taucht der Begriff in der sozialwissenschaftlichen Literatur kaum auf. Meinungsforschung und Elitenforschung gehen hier getrennte Wege. Die Politische Theorie verweist uns indessen darauf, dass moderne pluralistische Demokratien auf zivile Prozesse der Meinungsbildung angewiesen sind, die auf einem aufgeklärten Verständnis politischer Prozesse und vielfältigen Informationsquellen beruhen sollen (Dahl 1989, S. 221).
Wer wird gehört?
Jenseits demokratischer Normen geht es bei den „Meinungseliten“ um die Frage, wie sich politische Öffentlichkeit in der gegenwärtigen Demokratie konstituiert, wer dabei Ansprüche des Einflusses geltend macht und wer tatsächlich gehört wird. Die Frage „What moves public opinion?“ ist 1987 von einer Gruppe US-amerikanischer Politikwissenschaftler um Benjamin Page zum Gegenstand einer empirischen Langzeitstudie gemacht worden. Dabei wurden die Einflussfaktoren identifiziert, die Umschwünge in der öffentlichen (Mehrheits-)Meinung bewirken. Das Ergebnis ist nicht überraschend, wiewohl diese Studie zu den wenigen gehört, die politische Meinungsmacht empirisch nachweisen. In der US-amerikanischen Gesellschaft der 1980er-Jahre waren es die Kommentatoren der Fernsehnachrichten, die laut den Daten der Demokratieforscher den stärksten Einfluss auf die öffentliche Meinung hatten. Sie repräsentierten die Elitemeinung und den nationalen Konsens und stehen stellvertretend für die Haltung der Medien insgesamt, schreiben Page et al. (1987, S. 23).
Die zweite Gruppe, die nach dieser Studie die öffentliche Meinung nachweislich beeinflussen kann, sind Experten. Keinen Einfluss auf die Konstituierung von öffentlicher Meinung hatten hingegen Interessenvertreter und Lobbyisten. Betrachtet man die Öffentlichkeit in der derzeitigen globalen Gesundheitskrise, so erscheinen die althergebrachten Befunde der US-amerikanischen Forscher nach wie vor plausibel. In der Situation des konkreten Lockdowns im März und April 2020 waren es in der Tat Moderatoren wie Claus Kleber und Ingo Zamperoni, also Journalisten der Nachrichtenmagazine, im Verein mit Christian Drosten und Jonas Schmidt-Chanasit, beide Experten aus der Virologie, die fast ein ganzes Land dazu veranlassten, die Einschränkungen ihrer Bewegungs- und Meinungsfreiheit zu akzeptieren. Für einen kurzen Zeitraum waren das Prestige und die Glaubwürdigkeit dieser Sprecher so hoch und ihre Argumente mindestens so überzeugend, dass keine öffentlichen Meinungen gegen ihre Empfehlungen wahrnehmbar waren. Die Zuschauerzahlen und Reichweiten der öffentlich-rechtlichen Nachrichtenprogramme und die Klickzahlen ihrer Onlineauftritte stiegen in dieser Zeit auf unerwartete Höchststände (Nielsen et al. 2020).
Doch was in Ausnahmezeiten der globalen Gesundheitskrise kurzfristig galt und zuvor im inzwischen historischen Zeitalter des Fernsehens gegolten hatte, erscheint angesichts des heutigen Zustandes der Gegenwartsöffentlichkeit nicht mehr plausibel. Zwar ist das Fernsehen immer noch eine der wichtigsten Quellen politischer Information, und die Qualitätszeitungen gehören unbestritten zu den publizistischen Meinungsführern, doch diese Medien erreichen manche Gruppen und insbesondere die jüngere Generation schon lange nicht mehr. Die jungen Leute bewegen sich stattdessen in der digitalen Öffentlichkeit der Onlinemedien, in den sozialen Netzwerken, auf den Videoplattformen. Sie nutzen Messenger-Dienste und Suchmaschinen. Das heißt, mit dem Medienwandel sind neue Bedingungen der öffentlichen Kommunikation entstanden, und infolgedessen haben sich die Institutionen und Prozesse der politischen Meinungsbildung in der repräsentativen Demokratie sowie das demokratische Gespräch zwischen Bürgern und Politik grundlegend verändert.
„Hybrides Mediensystem“
Die Zahl und die Formenvielfalt der Kommunikationsräume, in denen politikrelevante Meinungen entstehen, geteilt und bearbeitet werden, haben enorm zugenommen. Die Kommunikationsinfrastruktur in gegenwärtigen liberalen Demokratien ist nicht allein durch das scheinbar alles dominierende Internet mit seinen digitalen Plattformen, sozialen Medien und Videoplattformen gewachsen, sondern auch durch sogenannte Intermediäre (Vermittler zwischen den Anbietern von Informationen und ihren Nutzern, die sich dadurch auszeichnen, dass sie Inhalte Dritter durch deren Aggregation, Selektion und Präsentation verfügbar machen, siehe etwa www.medienanstalt-nrw. de/themen/intermediaere.html) und deren Feedback- und Kommentarfunktionen, Watchblogs, Empfehlungs- und Bewertungssysteme. Diese digitale Öffentlichkeit ist auf vielfache Weise mit den traditionellen Massenmedien verbunden. Und gerade die Koexistenz digitaler Kommunikationsinfrastrukturen und traditioneller publizistischer Medien bewirkt den neuen Charakter der politischen Öffentlichkeit.
Der britische Soziologe Andrew Chadwick (2010) war einer der ersten Sozialwissenschaftler, der die Brisanz dieser Gemengelage für die politische Meinungsbildung erkannt hat. In einer Fallstudie zur sogenannten Bullygate-Affäre konnte er zeigen, welche Prozesse der politischen Meinungsbildung dieses neue „hybride Mediensystem“ in Gang setzt: Der damalige britische Ministerpräsident Gordon Brown war in den Verdacht des Mobbings von Mitarbeitern geraten, und allein die Anschuldigung setzte innerhalb weniger Tage einen Medienhype in Gang, bei dem sich die Onlinemedien, digitale Plattformen und die traditionellen Massenmedien in ihren Vermutungen und Meinungen gegenseitig befeuerten: „Personnel, practices, genres, technologies, and temporalities of supposedly ‚new‘ online media are hybridized with those supposedly ‚old‘ broadcast and press media” (S. 3).
Ein anschauliches Beispiel für die schnellen und unkontrollierten Dynamiken der Meinungsbildung zwischen alten und neuen Medien in Deutschland ist der Medienhype um das Video des Bloggers Rezo, der im Mai 2019 unmittelbar vor der Europawahl ein Video mit dem Titel „Die Zerstörung der CDU“ gepostet hatte. Das Video, das inzwischen über siebzehn Millionen Klicks verzeichnet, hatte damals zu innerparteilichen Auseinandersetzungen in der CDU geführt, die wiederum Anlass waren, dass sich Journalisten publizistischer Medien und Blogger im Internet gegenseitig die Bälle zuspielten. Wie man daran sieht, reagieren alte und neue Plattformen wechselseitig aufeinander und sind inzwischen so eng miteinander verschränkt, dass ganz neue Meinungskaskaden entstehen.
Die digitale Kommunikationsinfrastruktur verändert nicht nur die Art und Weise der politischen Meinungsbildung, sondern verschafft inzwischen ganz neuen und anderen „Meinungseliten“ enorme Reichweiten. Influencer und Blogger sind plötzlich prominente Figuren, deren Meinungsäußerungen die liberalsten und tolerantesten Parteieliten nicht mehr ignorieren können. Die Plattform economy4mankind betreibt eine Hitparade der 100 angeblich wichtigsten Blogs und VLogs und feiert deren politische und gesellschaftliche Bedeutung als außerparlamentarische Opposition (siehe www.economy4mankind.org/wichtigste-blogs-politik-wirtschaft-deutsch/). Platz 1 belegt dabei KenFM, gefolgt von Telepolis und Tichys Einblick, danach Rubikon und Die Achse des Guten.
Relevanz durch Vernetzung
Gemeinsam ist einer Reihe dieser Blogs eine eigenartige Rhetorik der Verquickung von rechtspopulistischen Verschwörungsnarrativen sowie Lügenpresse- und Manipulationsbehauptungen gegenüber den sogenannten Mainstreammedien und der etablierten Politik, denen Brainwashing und Manipulation vorgeworfen werden. Diese „neuen“ Meinungseliten sind überzufällig journalistische Renegaten und politische Aussteiger, die sich in der Mission des Enthüllungsjournalismus über Klimawandellügen und Verschwörungsnarrative in Bezug auf die COVID-19-Pandemie sehen. Finanziert werden diese Blogs durch Werbeeinnahmen und Spenden, und ihre Reichweiten können sich an den Auflagen von Tageszeitungen messen. In Bezug auf die politische Meinungsbildung liegt ihre Bedeutung weniger darin, dass sie den Status „alternative Medien“ beanspruchen. Ihre Relevanz erhalten sie eher durch die Vernetzung und gegenseitige Verstärkung von Meinungen einerseits – und andererseits durch die Art und Weise sowie die Tonlagen, wie scheinbare Argumente vorgetragen werden.
In der analogen Welt hatten die traditionellen Massenmedien die Akteure sortiert, die zu Wort kamen, hatten sie moderiert und kommentiert. Mit dem Aufstieg der Plattformen als Infrastrukturen und mit deren unkontrollierbaren Verstrickungen entsteht eine neuartige Öffentlichkeit, die die wichtigsten Voraussetzungen der politischen Meinungsbildung – nämlich Transparenz, Validierung und Orientierung (Neidhardt 1994) – nur noch unter erschwerten Bedingungen erfüllen kann. Die politische Meinungsbildung hat sich in zweifacher Hinsicht radikal verändert: zum einen dadurch, dass zutreffende, evidenzbasierte, recherchierte Informationen und nachprüfbare Wahrheitsansprüche nicht mehr ohne Weiteres vorausgesetzt werden können. Zum anderen haben sich die Grenzen der politischen Debatte und das, was gesagt werden darf, verschoben.
Die Meinungsbildung ist durch die digitalen Medien vielfältiger geworden, der neue Beitrag besticht allerdings durch Argumentationsarmut bei gleichzeitig extremen und schrillen Tonlagen, Emotionalisierungen und Angriffsrhetoriken. Wesentliche Bereiche dieser Öffentlichkeit sind von Dissonanzen und Brüchen geprägt, die nun in vielfältiger Weise Ausdruck finden (Pfetsch 2018). Dies gilt umso mehr, als die technische Infrastruktur nicht neutral ist. Technische Affordanzen und von Algorithmen gesteuerte Verstärkungen heizen die sowieso schon schrillen Tonlagen der Meinungsbildung an. Watchblogs, Empfehlungs- und Bewertungssysteme erhöhen den Druck noch einmal und zwingen Medien und Politik, auf diese Meinungen zu reagieren. Die Situation der politischen Meinungsbildung ist prekär, weil sich digitale Kommunikationsinfrastruktur, öffentliche Kommunikation und Tendenzen des sozialen Wandels wie Individualisierung und Disaggregation gegenseitig durchdringen – und dies in einer lang anhaltenden Situation des Nachlassens politischer Bindungen und eines Vertrauensverlustes in Parteien und Medien.
Pseudoaufklärer versus Positionseliten
Angesichts der Randbedingungen der öffentlichen Kommunikation stellt sich nicht die Frage, ob wir noch Meinungseliten brauchen, sondern die Frage lautet: Welche Meinungseliten brauchen wir? Hier lohnt sich ein Blick auf die Frage, wer auf welche Weise in eine Elitenposition kommt, die mit dem Prestige und der Glaubwürdigkeit von professionellen Kommentatoren verbunden ist. Diese Frage ist für die „alten“ Meinungsmacher, die journalistischen Leistungseliten und die Experten, leicht zu beantworten: Ihre Karrierewege und Aufstiege sind transparent (Mayerhöffer und Pfetsch 2018).
Die „neuen“ Meinungsmacher hingegen sind oft das zufällige Produkt der Aufmerksamkeitskonkurrenz und der Klickzahlen, die Intermediären und digitalen Plattformen ebenfalls weitgehend zufällig zuteilwerden. Ihr Anliegen scheint großenteils weniger im Ringen um ein aufgeklärtes Verständnis demokratischer Prozesse zu liegen, sondern eher in vorgeblichen Enthüllungsmissionen und einer Radikalisierung, deren Interessen und Motive mitnichten demokratisch erscheinen. Je mehr selbsternannte Pseudoaufklärer aus der digitalen Welt uns begegnen, umso mehr brauchen wir die „alten“ journalistischen Positionseliten, die Public Intellectuals und die Experten, deren Meinungsäußerungen gerade nicht auf Hörensagen und Verschwörungen beruhen, sondern auf Informationen, die korrekt recherchiert, transparent und nachvollziehbar sind.
Barbara Pfetsch, Professorin für Kommunikationswissenschaft und Leiterin der Arbeitsstelle Kommunikationstheorie und Medienwirkungsforschung, Freie Universität Berlin sowie Projektleiterin am Weizenbaum-Institut für die vernetzte Gesellschaft.
Literatur
Chadwick, Andrew: „The Political Information Cycle in a Hybrid News System: The British Prime Minister and the ‚Bullygate‘ Affair“, in: International Journal of Press/Politics, Jg. 16, Nr. 1/2011, S. 3–29.
Dahl, Robert A.: Democracy and its Critics, Yale University Press, New Haven 1989.
Krüger, Malte: Die Vermessung der Elite: Warum Deutschlands Vorzeigedenker die Kapitalismuskrise nicht erklären können, BoD, Norderstedt 2013.
Mayerhöffer, Eva / Pfetsch, Barbara: „Media Elites“, in: Best, Heinrich / Higley, John (Hrsg.): The Palgrave Handbook of Political Elites, Palgrave Macmillan, Londen 2018, S. 417–437.
Neidhardt, Friedhelm: „Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen“, in: ders. (Hrsg.): Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 34, Westdeutscher Verlag, Opladen 1994, S. 7–41.
Nielsen, Rasmus Kleis / Fletcher, Richard / Newman, Nic / Brennen, J. Scott / Howard, Philip N.:
„Navigating the ‚Infodemic‘: How People in Six Countries Access and Rate News and Information about Coronavirus“, Reuters Institute for the Study of Journalism and the University of Oxford 2020, www.politico.eu/wp-content/uploads/2020/04/Navigating-the-Coronavirus-infodemic.pdf [letzter Zugriff: 06.08.2020].
Page, Benjamin I. / Shapiro, Robert Y. / Dempsey Glenn R.: „What moves public opinion?“, in: The American Political Science Review, Jg. 81, Nr. 1/1987, S. 23–44.
Pfetsch, Barbara : „Dissonant and Disconnected Public Spheres as Challenge for Political Communication Research“, in: Javnost – The Public, Jg. 25, Nr. 1–2/2018, S. 59–65.